Jacob Ludwig Carl Grimm

Selbstschilderung

Ich bin der zweite Sohn meiner Aeltern und zu Hanau 4. Jan. 1785 geboren. Mein Vater wurde, als ich ohngefähr sechs Jahre alt war, zum Amtmann nach Steinau an der Strasse, seinem Geburtsort, ernannt, und in dieser wiesenreichen, mit schönen Bergen umkränzten Gegend stehen die lebhaftesten Erinnerungen meiner Kindheit. Aber allzufrühe schon, den 10. Jan. 1796, starb der Vater, und ich sehe den schwarzen Sarg, die Träger mit gelben Citronen und Rosmarin in der Hand, seitwärts aus dem Fenster, noch im Geist vorüberziehen. Ich weiss mir ihn überhaupt sehr genau vorzustellen, er war ein höchst arbeitsamer, ordentlicher, liebevoller Mann; seine Stube, sein Schreibtisch und vor allem seine Schränke mit ihren sauber gehaltenen Büchern, bis auf die roth und grünen Titel vieler einzelnen darunter sind mir leibhaft vor Augen. Wir Geschwister wurden alle, ohne dass viel davon die Rede war, aber durch That und Beispiel streng reformirt erzogen, Lutheraner, die in dem kleinen Landstädtchen mitten unter uns, obgleich in geringerer Zahl, wohnten, pflegte ich wie fremde Menschen, mit denen ich nicht recht vertraut umgehen dürfte, anzusehen, und von [141] Katholiken, die aus dem eine Stunde weit entlegenen Salmünster oft durchreisten, gemeinlich aber schon an ihrer bunteren Tracht zu erkennen waren, machte ich wohl mir scheue, seltsame Begriffe. Und noch jetzt ist es mir, als wenn ich nur in einer ganz einfachen, nach reformirter Weise eingerichteten Kirche, recht von Grund andächtig sein könnte; so fest hängt sich aller Glaube an die ersten Eindrücke der Kindheit, die Phantasie weiss aber auch leere und schmucklose Räume auszustatten und zu beleben, und grössere Andacht ist nie in mir entzündet gewesen, als wie ich an meinem Konfirmationstage nach zuerst empfangenem heil. Abendmahl auch meine Mutter um den Altar der Kirche gehen sah, in welcher einst mein Grossvater auf der Kanzel gestanden hatte. Liebe zum Vaterland war uns, ich weiss nicht wie, tief eingeprägt, denn gesprochen wurde auch nicht davon, aber es war bei den Aeltern nie etwas vor, aus dem eine andere Gesinnung hervorgeleuchtet hätte; wir hielten unsern Fürsten für den besten, den es geben könnte, unser Land für das gesegnetste unter allen; es fällt mir ein, dass mein vierter Bruder, der von uns hernach am frühsten und längsten im Ausland leben musste, als Kind auf der hessischen Landkarte alle Städte grösser und alle Flüsse dicker malte. Mit einer Art von Geringschätzung sahen wir z.B. auf Darmstädter herab. Wir wurden bei einem Stadtpräceptor Zinkhan unterrichtet, von dem wenig zu lernen war, ausser Fleiss und strenge Aufmerksamkeit, aber aus dessen charakteristischem Benehmen uns eine Menge ergötzlicher Spässe, Redensarten und Manieren zurückgeblieben ist. Den Zeiger auf dem weissen Zifferblatt der nämlichen Wanduhr, die schon damals in der älterlichen Stube stand und noch jetzt in meiner Wohnung geht, sehe ich mir manchmal darauf an, [142] ob er mir die Ankunft oder das ersehnte Weggehn des Schulmeisters in dem himmelblauen Rock mit schwarzer Hose und Weste ankündige. Bald wurde es nothwendig, auf unsere gründlichere Unterweisung Bedacht zu nehmen. Das Vermögen der Mutter war schmal und sie hätte uns sechs Kinder schwer auferziehen können, wenn nicht eine ihrer Schwestern Henriette Philippine Zimmer die bei der höchstseel. Kurfürstin, oder damaligen Landgräfin von Hessen, erste Kammerfrau und von der reinsten, aufopfernden Liebe zu uns beseelt war, sie treulich unterstützt hätte. Diese liess mich und meinen Bruder Wilhelm also im J. 1798 nach Kassel kommen und in Kost geben, damit wir uns auf dem dortigen