Wert der Häuslichkeit

[43] Die neue Zeit, die für Deutschland neues Hoffen bringt, möge dem gerade für Deutschland so wichtigen Kulturgut der Häuslichkeit Erstarken und Pflege bringen, wie sie nur geordnete staatliche Verhältnisse gewährleisten.

Vor einigen Jahren ließ sich Folgendes wehmütig feststellen.

Die Betroffenen geben sich kaum Rechenschaft, was ihr Schicksal eigentlich bedeutet, welches große Sterben der Kultur eingesetzt hat und unaufhaltsam fortschreitet durch die Zerstörung des Heimgedankens, mit welchem nicht nur der gute Ton im täglichen Leben, sondern auch die Freude an der Kunst, an Buch und Bild eng zusammenhängt. Meist passen sich die Betroffenen widerstandslos den neuen Umständen an, weil ja der Mensch das anpassungsfähigste aller Geschöpfe ist, sie stellen sich ein und entraten Kultur, Kostbarkeiten geheiligter Tradition.

Kein Äneas rettet, in schützende Gewandfalten verborgen, die Penaten des zerstörten Heims und sucht nach Götterratschluß den Ort, ein neues Heim fromm zu gründen, keiner stirbt, einen Hausaltar zu retten, man steht stumpf und dumpf am verwahrlosten Hausrat herum, man zieht aus, zieht ein, verkleinert sich womöglich, zieht wieder aus... verlorene Gemütswerte sind kaum beachtet. In den Großstädten steht eine Unzahl[43] komfortabler Wohnungen leer – ausgestorbene Heimstätten, vernichtete Häuslichkeiten, Zeichen eines gestürzten Wohlstands. Die Drohung hat sich erfüllt, die in den Revolutionswochen [1919] plakatiert war, der Bürger habe seine Wohnung zu verlassen, damit das Proletariat einziehen könne. In Rußland geschah dieser Wechsel mit Gewalt. Das Familienleben mit seiner Sitte und gutem Ton war vernichtet. Bei uns gilt es, die letzten Reste dieses Heiligtums streng zu hüten und durch verstärkte Pflege eines kultivierten Lebens, der jungen Kultur Halt und Stütze zu geben.

Wurden auch eine Zeit lang Eigentum und Heiligkeit des Hauses durch Zwangsmieter verhöhnt, der Wohlstand und die gesicherte Existenz durch eine verbrecherische Inflation untergraben, der gesunde Sinn des deutschen Volkes hat in seiner Mehrheit Haus und Familienleben gerettet, aber durch die veränderten Verhältnisse sind neue Daseinsbedingungen entstanden und auch der gute Ton muß sich anpassen und neuen Forderungen gefügig erweisen. Man lebt enger zusammen nach außen, aber innerlich stärker getrennt durch die Berufsstellung der meisten Familienmitglieder, neue Erfindungen erwecken neue Bedürfnisse, bisher ungeahnte Reibungsflächen stellen gesteigerten Anspruch an Takt und Entgegenkommen, was bei der wachsenden Nervosität besonders ins Gewicht fällt.[44]

Viele Häuslichkeiten sind aufgegeben, weil sie zu teuer wurden, ein Zusammenrücken in Pensionen nach amerikanischem Muster, ein Abstoßen der Alten in besondere Heime, der Kinder in Erziehungsanstalten setzt ein. Dienstboten werden abgebaut und verfallen der Arbeitslosigkeit.

Ein gepflegter Hausstand ist aber eine Kulturinsel, die man schützen sollte vor Umbrandung und die neue Ordnung der Dinge schafft allmählich Zuversicht, daß dieser Schutz in Aussicht steht. Der Hausstand hütet seine Sitte und Kulturinteressen, hat Platz für Buch und Bild, braucht schöne Möbel, wodurch Handwerk und Industrie belebt werden, befruchtet unermeßlich weit den Kulturboden des Landes.

Wenn der »Moderneingestellte« überhaupt noch wohnt – nicht nur haust, was vielen einzig übrig bleibt – sind die Wohnungen prinzipiell kahl, nüchtern und klein. Man ist freizügig, man will sich nicht mit Sachen belasten. Ein hygienischer Krankenhausstil herrscht und alles ist so leb- und lieblos, daß der Kulturfreund fast wehmütig der viel verspotteten Nudelmaiereinrichtung gedenkt, die zwar geschmacklos, aber gemütlich war – Ausdruck eines bescheiden behaglichen Lebens, in dem die spießbürgerliche Ausgabe des guten Tons zu finden war. Das Gemüt konnte anknüpfen, die Erinnerung sich erinnern, die Pietät [Miniaturausgabe der Ehrfurcht] hatte eine Stätte.[45]

Besorgt sollte man in Deutschland den Untergang der Häuslichkeit im Osten als ansteckende Gefahr erkennen und sich erinnern, daß unsere Klassiker den Rußland entgegengesetzten Pol vertraten, das gesunde Gegenteil von dem empfahlen, was verhängnisvoll von Rußland aus eindringen möchte. Goethe und Schiller waren überzeugt gut bürgerlich gesinnt. Ihr Leben floß nicht in Palästen dahin, kannte weder Glanz noch Üppigkeit, aber stolzes, reinliches Behagen. Ein solches rühmt Schiller mit seinem Preis fraulicher Tätigkeit, ein solches ist Goethe zutiefst ins Herz gewachsen. Er kann sich keine gültige Lebensgestaltung denken ohne kultivierte Häuslichkeit. Deutlich spricht er aus, daß alles Wertvolle, um wertvoll zu sein, vom Häuslichen ausgehen muß. Er steht gerührt vor jedem Eingesessenen, Angesessenen und Seßhaften, deren Sache er dem schweifenden Nomadentum gegenüber vertritt. Sogar das »Zigeunerkind« Mignon sehnt sich nach der Heiligkeit eines Heims, Goethes Wanderer wandern sich müde und ersehnen schließlich die Pflichttreue, wie sie allein von der Seßhaftigkeit gelehrt wird.

Nur Seßhaftigkeit gewährt die Grundbedingung der Bildung, Freundschaft für Bild und Buch, die zum religiösen Empfinden des Kulturmenschen gehört. Noch nie ist seit der Völkerwanderung ein so allgemeiner Ansturm gegen die Seßhaftigkeit von Menschen und Dingen erfolgt, noch nie waren so viele Familien ihrer[46] Heimstätten beraubt, so viele Sachen heimatlos oder ihres Wertes verlustig zum Trödel herabgesunken, wie die einstigen Besitzer, zur Neuarmut verurteilt sind durch geheimnisvoll wirkendes Schicksal. In solchen Lagen bewährt sich als unschätzbares Gut der gute Ton, der von Herzen kommt und selbstverständlich ist. Für den Deutschen steht aber der Lebensinstinkt fest mit dem Sinn fürs Häusliche in Verbindung. Eine Erneuerung sicherer und gepflegter Häuslichkeit gehört zur Erlösung der verirrten Welt.[47]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 43-48.
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