Sei philosophisch auf Reisen

[172] Gibt es eine Philosophie des Reisens überhaupt? Einige sind gewiß Philosophen in seiner Ausübung, doch nur wenige finden sich mit allem, was sich ereignen mag, so ab, daß allein reines Vergnügen übrig bleibt. Denn mit Ausnahme von Geschäfts-, Dienst-und anderen Pflichtreisen soll ja das Reisen an sich ein Vergnügen, eine Freude sein, aus der wir schönste Erinnerungen schöpfen.

Darum muß die Philosophie des Reisens auf Freude eingestellt werden und der Wanderer sein Streben darauf richten, die angenehmen Eindrücke hervorzuheben, die unangenehmen Nebenerscheinungen durch Geduld und Humor in ihrer schädlichen Wirkung einzuschränken.

Seit alters lockt die Fremde und was mit ihr zusammenhängt. Heute kommt heißer denn je der Wunsch dazu, aus dem gewohnten Geleise herauszukommen, den drückenden Alltag abzuwerfen und einmal aufzuatmen, von Sorgen und Belästigungen befreit, wie sie den Staatsbürger tief in das Heiligtum des Hauses hinein verfolgen. So wird das Reisen gewissermaßen eine Flucht vor sich selbst, und die Sehnsucht einen neuen Menschen anzuziehen, gewinnt Gestalt. Sich einige Wechen in der freien Natur zu tummeln, Sonne, Wasser, Luft zu genießen, ohne an Beruf, Geschäft,[172] Steuerzettel, Börsenkurs erinnert zu werden, verjüngt und gibt Kraft, nach der Heimkehr die vielbelästigte, bürgerliche Existenz wieder aufzunehmen.

Aber man muß zu reisen verstehen, die Philosophie des Wanderns in sich haben und nicht nur schönes Wetter verlangen, sondern auch das schlechte aushalten, ohne sich zu langweilen, nicht unter allen Umständen einen Fensterplatz in der Eisenbahn erobern wollen, sondern auch lustig vorlieb nehmen, wenn man mitten unter seinen Mitmenschen sitzt. Es ist wahr, die heutige Zeiteinteilung ist unpraktisch und die Vielzuvielen stören oft den harmonischen Genuß. Wir können jedoch nicht darüber hinaus, daß der Massenandrang im Zuge der Zeit liegt und daß die Reise ebenso wie andere Vergnügungen durch die soziale Entwicklung verallgemeinert, also proletarisiert ist. Es gehört eine neue Art von Philosophie dazu, reines Vergnügen daraus zu gewinnen.

Diese Philosophie gewinnt man zunächst aus einem Rückblick. Früher reisten zwar nur wenige, von altersher im eigenen Reisewagen – wie heute im eigenen Auto – aber der Komfort fehlte, die Wege waren kaum zu bewältigen, und selbst Könige wie Ludwig XIV. und Friedrich Wilhelm I. von Preußen mußten da und dort auf Stroh nächtigen, wie es heute mancher Wanderer, Wandervogel mit Vergnügen tut. Die Gegenwart hat für den, der es bezahlt, jeden Komfort, er muß ihn nur mit so vielen teilen, daß zur Reisezeit oft Mangel eintritt, Mangel an Platz, Mangel an Ordnung, an[173] freundlicher Fürsorge, dem einzelnen gegenüber. Da hilft kein Schimpfen und Fluchen, da hilft nur Resignation oder Einteilung, zu welch letzterer wohl jeder selbst beitragen kann.

Müssen alle Menschen gleichzeitig reisen? Müssen alle, ob sie frei oder gebunden sind, gerade im Hochsommer ihr Bündel schnüren? Der Philosoph auf Reisen findet sich mit dem Unabänderlichen ab, hält aber auf gute Einteilung und geschicktes Ausnutzen aller Möglichkeiten. Wer auf Ferien oder zeitbestimmten Urlaub angewiesen ist, kann seine Wanderung nicht zu anderen Zeiten antreten, wer aber irgendwie unabhängig ist, sollte schon aus Rücksicht für sich selbst und die Vielzuvielen die nötige Erholung in anderen Monaten suchen.

Wie er seine Zeit richtig einteilt, so macht es der Reisephilosoph auch mit seinem Gelde. Er knausert nicht, weil das die Freude verdirbt und oft die Gesundheit gefährdet und kürzt die Fahrt lieber um einige Tage, statt schäbig jeden Genuß zu beschneiden und durch pedantisches Einsparen sich und seinen Weggenossen unleidlich zu werden. Reisen soll Freude sein und Lust, jede schlechte Laune, Sorgen und Übelnehmereien muß man zu Hause lassen, dann packt man unversehens die nötige Philosophie mit in seine Reisetasche hinein.[174]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 172-175.
Lizenz:
Kategorien: