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[35] Der Krieg zwischen Österreich und Ungarn war inzwischen heftig entbrannt, die Ungarn waren siegreich. Die Festung Ofen wurde erstürmt und die Österreicher in einer letzten Schlacht bei Komorn an oder über die Grenze gedrängt. Raab war in Händen der Ungarn. Wir spielten (deutsch) ungarisch-patriotische Stücke, ich spielte ein Solostück in einem von den Offizieren im Theater veranstalteten Konzerte zum Besten der bei der Einnahme Ofens Verwundeten. Dieser Umstand sollte mir später gefährlich werden.
Aber die Kriegslage nahm bald eine andere Wendung. Man hörte alsbald, Rußland käme Österreich mit 80.000 Mann zu Hilfe. Österreich zog mit großer Macht wieder heran. Die unheimlichen Zeichen mehrten sich täglich, man hörte jeden Tag im nahen Gehölze Schüsse von rekognoszierenden und verfolgten Kavalleristen. Jedermann wußte, daß eine Schlacht bevorstand. Die Aufregung wuchs täglich. Da, mit einem Male Kanonendonner nahe der Stadt.
Es war am 28. Juni morgens. Eine Schlacht hatte begonnen. Von Neugier getrieben, bestieg ich mit einigen Freunden den Stadtturm, um von da oben das Schlachtfeld zu übersehen. In[35] Wahrheit sah man nur ein Aufblitzen der Schüsse hie und da, das war alles. Bald kamen ungarische Offiziere in gleicher Absicht hinauf und wir mußten den Turm verlassen. Aber unsere Erregung war zu groß, um nun ruhig zu Hause zu bleiben. So beschlossen wir, hinaus aufs Feld zu gehen und uns die Sache in der Nähe zu besehen. Es war um die Mittagsstunde und wir kamen bis knapp hinter die feuernden Kanonen zu stehen.
Die Schüsse flogen hin und her, ohne daß wir etwas Besonderes bemerkten, als daß Verwundete in die nahe Stadt oder zum Verbandplatz getragen wurden.
Plötzlich hörten wir Kugeln über unsere Köpfe hinwegfliegen, die hinter uns mächtig die Erde aufwühlten, ein Zeichen, daß nach unserer Voraussetzung der Feind vorrückte. Da sah ich ein Kind, das junge Gänse vor sich hertrieb. Die Kugeln schlugen rechts und links von dem Kinde ein, aber ahnungslos ging es ruhig seines Weges, als hätte es seinen Schutzengel an der Seite. Die letzten Häuschen der Stadt waren von Zigeunern bewohnt. Ein Zigeuner sammelte die Kugeln in seiner Schürze und trug sie in sein Haus.
Da sah ich einen Trupp österreichischer Jäger hinter unserer Front im Schnellschritt in die Stadt marschieren.
Es war bereits vier Uhr geworden. Rechts und links sahen wir Kanonen zurückfahren, lauter sehr verdächtige Zeichen, wir standen offenbar im Zentrum. Wir machten kehrt, es war die höchste Zeit. Die Schlacht war abgebrochen und die letzten Kanonen vor uns deckten noch den allgemeinen Rückzug.
Wir hatten noch kaum die ersten Häuser erreicht, als auch schon diese letzten Kanonen hinter uns daherrasten. Nun hieß es laufen, so schnell die Füße konnten. Aber jetzt kam die Katastrophe.
Zu ihrer Verständlichkeit bedarf es einer Planskizze.
Vom Felde führt die Straße geradeaus zur allen inneren Stadt; vor dieser stand noch ein Rest der alten Stadtmauer mit dem Tore. Die Häuser dieser Straße stehen einzeln und bilden kleine Gäßchen zwischen sich. Hinter diesen Häuschen linker Seite fließt die Raab, hinter diesem Flusse erhebt sich ein Damm. Von rechts kommt ein Flüßchen, die Raabnitz, hart an der Stadtmauer vorüber und ergießt sich in die Raab. Rechts, knapp an der Raabnitz, stand der evangelische Pfarrhof, die Kirche mitten drin. Eine Brücke führt rechts über die Raabnitz, eine andere ins Stadttor, eine dritte links über die Raab in die Vorstadt Sziget.