Lyzeum ausbilden sollten. Ich konnte erst in Unterquarta gesetzt werden, so sehr war ich noch zurück, aber nicht durch meine Schuld, sondern durch blossen Mangel an Unterricht, denn ich hatte von Jugend auf eine ungeduldige, anhaltende Lernbegierde. Jetzt rückte ich schnell durch alle Klassen hinauf und war wohl fast immer ein Primus; die Samstags-Morgen, an denen durch ein Exerzitium zertiert wurde, waren wichtige, heisse Tage. Ueberdenke ich meine Kasseler Schuljahre von 1798 bis 1802, so erkenne ich zwar dankbar, wie mancherlei ich in dieser Zeit gelernt habe, aber es kommt mir doch vor, als wenn das damalige Lyzeum bei weitem nicht unter die vollkommensten Anstalten seiner Art gerechnet werden durfte. Der Vorsteher des Ganzen war Prof. Richter, ein gründlicher Philolog, ich glaube in Ernesti's Schule gebildet, und er wusste auch durch seinen herzlichen Unterricht alle Schüler zu gewinnen; aber die Last eines hohen Alters hatte ihn zu meiner Zeit bereits allzusehr geschwächt. Der Konrektor Hosbach war ein hypochondrischer Mann, voll Laune, ungleich, [143] und man sah ihm an, dass ihm das Lehren keine Freude machte. Der vierte Lehrer, Kollaborator Robert hatte sich durch seine ungeschickte Methode traditionsmässig um die Achtung der Schüler gebracht, seine Stunden vergiengen in Unordnung, ohne rechte Frucht. Bei dem damaligen dritten Lehrer, dem noch jetzt als Professor und Rektor an derselben Schule stehenden Kollab. Cäsar gieng es zwar ordentlicher, und es wurde gelernt, aber hingezogen fühlte ich mich doch nie zu seinem Unterricht (wie zu dem des seel. Richter), welches vielleicht mit davon herrührte, dass er mich nach alter Sitte er anredete, während alle meine Schulkameraden aus der Stadt ein Sie bekamen, vermuthlich weil ich vom Lande her in die Stadtschule aufgenommen worden war. Solche Ungleichheit, die auch seitdem gewiss lange abgestellt worden ist, sollte sich ein Lehrer nie erlauben, weil sie von allen Schülern lebhaft wahrgenommen wird. Aber auch der Unterricht selbst wie er damals auf dieser gutfundierten Schule im Ganzen ertheilt wurde, ist mir hernach in mancher Beziehung mangelhaft vorgekommen. Es wurde viel Zeit mit Stunden über Geographie, Naturgeschichte, Anthropologie, Moral, Physik, Logik und Philosophie (was man Ontologie nannte) meist nach Ernesti initia doctr. sol. verthan, und dem philologischen und historischen Unterricht, welche die Seele aller Jugenderziehung auf den Gymnasien sein müssen, abgebrochen. Unter den Mitschülern, die auf derselben Bank oder an denselben Tischen sassen und mit denen ich vertrauter umgieng, will ich den verstorbenen Ernst Otto von der Malsburg und Paul Wigand nennen, die sich beide in der Folge, wiewohl auf sehr verschiedene Weise, als Schriftsteller ausgezeichnet haben. Neben täglichen sechs Stunden auf dem [144] Lyzeum brachte ich mit meinem Bruder noch wenigstens vier oder fünf Stunden täglich in Privatlehrstunden bei dem Pagenhofmeister Dietmar Stöhr zu, einem Mann, der, was ihm an tieferer Kenntniss abgieng, durch Freude am Unterricht, liebreiche Geduld und wahre Theilnahme an uns hinlänglich ersetzte. Er half im Latein nach und lehrte besonders französische Sprache. Im Ganzen hatte man uns doch zu viel aufgelastet; ein Paar Freistunden hätten uns wohl gethan, wir hatten aber mit wenigen Leuten Umgang und verwendeten beinahe alle Musse, die uns noch von der Schularbeit übrig blieb, auf Zeichnen, worin wir es auch ohne Lehrer ziemlich weit brachten, ja diese Fortschritte sind es, die hernach unsern jüngeren Bruder Ludwig Emil ansteckten, der sich seitdem sowohl durch radierte Blätter als durch Oelmalerei rühmlich hervorgethan hat.

