Leben und leben lassen

[11] Nichts sieht so einfach aus und nichts ist so schwer als leben und leben lassen. Der liebenswürdige Egoismus, dem dieses leben und leben lassen selbstverständlich war, stirbt so ziemlich aus und macht einem zerfressenden Egoismus Platz, den eine höchst gefährliche Heuchelei begleitet.

Das Lob des liebenswürdigen Egoismus mag befremdend klingen, da sich in den guten Ton der äußerlich korrekten Welt eine gewisse Heuchelei eingeschlichen hat, und nur der sogenannte Altruismus als sittlich berechtigt erscheint, wie der Puritaner nur die Gebärde des Puritaners seligmachend fand. Puritaner jeder Beschreibung verabscheuten immer das leben und leben lassen und steckten ihre traurig tröpfelnde Nase in jede Freude der anderen. Soziale Heuchelei ist nämlich die direkte Nachfolgerin der frommen Heuchelei, ist ebenso fanatisch und verstößt ebenso gegen alle Forderungen des guten Tons.

Ihre Anhänger sind nicht vereinzelt, sondern Legion und betrachten nichts mit so großer Verachtung als leben und leben lassen. Die wirtschaftlichen Bedingungen jeder heiteren Lebensauffassung sucht der soziale Heuchler zu untergraben und behauptet, daß nur auf dem Ruin der Einzelnen für die Allgemeinheit Wohlstand zu erbauen[11] sei. So stellt er sich außerhalb von Zivilisation und Gesellschaft. Ein salbadernder Altruist benimmt sich niemals liebenswürdig, da er niemals mit irgend etwas oder irgend jemand zufrieden sein kann, sondern von unruhiger Eitelkeit besessen ist, die sich vermißt, die Welt zu beglücken und zu verbessern, indeß er jedes bescheidene Kleinglück verachtet.

Sein einstiger, heute an die Wand gedrückter Gegenspieler hatte just genug Erfahrungsphilosophie und Menschenliebe, sich überall des besten Tones zu befleißigen, seine Zeitgenossen in Ruhe zu lassen. Er hinderte niemand, auf seine Fasson selig zu werden, und seine Art Weltbeglückung war in vielen Fällen probat. Der liebenswürdige Egoist, der hier als Gegenspieler des heuchlerischen Altruisten gemeint ist, atmet Frohsinn ein und aus, ist der jovial Mitmachende im Gegensatz zum Spaßverderber.

Nicht ohne wohltätige Wirkung genießt und begönnert er naiv alles, was erfreulich blüht, ist ein Freund jeder Kunst und jedes Könnens, aber nie Spekulant oder hämischer Kritiker. Ihm ist harmlose Geselligkeit, die den guten Ton schier unbewußt pflegt, lebensnotwendig. Nicht nur sich selbst, sondern auch anderen weiß er Gutes zu gönnen.

Das Wort »gönnen«, beiläufig gesagt, ist ein ausgesprochen deutsches Wert, wie Gemütlichkeit ein solches ist, sein Sinn läßt sich in anderen Kultursprachen nur umschreiben. Gönnen hat leider als Gegenstück das[12] Wort Mißgönnen. Dem liebenswürdigen Egoisten sind aber Mißgunst, Neid und Schadenfreude unbekannt. Er leidet nicht daran und läßt andere nicht darunter leiden, weshalb er der angenehmste Gesellschafter war und ist, ein Prototyp des erwünschten Nachbarn. Durch gutmütige Sympathie und angenehme Hilfsbereitschaft, durch Mitfreude und Mitleid erweitert und verschönt er den Lebenskreis.

Gewiß braucht dieser freundliche Nachbar, Kamerad und Gesellschafter kein überragender Mensch zu sein, er darf ruhig dem Durchschnitt angehören und kann trotzdem ein Beispiel werden, wie man sich von Herzen einem guten Ton hingeben kann, der in einem edlen Gemüt verankert ist.

Das hassenswerte »Ich« Pascals ist jenes hochmütige oder berechnend falsche »Ich« des pharisäisch Gerechten. Das Ich eines liebenswürdigen Egoisten aber behält Verwandtschaft mit dem liebenswürdigen, natürlich berechtigten Egoismus gesunder Kinder. Erziehung müßte vor allem der Kindheit diese Unschuld bewahren, aber jeden Ansatz zu häßlichem, selbstgerechtem Egoismus entfernen.

Ein geheimnisvolles Gebot, daß der Mensch umkehren und wie ein Kind werden soll...

Es schließt wohl ein, daß die harmlos freudige Selbstbejahung des Kindes auch für eine erfolgreiche Lebensgestaltung des Erwachsenen wünschenswert ist, weil unerläßlich leben und leben lassen dazu gehört.[13]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 11-14.
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