Da wir nicht die einzigen waren, die Neugierde aufs Schlachtfeld trieb, strömte nun alles im letzten Augenblicke und auf einmal in die zwar nicht schmale, aber für Menschenmassen doch zu enge Straße. Wir fanden die Straße von Flüchtigen schon vollgepfropft, hinter uns das nachdrängende Militär mit den Kanonen. Es war ein greuliches Gedränge. Auf dem Damm hinter der Raab waren schon österreichische Jäger postiert, die uns durch die Gäßchen beschossen, was die Verwirrung, den Schrecken vermehrte. Es sind hier viele Leute gefallen, da in die Masse geschossen wurde.
Als wir gegen das Stadttor kamen, stürzten uns Haufen entgegen mit Geschrei, die Brücke sei dort abgebrochen. Der größte Teil der Menge zerstob nach rechts. Auch ich mußte über die Raabnitz, um in die Stadt und in meine Wohnung zu kommen. Dieser Weg war aber sehr gefährlich, nur wenige Bretter lagen noch für die zuletzt abziehenden Kanonen. Auf der gleichfalls abgebrochenen Brücke über die Raab standen österreichische Kanonen, die die Flüchtigen auf der gegenüberliegenden Brücke beschossen. Unter diesem Feuer mußten wir in dichtem Gedränge die schmalen, lockeren Bretter dieser Brücke passieren. Auch hier sind Menschen und Pferde gefallen.[38]
Auf der alten Stadtmauer standen zwar ungarische Kanonen, die zur Abwehr die österreichischen Kanonen beschossen, aber sie zogen sich bald zurück, die Schlacht war beendigt, ich kam mit dem Schrecken davon und unversehrt in meine Stadtwohnung; die Österreicher zogen mit und besetzten die Stadt. Aber das war bloß der Beginn einer für mich nicht minder gefährlichen und höchst unangenehmen Sache.
*
Ich hatte während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Raab im Hause des Kantors der evangelischen Kirche intim verkehrt. Familie Schmidt waren liebenswürdige Menschen, der Sohn ein tüchtiger Geiger, die reizende Tochter Pauline eine treffliche Pianistin. Wir hatten fast jeden Tag musiziert; mit dem Sohne verband mich herzliche Freundschaft, für das Mädchen hatte ich eine stille Neigung.
Etwa nach einer Stunde, nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, die Stadt ruhig blieb, erwachte in mir die Sorge, wie es meinen Freunden, der Familie Schmidt, erging. Der evangelische Pfarrhof, wo sie wohnten und der knapp an der rechten Brücke der Raabnitz lag, war direkt im Feuerbereich der österreichischen Kanonen. Ich mußte wissen, ob niemand Schaden gelitten hatte. Ich ging hinaus.
Im Parterre des vorderen Traktes wohnte Familie Schmidt. Zur Wohnung gelangte man durch einen langen Korridor. Ich trete ein und finde alles voll Militär. Die Mutter empfing mich – gab mir ein Zeichen, zu schweigen; es ist alles wohl, aber die Kinder sind aus Furcht unten am Flußufer in tiefer Böschung versteckt gehalten.[39]
Im Korridor saßen zwei österreichische Soldaten – Wiener Kinder – ich setzte mich zu ihnen und wir plauderten harmlos. Da erschien am Eingang des Korridors ein Offizier, schreit und flucht, daß seine Leute noch keinen Wein hätten, sieht mich aus der Ferne sitzen und schreit: »Wer ist der Bursche dort? Was macht er da? In die Uniform, er soll mit –« und verschwand. Die beiden Soldaten, die Front gemacht hatten, standen verdutzt da, wußten nicht, wie den Befehl ausführen, was mit mir machen, denn es gab im Augenblicke keine militärische Behörde.
Da sagte der eine: »Beim, Adler' ist der Generalstab, da führen wir ihn hin, die sollen machen, was sie wollen.« Sie nahmen mich in ihre Mitte und wir traten auf den offenen Platz; dieser war voll und dicht von Militär besetzt. Die Soldaten – Deutsche und Kroaten – tranken, sangen, schrien und freuten sich des Sieges; die meisten hatten schon zu viel des Guten getan. Durch diese schon halb oder ganz betrunkene Masse sollte ich durch, ein Gefangener, mit langen Haaren, Kalabreserhut samt Kokarde – Abzeichen der Wiener Studentenschaft – dies genügte. Wir hatten keine zwanzig Schritte gemacht, als ich von allen Seiten gestoßen, gezerrt wurde, und alsbald lag ich am Boden, bei den Haaren geschleift, mit Gewehrkolben gestoßen, bis ein ganzer Knäuel Betrunkener auf mir lag. Der Weg vom Pfarrhof bis zum Gasthof »Adler« war ziemlich weit – in der »Krone« gegenüber wohnte der Kaiser – und meine Lage war keine beneidenswerte.
Da kam endlich ein General, sah den Knäuel und befreite mich; auf seine Frage, was ich getan habe, wußte niemand Bescheid, denn die beiden Soldaten, die mich abführten, waren längst abgedrängt. Da sagte der eine: »Er hat auf den Kaiser geschimpft.« Auf des Generals Befehl nahmen andere mich in[40] ihre Mitte und führten mich zum Generalstab (oder was Ähnliches) zum Gasthof »Adler«.
*
Im ersten Stock saßen lauter hohe Offiziere bei dem eben beendeten Mahle. Ich wurde hineingeführt. Mein Aussehen war ein trauriges, mein Gewand beschmutzt und zerrissen. Auf die Frage, was ich getan, antworteten die Soldaten, ich hätte auf den Kaiser geschimpft. Allgemeine Entrüstung. Aber was mit mir machen? Gefängnis gab es nicht, die Truppen mußten zur Verfolgung weiterziehen.
Man sprach nur über zwei Fälle: in die Uniform – oder erschießen. Die Mehrzahl war für ersteres, aber ein Oberst war am heftigsten und beredtesten. »Macht doch keine Umstände mit solchen Lumpen; es sind unschuldige Leute von den unsrigen genug gefallen. Eine Kugel vor den Kopf und die ist schon zu viel für solche Rebellen.«
Nun war ich mir meiner Lage voll bewußt und die Gefahr gab mir den Mut der Verzweiflung rücksichtsloser Beredsamkeit. »Sie kommen ins Land,« sagte ich, »um Ruhe und Ordnung zu machen, wie Sie behaupten, und beginnen damit, einen Menschen zu erschießen, ohne zu wissen weshalb, ohne Untersuchung, auf die Aussage betrunkener Soldaten, mit denen ich in gar keiner Berührung war.« Ich erzählte nun den Hergang, daß ein Offizier mich wegführen ließ, weil seine Leute noch keinen Wein hatten, ohne mit mir oder mit einem anderen von mir ein Wort gesprochen zu haben.
Die einzige Anklage: ich hätte auf den Kaiser geschimpft! Nur ein Wahnsinniger konnte eine Stunde nach der Schlacht vor österreichischen Soldaten auf den Kaiser schimpfen; aber einen Wahnsinnigen erschießt man nicht.[41]
Ich weiß nicht, ob meine Beredsamkeit viel genützt hätte, aber jedenfalls war die Stimmung durch meine Darstellung des Falls schon gemildert und eine Reihe von Zufälligkeiten tat das übrige zu meiner Rettung. Meine Oberkleidung hing in Fetzen, so daß mein Hosenträger sichtbar war; er war – schwarzgelb – auch ein mildernder Umstand. Da trat ein Leutnant ein mit der Meldung, er habe bei einem Gefangenen zwei Pistolen gefunden, ob er sie behalten dürfe? Bevor hierüber noch entschieden wurde, kam ein Feldwebel mit der Meldung, es seien zwei Überläufer da, was mit ihnen geschehen solle? Um diesen letzteren Fall zu behandeln, wurde der Leutnant beauftragt, mit mir abzutreten. Er. fragte mich draußen teilnahmsvoll um die Geschichte meines Hierseins, ich erzählte ihm alles und auch, daß ich hier in Theaterengagement sei.
Während ich noch sprach, trat ein Major aus dem Zimmer und sagte zum Leutnant: »Was soll man mit dem da anfangen?« Hierauf der Leutnant: »Ich glaube, Herr Major, der Mann ist unschuldig, seine Darstellung macht den Eindruck voller Wahrheit.« Der Major: »Nun schauen S', daß S' fortkommen und merken Sie sich's: wenn Sie jetzt mit dem Leben davonkommen, haben Sie's mir zu danken – mein Name ist Major Demuth.« Und ich habe ihn mir gemerkt. Hierauf fragte ich den Leutnant, womit ich seine mich rettende Fürsprache verdient hätte? »Zuerst weil ich Sie für unschuldig halte und weiters weil auch ich vom Theater bin. Ich bin Schauspieler, die Not des Krieges hat mich hieher gebracht.« In meiner desolaten Verfassung konnte ich allein unmöglich wieder durch die Massen der nun stark angeheiterten Soldaten gehen, ohne aufs neue in Gefahr zu geraten. Wir gingen hinunter, er kommandierte einen Korporal und vier Mann; die nahmen mich in die Mitte und eskortierten mich wie einen Gefangenen wieder in den Pfarrhof zurück. Der Korporal,[42] der von mir erfahren hatte, ich sei vom Theater, sagte mir, er sei der Bruder der Frau meines Direktors Kottan, er müsse heute noch weiterziehen und gab mir einen Zettel mit Grüßen für seine Schwester.
Im Pfarrhof wurde ich von Schmidts mit Jubel empfangen; denn ich wurde für verloren gehalten. Die Nacht brachte ich mit allen in der Kirche zu. Nächsten Morgen war das österreichische Militär abgezogen, die Russen zogen ein, ich sah sie in endlosen Kolonnen an mir vorüberziehen.
Am meisten interessierte mich ihre Militärmusik, zumeist weiche Holzbläser, Naturhörner, Fagotte usw. Ich denke, diese Musik kann die Truppe im Momente des Sturms nur durch Nationalweisen, durch Aufruf der Heimatsgefühle erwärmen, aber nicht wie etwa der Radetzky- oder der stürmische Rakoczimarsch zur Begeisterung fortreißen. – Noch einmal befreite mich der Zufall aus einer Gefahr.
Der Kriegslärm verscheuchte das Theater; zudem hatten wir zumeist ungarische patriotische Stücke sowie die Benefizvorstellung für die bei der Erstürmung Ofens Verwundeten gegeben. Unseres Bleibens hier war also nicht mehr. Meine kleine Barschaft ging auf meinem Marterweg verloren. Ich verlangte vom Direktor einen kleinen Vorschuß, aber dieser erklärte, das Theater sei geschlossen, er müsse trachten, mit heiler Haut davonzukommen.
Zur Abreise mußte ich meinen Paß vidieren lassen, der Platzkommandant war glücklicherweise nicht unter den Offizieren gewesen, vor welchen ich tags vorher als Delinquent stand. Aber der Oberst war da, der durchaus für kurzen Prozeß – fürs Erschießen war. Er sah mich scharf an, ich war frei und so beobachtete er mich nicht weiter.
Nun muß ich hier anführen, daß mein Bruder nach Auflösung des Kremsierer Reichstags, dessen energischestes Mitglied er war,[43] sich mit vielen anderen der Linken auf der Flucht befand, zudem im Verdacht stand, am Tode des Kriegsministers Latour mitschuldig gewesen zu sein. Er wurde sechs Jahre später diesetwegen zum Tode verurteilt, hat sich aber nach zwanzig Jahren freiwillig in einem von ihm selbst angesuchten Prozeß von diesem schmählichen Verdacht gereinigt und wurde glänzend rehabilitiert.
In diesem Augenblicke jedoch war mein Name für mich eine große Gefahr. Hätte der genannte Oberst meinen Namen gehört und erfahren, daß ich ein Bruder des geächteten Goldmark sei – ich wäre trotz aller meiner Unschuld verloren gewesen; man machte da mals wenig Umstände. Aber im selben Augenblicke, als der Platzkommandant, der selbst die Pässe vidierte und davon viele vor sich liegen hatte, meinen Namen verlangte, machte der Oberst zufällig einige Schritte ins offene Nebenzimmer; ich sagte schnell und still meinen Namen und erhielt meinen Paß. – Und wie atmete ich auf, als ich die Tür hinter mir hatte.
Anderen Morgens wanderte ich mit meinem Geigenkasten in der Hand zu Fuß hinter dem Gepäckswagen des Theaters auf großen Umwegen – die Brücken waren zerstört, 36 Stunden der Heimat zu. Über das Schlachtfeld wandernd, nahm ich zur Erinnerung umherliegende Sprengstücke mit.
Vom Neusiedlersee kommend, trat ich aus einem Wäldchen und sah mein stilles Dörfchen, vom Krieg unberührt, im Abendsonnenschein friedlich daliegen. Um meine tiefe Rührung zu bemeistern, nahm ich meine Geige und phantasierte dem lieben Herrgott etwas vor, sagen wir – es war ein Dankgebet. –
Im nächsten Winter in gleicher Tätigkeit wieder in Ödenburg. Den folgenden Sommer hatte ich Engagement in Ofen bei Direktor Schmidt, 20 fl. Monatsgage, durch allerlei Abzüge (Reisevorschuß usw.) auf 10 fl. reduziert. Die Not des Lebens hielt an. Wir spielten im Winter in dem kleinen Theater oben[44] in der Festung, im Sommer unten in der gedeckten Arena. Sie gaben daselbst große Opern (Kapellmeister Doppler, später in Stuttgart) mit zwei, sage zwei ersten Geigen und demgemäß das übrige Orchester. Den üppigberauschenden Klang dieses Orchesters kann man sich leicht vorstellen. Da ereignete es sich, daß mein Kollege Navratil (Konzertmeister) in einer »Hugenotten«Vorstellung krankheitshalber wegblieb und ich mußte die ganze Oper die erste Geige allein spielen. (Ich könnte nicht behaupten, daß dies den Orchesterglanz wesentlich vermehrte.)