Im Frühjahr 1802, ein Jahr früher als Wilhelm, der um diese Zeit lange und gefährlich kränkelte, bezog ich die Universität Marburg. Die Trennung von ihm, mit dem ich stets in einer Stube gewohnt und in einem Bett geschlafen hatte, gieng mir sehr nahe; allein es galt der geliebten Mutter, deren Vermögen fast zusammengeschmolzen war, durch eine zeitige Beendigung meiner Studien und den Erfolg einer gewünschten Anstellung einen Theil ihrer Sorge abnehmen und einen kleinen Theil der grossen Liebe, die sie uns mit der standhaftesten Selbstverleugnung bewies, ersetzen zu können. Jura studierte ich hauptsächlich, weil mein seel. Vater ein Jurist gewesen war und es die Mutter so am liebsten hatte; denn was verstehn Kinder oder Jünglinge zu der Zeit, wo sie solche Entschlüsse fest und entschieden fassen, von der wahren Bedeutung eines solchen Studiums? Es liegt aber in diesem Haften bei dem Stande des Vaters [145] an sich etwas Natürliches, Unschädliches und sogar Rathsames. In viel späteren Jahren hätte mich zu keiner andern Wissenschaft Lust angewandelt, als etwa zur Botanik. Der seel. Vater selbst hatte auch gewissermassen vorgearbeitet und mir noch vor dem zehnten Jahr allerhand Definitionen und Regeln aus dem Corpus Juris eingeprägt, er hatte auch wohl zum dereinstigen Gebrauch seiner Kinder aus seiner Praxis merkwürdige Fälle mit sauberer Hand aufgeschrieben. Zu Marburg musste ich eingeschränkt leben; es war uns, aller Verheissungen ungeachtet, nie gelungen, die geringste Unterstützung zu erlangen, obgleich die Mutter Wittwe eines Amtmanns war, und fünf Söhne für den Staat gross zog; die fettesten Stipendien wurden daneben an meinen Schulkameraden von der Malsburg ausgetheilt, der zu dem vornehmen hessischen Adel gehörte und einmal der reichste Gutsbesitzer des Landes werden sollte. Doch hat es mich nie geschmerzt, vielmehr habe ich oft hernach das Glück und auch die Freiheit mässiger Vermögensumstände empfunden. Dürftigkeit spornt zu Fleiss und Arbeit an, bewahrt vor mancher Zerstreuung und flösst einen nicht unedlen Stolz ein, den das Bewusstseyn des Selbstverdienstes, gegenüber dem, was andern Stand und Reichthum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte sogar die Behauptung allgemeiner fassen, und vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet haben, gerade dem beilegen, dass sie kein reiches Volk sind. Sie arbeiten von unten herauf und brechen sich viele eigenthümliche Wege, während andere Völker mehr auf einer breiten, gebahnten Heerstrasse wandeln. In Marburg hörte ich nach einander bei Bering Logik und Naturrecht (ohne aus beiden wahre Frucht zu ziehen); bei Weiss Institutionen, Pandekten, zuletzt auch ein lat. Examinatorium; bei Erxleben [146] Pandekten und Canonicum, bei Robert Reichsgeschichte, Staatsrecht, Lehnrecht und die Practica; bei Bauer deutsches Privatrecht und Criminale; unter diesen allen zog mich wohl der muntere und gelehrte Vortrag von Weiss am meisten an, bei Erxleben herrschte Eintönigkeit und eine bereits veraltende Manier. Was kann ich aber von Savigny's Vorlesungen anders sagen, als dass sie mich auf's gewaltigste ergriffen und auf mein ganzes Leben und Studieren entschiedensten Einfluss erlangten? Ich hörte bei ihm Winter 1802 bis 1803, juristische Methodologie, sowie Intestaterbfolge (das im Sommer 1802 von ihm gelesene testamentarische Erbrecht wurde aus Heften anderer Studenten abgeschrieben und nachgeholt); Sommer 1803 römische Rechtsgeschichte, Winter 1803–4 Institutionen und Obligationenrecht. Im Jahre 1803 war das Buch über den Besitz erschienen, welches begierig gelesen und studiert wurde. Savigny pflegte damals in seinen Kollegien den Zuhörern die Interpretation einzelner schwieriger Gesetzstellen aufzugeben und die eingegangenen Arbeiten erst schriftlich auf dem eingereichten Bogen selbst und dann öffentlich zu rezensiren. Einer meiner ersten Aufsätze betraf die Collation, und ich hatte die darin aufgestellte Frage vollkommen begriffen und richtig gelöst; welche unbeschreibliche Freude mir das machte und welchen neuen Eifer das meinen Studien gab, wäre zu bemerken unnöthig. Das Ueberbringen dieser Ausarbeitungen veranlasste nun öftere Besuche bei Savigny. In seiner damals schon reichen und auserwählten Bibliothek bekam ich dann auch andere nicht juristische Bücher zu sehen, z.B. die Bodmer'sche Ausgabe der deutschen Minnesinger, die ich später so oft in die Hand nehmen sollte, und auf welche Tieks Buch und dessen hinreissende Vorrede mich gespannt gemacht hatte. Im Sommer [147] 1804 verliess Savigny die Universität um eine literarische Reise nach Paris anzutreten.

