Und keine Schule

[12] Ich hatte das Glück, keine Schule zu besuchen. Wer da zusieht, wie dem armen Kinde die Jugend, dieser holde Traum – ach, nur einmal geträumt – vergällt und verbittert wird, in der Schule, im Hause mit Arbeit überlastet, die, seinen Jahren noch nicht angemessen, seine Arbeitsfähigkeit übersteigt, in der Stadt, in dumpfen Stuben ohne Luft, von einem Tage zum anderen das kindliche Herz mit Angst und Sorge beschwert, ob die Arbeit dem strengen Lehrer, ob die Zensur die besorgten Eltern befriedigt – wer all das an seinen Kindern selbst erlebt, wird mir glauben, wenn ich sage: ich hatte eine glückliche Kindheit; denn keinerlei Schulsorge oder Plage bedrückte mich.

Es wäre albern, zu glauben, daß ich damit die Notwendigkeit der Schule verkenne. Habe ich es doch selbst später schmerzlich empfunden, aus Mangel jeglicher musikalischen Erziehung die schönsten Jahre blühender Jugend (als Komponist) verloren zu haben. Auch hat nicht gerade jeder den Kopf, die Spannkraft, den eisernen, unermüdlichen Lerntrieb (der mir bis ins hohe[12] Alter verblieb), immer sich selbst zu lehren und zu ernähren, das autodidaktisch auf großen Umwegen sich mühevoll zu erwerben, was die Schule in sorgfältiger Auswahl wohl vorbereitet ihm auf kürzestem Wege entgegenbringt. Aber von allen diesen Notwendigkeiten hatte ich ja damals keine Ahnung; ich spielte sorglos auf Wiesen und Feldern, in Wäldern, auf Bäumen und – Misthaufen, wo und wie es mir am lustigsten schien. Ich darf mit Recht sagen, meine Kindheit war eine glückliche – im Elternhause.


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Ich hatte Zeit und Muße genug zu allen Tollheiten und Jugendstreichen. Einer, gewiß der unbedeutendste, ist mir, vielleicht wegen seiner Begleiterscheinungen, doch am lebhaftesten in Erinnerung geblieben.

Ich raubte einer Marktfrau ein wohlriechendes (Minz-) Blatt aus ihrem Blumenkorbe und lief davon. Der Vater sah es vom Fenster aus und als ich nach Hause kam, gab's eine so ausgiebige Besichtigung dieses Falls, daß ich mehrere Tage das Stehen dem Sitzen vorzog. Und noch heute liebe ich das Blatt, denn sein Duft zaubert mir die Kindheit mit all ihren Süßigkeiten heraus. (Ich finde das Blatt noch stets in meinem Garten eigens für mich gepflanzt.) In dem kleinen ungarischen Dorfe gab es für die deutsche Bevölkerung keine Schule. Den ersten Unterricht im Schreiben und Lesen erhielt ich, zwölfjährig, von meinem nachmaligen Schwager Friedmann.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 12-13.
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