Nur wer je im Orchester gesessen ist, weiß die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe zu würdigen. Es machte auch in den Musikerkreisen Pests und Ofens ein gewisses Aufsehen. Im folgenden Winter wieder oben in der Festung.
Mit einem jungen Orchesterkollegen, auch tüchtigem Pianisten, hatte ich gemeinsam ein Zimmer und Küche in der Festung gemietet. Ein Klavier, ein Stuhl waren die einzigen Möbel in dem sonst gänzlich leeren Zimmer. In der Küche schliefen wir auf einem Strohsack, dem es auch an überaus zahlreichen Mitbewohnern nicht fehlte. Ich komme jetzt selten nach Budapest, ohne die Festung zu besuchen, ohne einen wehmütigen Blick in das ebenerdige Fenster dieses Zimmers zu werfen. Im nächsten Sommer ging's wieder hinab ins Sommertheater. Doch verdanke ich diesem Sommer eine besondere Errungenschaft, ich lernte schwimmen.
Etwa eine Stunde weit hinter dem Blocksberge verbreitert sich die Donau derart, daß die Ufer sehr flach werden. Ich ließ mich in dem Strom auf den Boden sinken, begann daselbst Tempi zu machen und kam so in die Höhe – ich konnte schwimmen. In ausdauernder Übung habe ich es darin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, – insofern Ausdauer hierauf Anspruch hat. Bei einer solch forcierten Schwimmtour (in Wien, Donau)[45] hatte ich mir eine Muskelzerrung im rechten Arm zugezogen, deren Folgen ich noch heute – nach 60 Jahren – zeitweilig spüre, die mich aber nicht hinderte, weiter noch große Schwimmtouren zu machen.
Auch ein anderes wichtiges Ereignis, ja eine entscheidende Wendung für meine Zukunft trat in mein Leben – ich mietete ein Klavier und begann wie stets auf eigene Faust fleißig zu üben. Ich tat dies in der bescheidenen Hoffnung, so weit zu kommen, um mit den Sängern am Theater die Possenmusik einzuüben (Operetten gab's noch nicht), sie abends quasi als Kapellmeister oder Konzertmeister zu dirigieren und so meine Existenz zu verbessern. Es sollte anders kommen.
Zunächst half es mir, Klavierunterricht zu erteilen und des weiteren, viel wichtigeren – es lehrte mich die mir noch gänzlich unbekannte musikalische Literatur kennen. Und damit gab es meinem ganzen musikalischen Leben eine andere Richtung. Doch trat dieser entscheidende Wendepunkt erst später ein. Vorläufig übte ich fleißig Skalen, Etüden, Sonaten usw. Der Vollständigkeit halber erwähne ich, daß ich sowohl in Konzerten als Solist (Geige) als auch, der Not gehorchend, in Ödenburg, Ofen und später in Wien auf Bällen bis 4 Uhr morgens Tanzmusik spielte.
Ende des Jahres 51 gab Direktor Schmidt das Theater auf und ich kehrte nach Wien zurück, trat im Oktober ins Josefstädtertheater und nach fünf Monaten ins Carl-Theater, abermals 20 fl. Monatsgage. Doch die langen Hungerjahre blieben für meinen Körper nicht ohne böse Folgen. (Einen Winter bloß Erdäpfel ohne Brot, den darauffolgenden Sammer Topfen [Quark] und rohe Gurken usw.) Mein Blut war verdorben, die Drüsen angeschwollen, die Augen blutrot und in namenloser Schwäche war ich fast dem Siechtum verfallen. Von der Alserstraße, wo ich wohnte, brauchte ich zu der halben Stunde ins[46] Carl-Theater – zwei Stunden. Außer den teueren Fiakern gab es damals noch keine Fahrgelegenheit.
Der alte treue Freund meines Bruders, Dr. Adolf Fischhof, aus dem Achtundvierzigerjahre genügend bekannt1, nahm mich ins Spital. Ich wurde gut genährt und nach drei Wochen geheilt entlassen – mit dem Rat, fleißig kalt zu baden und mich gut zu nähren. Nun, das erstere war nicht so schwer – schwieriger das zweite.
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