Je älter man wird, desto leichter in Versuchung geräth man, die Zeit seiner Jugend in Vergleich mit dem später erlebten zu erheben und für musterhafter zu halten. Aus den Jünglingsjahren sind wir uns der ersten Kraft und des reinsten Willens am sichersten bewusst, und es kommt uns da auch von andern überall entgegen. Ich möchte nun auch den damals unter den Marburger Studierenden waltenden Geist rühmen; es war im ganzen ein frischer, unbefangener; Wachler's freimüthige Vorlesungen über Geschichte und Literaturgeschichte machten auf die Mehrzahl lebendigen Eindruck, und besonders erfreute ein Publicum, das er im grossen öffentlichen Hörsaal wöchentlich las, sich eines ungetheilten Beifalls. Die Obergewalt des Staates hat seitdem merklich mehr in die Aufsicht der Schulen und Universitäten eingegriffen. Sie will sich ihrer Angestellten fast allzu ängstlich versichern und wähnt, dies durch eine Menge von zwängenden Prüfungen zu erreichen. Mir scheint es, als ob man von der Strenge solcher Ansicht in Zukunft wieder nachlassen werde. Zu geschweigen, dass sie der Freiheit des sich aufschwingenden Menschen die Flügel stutzt und einem gewissen, für die übrige Zeit des Lebens wohlthätigen, harmlosen Sich gehen lassen können, das hernach doch nicht wiederkehrt, Schranken setzt; so ist es ausgemacht, dass, wenn auch das gewöhnliche Talent messbar seyn mag, das ungewöhnliche nur schwer gemessen werden kann, das Genie vollends gar nicht. Es entspringt also aus den vielen Studienvorschriften, wenn sie durchzusetzen sind, einförmige Regelmässigkeit, mit welcher der Staat in schwierigen Hauptfällen doch nicht berathen ist. Wahr ist es, das ganz [148] schlechte wird dadurch aus Schule und Universität abgewehrt, aber vielleicht wird auch das ganz gute und ausgezeichnete dadurch gehemmt und zurückgehalten. Im Durchschnitt betreten jetzt die Schüler die Akademie mit gründlicheren Kenntnissen, als vormals; aber im Durchschnitt geht dennoch daraus nur gewisse Mittelmässigkeit der Studien hervor. Es ist alles zu viel vorausgesehn und vorausgeordnet, auch im Kopf der Studierenden. Die Arbeit des Semesters nimmt unbewusst ihre Richtung nach dem Examen; der Student muss alle Kollegia hören, worüber er Zeugnisse beizubringen hat, ohne das würde er manche nicht gehört haben, entweder weil ihn der sie vortragende Professor nicht anzieht, oder weil ihn seine Neigung anderswohin lenkt. Dagegen bleibt ihm beinahe keine Zeit übrig diejenigen zu hören, die ihm nicht vorgeschrieben sind. Der Staat hat dadurch gewisse Vorlesungen gleichsam zu offiziellen gestempelt und die übrigen, die nebenbei gehört werden können, herabgesetzt. Ganz etwas anders ist, wenn der Student blos auf seine Hand und nach seiner Tradition einen ähnlichen Unterschied zwischen Brotkollegien und den übrigen aufstellte, denn davon konnte sich jeder so viel Dispensationen und Ausnahmen machen, als er Lust hatte. Möge es nur den Professoren selbst niemals vorgeschrieben werden, was und wie sie lesen sollen!

Januar 1805 traf durch Weiss ein unerwartetes Anerbieten ein. Savigny schlug mir vor, ungesäumt nach Paris zu kommen, und ihm dort bei seinen literarischen Arbeiten zu helfen. Wiewohl ich in meinem letzten halben Jahr studierte und gedachte auf Ostern oder im Sommer abzugehen, so war doch die Aussicht einer näheren Verbindung mit Savigny selbst und die Reise nach Frankreich [149] reizend genug, dass ich mich gleich entschied und nichts Eilenderes zu thun hatte, als Briefe an Mutter und Tante abzusenden, die mir ihre Einwilligung erbitten sollten. Wenig Wochen darauf sass ich schon im Postwagen und traf über Mainz, Metz und Chalons Anfangs Februar glücklich zu Paris ein. Die liebe Mutter war jede Nacht aus dem Bett aufgestanden, um nach dem kalten Wetter zu schauen, was mir später einmal die Schwester erzählte; Frankreich schien ihr ganz aus dem Bereich und sie hatte nur mit heimlicher Angst ihren Willen zu der Reise gegeben. Ich befand mich aber vortrefflich aufgehoben und verlebte das Frühjahr und den Sommer auf die angenehmste und lehrreichste Weise. Was ich von Savigny empfieng, überwog bei weitem die Dienste, die ich ihm leisten konnte, durch eine öffentliche Anerkennung derselben in der Vorrede zum ersten Bande der Geschichte des römischen Rechts hat er mir viele Jahre nachher die grösste Freude zubereitet. Auch ist ein ununterbrochen fortgesetzter Briefwechsel die Folge unserer näheren Bekanntschaft gewesen. September 1805 wurde die Heimreise angetreten und Ende des Monats traf ich mit Wilhelm, den ich zu Marburg mitgenommen hatte, gesund und vergnügt bei der Mutter in Kassel ein, die unterdessen, damit sie ihr Alter in ihrer Kinder Mitte ruhig verleben könnte, aus Steinau nach Kassel gezogen war.

Um meine Anstellung wurde sich nun gleich noch denselben Winter beworben. Ich wünschte Assessor oder Sekretär bei der Regierung zu werden, aber alles war versperrt, und mit genauer Noth erlangte ich endlich den Akzess beim Sekretariat des Kriegskollegiums und 100 Rthlr. Gehalt (ohngefähr Jan. 1806). Die viele und geistlose Arbeit wollte mir wenig schmecken, wenn ich sie mit der [150] verglich, die ich ein Vierteljahr vorher zu Paris verrichtete, und gegen die neumodische Pariser Kleidung musste ich in steifer Uniform mit Puder und Zopf stecken. Dennoch war ich zufrieden und suchte alle meine Musse dem Studium der Literatur und Dichtkunst des Mittelalters zuzuwenden, wozu die Neigung auch in Paris durch Benutzung und Ansicht einiger Handschriften, sowie durch den Ankauf seltener Bücher angefacht worden war.

Auf diese Weise verstrich nicht völlig ein Jahr, als ungeahnte Stürme über unser Vaterland hereinbrachen, die auch mich betreffen und aus dem kaum betretenen Wirkungskreise stossen sollten. Gleich nach der feindlichen Okkupation verwandelte sich das Departement des Kriegskollegiums, wobei ich den Dienst zu versehen hatte, in eine für's ganze Land er richtete Truppenverpflegungskommission. Mit der französischen Sprache konnte ich mir besser als die übrigen helfen, und ein grosser Theil der lästigsten Geschäfte fiel auf meine Schultern, so dass ich ein halbes Jahr weder Tag noch Abend Ruhe hatte. Müde, mich mit den franz. Kommissärs und Verwaltungsbeamten, die uns damals überschwemmten, länger zu befassen und fest entschlossen, bei der neu bevorstehenden Organisation um keinen Preis in diesem Fach angestellt zu bleiben, nahm ich, so bald es angieng, meine Entlassung, fand mich nun aber eine Zeit lang wieder ausser Diensten und unfähiger als vorher, zur Erleichterung der Mutter und der Geschwister beizutragen. Ich glaubte um einen Posten bei der öffentlichen Bibliothek in Kassel werben zu können, da ich mich theils in das Lesen von Handschriften eingeübt, theils durch Privatstudien mit der Geschichte der Literatur vertrauter gemacht hatte, auch wohl fühlte, dass ich in diesem Fache grössere Fortschritte [151] thun würde, während mir die Erlernung des französ. Rechts, in das sich unsere Jurisprudenz zu verwandeln drohte, ganz verhasst war. Allein die gewünschte Stelle wurde einem andern zu Theil, und nachdem das kummervolle Jahr 1807 vergangen und das neue mit stets getäuschten Aussichten begonnen war, hatte ich bald den tiefsten Schmerz zu empfinden, der mich in meinem ganzen Leben betroffen hat. Den 27. Mai 1808 starb, erst 52 Jahr alt, die beste Mutter, an der wir alle mit warmer Liebe hiengen, und nicht einmal mit dem Troste, eins ihrer sechs Kinder, die traurig ihr Sterbebett umstanden, versorgt zu wissen. Hätte sie nur noch wenige Monate gelebt, wie innig würde sie sich meiner verbesserten Lage erfreut haben.

Ich war durch Joh. v. Müller's Empfehlung dem damaligen Kabinetssekretär des Königs Cousin de Marinville bekannt und als tauglich zur Verwaltung der Privatbibliothek, die in Wilhelmshöhe aufgestellt war, vorgeschlagen worden. Es muss an andern begünstigten Mitbewerbern gefehlt haben, sonst wäre mir schwerlich eine solche Stelle, wie es den 5. Juli 1808 wirklich geschah, zu Theil geworden. Meine Fähigkeit dazu war von Niemand geprüft. Die ganze Instruktion des königl. Kabinetssekretärs bestand in den Worten: vous ferez mettre en grands caractères sur la porte: Bibliothèque particulière du Roi. Ich hatte nun alsbald 2000 Franken Gehalt, der sich nach einigen Monaten, vermuthlich weil man mit mir zufrieden war, auf 3000 erhöhte. Nachdem wieder einige Zeit verflossen war, kündigte mir eines Morgens der König selbst an, dass er mich zum Auditeur au Conseil d'Etat ernannt habe, doch solle ich die Bibliotheksstelle daneben und hauptsächlich bekleiden (17. Febr. 1809). Das Amt eines Auditors beim Staatsrathe galt damals für ein [152] besonderes Glück und führte leicht zu höheren Stufen. Da es überdem meine Besoldung um 1000 Fr. mehrte, so genoss ich nun einen Gehalt von über 1000 Rthlr., der ich ein Jahr zuvor keinen Pfennig bezogen hatte, und alle Nahrungssorgen verschwanden.

Dabei war mein Amt als Bibliothekar keineswegs lästig, ich hatte mich blos einige Stunden in der Bibliothek oder im Kabinet aufzuhalten, konnte auch während dieser nach Besorgung des neu einzutragenden ruhig für mich lesen oder exzerpieren. Bücher oder Nachsuchungen in Büchern wurden vom König nur selten verlangt, an Andere wurde aber gar nichts ausgeliehen. Die ganze übrige Zeit war mein, ich verwandte sie fast unverkümmert auf das Studium der altdeutschen Poesie und Sprache. Denn der Staatsrath machte mir, ausser dass ich in gestickter Staatsuniform den Sitzungen beiwohnen musste, wenig zu schaffen und bald merkte ich, dass, wenigstens wenn der König nicht persönlich den Vorsitz hatte, ich auch in den Sitzungen nicht immer zu erscheinen nöthig hatte. Von allen Gesellschaften wusste ich mich auszuschliessen und lebte, wenn man hinzurechnet, dass der König oft Monate lang abwesend war, dann das ungestörteste Leben. Von dem König kann ich nicht übel reden; er benahm sich gegen mich immer freundlich und anständig, er schien, besonders in den letzten Jahren, zu mir, als dem einzigen Deutschen im Kabinet, weniger Zutrauen zu haben, als zu den übrigen Angestellten, die sämmtlich Franzosen waren; und ich finde das natürlich. Vielleicht wäre ich doch von der Stelle entfernt worden, wenn mich nicht der Kabinetssekretär Bruguiere (nachmals Baron von Sorsum), der bald jenem Cousin de Marinville nachfolgte, gehalten hätte. Dieser war ein gebildeter Mann, selbst [153] Schriftsteller und in der englischen Literatur, auch in der orientalischen, soweit man es aus Uebersetzungen seyn kann, gut belesen; gegen mich bewies er sich besonders freundschaftlich und ich habe ihn später zu Paris wieder gesehen. Er ist vor vier oder fünf Jahren verstorben.

Widriges kam aber doch auch dazwischen. Eines Morgens sollte der Saal im Wilhelmshöher (damals einfältig genug Napoleonshöher) Schloss, der die Bibliothek enthielt, schnell zu andern Zwecken umgeschaffen werden. Auf das Unterbringen der Bücher anderswo war nicht der mindeste Bedacht genommen. Auf der Stelle musste ich in anderthalb Tagen alle Schränke räumen, alle Bücher über einander werfen, und so gut oder übel das gehen wollte, in einen grossen beinahe dunklen Bodenraum schleppen lassen. Da lag nun das, wofür mein Amt geschaffen worden war, in leidigster Unordnung. Bald darauf wurden jedoch einige tausend Bände, die man für die nützlichsten hielt, ausgesucht, um im Kasseler Schloss zu den andern, die sich schon früher dort befanden, aufgestellt zu werden. Dort stand ihnen aber eine neue noch grössere Gefahr bevor. Im Nov. 1811 gerieth um Mitternacht das Schloss in Brand; als ich hineilte, standen gerade die Gemächer unter dem Bibliothekszimmer in voller Flamme. In Rauch und Qualm wurden alle Bücher von Leibgardisten, die Lichter trugen, aus den Fächern genommen, in grosse Leinentücher gepackt und auf den Schlossplatz geschüttet. Neben und unter uns knisterte alles. Im Heruntergehen verirrte ich mich auf einer der kleinen Wendeltreppen, und musste ein Paar Minuten nach dem rechten Ausgang im Dunkeln umhertappen. Die wenigsten Bücher, was zu verwundern ist, giengen verloren, ehe aber neue Schränke bestellt und gemacht [154] worden und ein neuer Ort für sie ausgewählt war, lag alles auf einem Haufen. Das waren nicht meine angenehmsten Tage.

1813, als der Krieg dem Königreich drohend näher rückte, wurde Befehl ertheilt, die kostbarsten Bücher zu Kassel und Wilhelmshöhe einzupacken, um sie nach Frankreich zu versenden. Ich fuhr mit Bruguiere nach Wilhelmshöhe, der besonders auf die Kupferstichwerke drang, und suchte wenigstens die Sammlung von Handschriften, die sich auf hessische Kriegsgeschichte bezogen und vom 30jährigen Krieg an begannen (es war Eigenhändiges von Gustav Adolph, von Amalie Elisabeth u.s.w. darunter), als unwichtig darzustellen. Auch blieben sie uneingepackt. Die eingepackten aber bekam ich erst 1814 zu Paris wieder zu sehen, als sie mir derselbe Huissier (er hiess Leloup), der sie hatte packen helfen, dort für den Kurfürsten wieder ausliefern musste. Der Mann machte grosse Augen als er mich erblickte.

Die endliche, kaum gehoffte Rückkehr des alten Kurfürsten, gegen Ende des Jahres 1813, war ein unbeschreiblicher Jubel und für mich war die Freude nicht kleiner, auch die geliebte Tante, die ich nur einmal in Gotha besucht hatte, im Gefolge des Kurfürsten wieder einziehen zu sehen. Wir liefen an dem offnen Wagen durch die Strassen hin, die mit Blumengewinden behangen waren. In jenen Monaten war alles in aufgeregter Bewegung. Ich stand doch noch gut angeschrieben und kam in Vorschlag, als Legationssekretär den hessischen Gesandten zu begleiten, der in's grosse Hauptquartier der verbündeten Heere abgeschickt werden sollte. Meine Ernennung ist vom 23. Dez. 1813. Zwei meiner Brüder machten den Feldzug in der Landwehr [155] mit, sie waren aus München und Hamburg, wo sie gelebt hatten, dazu in's Vaterland herbeigeeilt. Der gewählte Gesandte hiess Graf Keller, von Geburt kein Hesse, ein schon bejahrter und gutherziger, zuweilen eigensinniger, auffahrender Mann, dem der recht hessische Trieb fehlte, aber wer hätte in jener grossartigen Zeit nicht jeden Anstoss übersehen? Ich reiste um Neujahr 1814 von Kassel ab, über Frankfurt, Darmstadt, Karlsruhe, Freiburg, Basel, Mümpelgart, Vesoul, Langres, Chaumont, Troyes. Von da gieng es zum Theil wieder in eilender Flucht rückwärts bis Dijon; dann nach vierzehntägiger Rast neuerdings vorwärts über Chatillon, Troyes, Nogent in das frisch eingenommene Paris (April 1814). Vor zehn Jahren kein Gedanke, so bald und auf diesem Wege nochmals dahin zu kommen. Unterwegs hatte ich nicht versäumt alle Bibliotheken zu besuchen, und jeder freie Augenblick in Paris wurde benutzt, um in den Handschriften zu arbeiten. Mittlerweile war auch mein nachheriger College Völkel zu Paris eingetroffen, um die aus Hessen weggeschleppten Antiken und Gemälde zurückzufordern; ich half die entführten Bücher wieder erlangen, wie ich schon erwähnt habe. Im Sommer trat ich die Rückreise nach Kassel an, und rüstete mich bald von neuem zu der Fahrt nach dem Wiener Kongress. In Wien brachte ich zu von Okt. 1814 bis Juni 1815, eine Zeit, die auch für meine Privatarbeiten nicht nutzlos verstrich, und mir Bekanntschaft mehrerer gelehrten Männer verschaffte. Von besonderm Vortheil für meine Studien war, dass ich mich damals auch mit der slavischen Sprache anfieng bekannt zu machen. Aus Kassel empfieng ich aber die Trauerbotschaft von dem Tode der lieben Tante Zimmer (15. April 1815), der einzigen älteren Verwandtin, die uns übrig geblieben war, und der [156] ich so viel zu danken habe. Kaum war ich zu den Geschwistern heimgekehrt, als mich, und diesmal eine Requisition der preuss. Behörde, in das zum zweitenmal eroberte Paris rief, ich sollte die aus einigen Gegenden Preussens geraubten Handschriften ermitteln und zurückverlangen, nebenbei auch einige Geschäfte des Kürfürsten besorgen, der in dem Augenblick keinen Bevollmächtigten dort hatte. Zwar jener Auftrag brachte mich in ein unangenehmes Verhältniss zu den Pariser Bibliothekaren, die mich früher sehr gefällig behandelt hatten. Jetzt aber wurde einmal Langlès, den ich besonders drängte, so bitter, dass er mir nicht mehr gestatten wollte, auf der Bibliothek zu arbeiten, was ich in Nebenstunden immer zu thun fortfuhr; nous ne devons plus souffrir ce Mr. Grimm, qui vient tous les jours travailler ici et qui nous enlève nos manuscrits, sagte er öffentlich. Ich machte die Handschrift, die ich eben auszog, zu, gab sie zurück, und gieng nicht mehr hin um zu arbeiten, sondern nur um zu beendigen, was mir aufgetragen war. Zu Paris, wo ich diesmal ordentlicher (bei einem Advocaten in der rue de l'université) einquartiert war und ein tägliches Kostgeld von der Stadt bezog, erfreute ich mich besonders des näheren Umgangs mit dem preuss. Geh. Kammergerichtsrath Eichhorn, der gerade eine schwere Krankheit auszustehen hatte. Erst im Dezember giengen meine Geschäfte glücklich zu Ende und ich empfieng später zu Kassel ein Schreiben des Fürsten von Hardenberg (31. Aug. 1816), das mir Zufriedenheit mit meiner Verrichtung bezeugte.

Von jetzt an beginnt die ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit meines Lebens. Nach Strieders erfolgtem Tode, hatte ich endlich den früher gewünschten Platz in der Kasseler Bibliothek erlangt, an der [157] auch nun Wilhelm ein Jahrlang früher arbeitete. Eine Anstellung bei dem Bundestag zu Frankfurt, als Gesandtschafts-Sekretär, hatte ich entschieden abgelehnt. Ich wurde also zweiter Bibliothekar (16. April 1816) und behielt den bisherigen Gehalt von 600 Rthlr., Völkel war zum ersten Bibliothekar befördert worden. Die Bibliothek ist jeden Tag drei Stunden geöffnet, alle übrige Zeit konnte ich nach Lust studieren, und wurde nur durch kleine Nebenämter, wie das mir grösstentheils aufgebürdete Zensorische, aber nicht bedeutend gestört. Mit meinem Kollegen Völkel lebte ich auf freundschaftlichem Fuss, nichts hätte gefehlt, als eine mässige, und gerechte Gehaltszulage für mich und meinen Bruder, und es würden uns in dieser Hinsicht wenig Wünsche übrig geblieben seyn. Schnell verflossen die Jahre.

Nach dem Tode des höchstseel. Kurfürsten traten in Verwaltung der Bibliothek Veränderungen ein. Während vorher die Bibliothekare den ausgeworfenen Fonds jährlich baar empfangen und darüber der Finanzkammer Rechnung abgelegt hatten, wurde nunmehr die Bibliothek unter den Befehl des Oberhofmarschallamtes gestellt, von diesem sollte in Zukunft jede zu leistende Zahlung verfügt und bewirkt werden. Ob dadurch der herrschaftliche Dienst gewonnen hat, will ich nicht beurtheilen; so viel ist sicher, dass dadurch alle Zahlungen aufgehalten und dass dem Bibliothekar die Hände gebunden wurden, vortheilhafte Ankäufe gleich zu benutzen, wenn er nicht das Geld aus seiner eigenen Tasche vorschiessen wollte. Jene Behörde forderte aber hernach ausserdem, dass zum Behuf einer nothwendigen Controle ihr eine Abschrift des gesammten Katalogs (der aus 79 oder 80 Folianten bestand) binnen kurzer Zeit eingereicht würde. Gegenvorstellungen fruchteten nichts, und [158] wir mussten, der alte Völkel, mein Bruder und ich, wirklich Hand anlegen und ohngefähr anderthalb Jahre die edelsten Stunden auf diese Abschrift, deren Zweck wir nicht einsahen, verwenden. Man arbeitet noch alles gern, was irgend einen Nutzen hat, aber dies Geschäft, gestehe ich, ist mir das sauerste in meinem Leben geworden, und hat mich Stunden und Tage lang verstimmt. Nützlich für die Bibliothek wurde die von dem jetzt regierenden Kurfürsten befohlene Abgabe eines Theils der Wilhelmshöher an die unsrige (etwa 2000 Bände); manche alte Bekannte giengen mir von neuem durch die Hand. Im Januar 1829 starb Völkel, dem ich ein längeres Leben zugetraut und sicher von Herzen gegönnt hätte. Wir bildeten uns ein, gerechte Ansprüche auf Beförderung zu haben, ich war 23 Jahre im Dienst, ich hatte seit 1816 niemals um Zulage angehalten und niemals eine erlangt; auch hoffte ich der Bibliothekarstelle keine Unehre gemacht zu haben. Allein es schlug anders aus. Der, soviel ich mich erinnere, im Jahre 1819 oder 1820 von Marburg nach Kassel als Historiograph versetzte Professor Rommel erhielt zu jener Zeit daneben die Aufsicht über die Urkunden des Hofarchivs, unter dem Titel eines Staatsarchivdirektors. Vor der französ. Okkupation hatte sich das Hofarchiv in einer gewölbten Kammer des alten Schlosses befunden, war also 1814 nothwendig in einem andern Lokal untergebracht worden, wo es verblieb, bis 1824 oder 1825 die einem Zimmer des Museums die Wachsbilder der alten Landgrafen weggeräumt wurden; das Zimmer wurde hernach zur Aufnahme des Archivs auserlesen. Diese lockere Verbindung zwischen Museum und Archiv sollte sich nunmehr zu einer festen stärken. Herr von Rommel (seit 1828 in den Adel des Kurfürstenthums erhoben) wurde mit Beibehaltung [159] seiner bisherigen Posten auch zum Direktor der Bibliothek und des Museums bestellt. Ich blieb, was ich seit 1816 war, zweiter Bibliothekar, mein Bruder, was er seit 1815 war, Sekretär, jeder von uns empfieng 100 Rthlr. Zulage. Hiermit war uns beiden weitere Aussicht auf künftige Beförderung abgeschnitten. Die Sache hätte, auch wenn von Rommels Ansprüche berücksichtigt werden sollten, auf mehr denn eine Art anders eingerichtet werden können. Zum Beispiel, er hätte die Direktion des Museums erhalten mögen, wenn ich den Posten eines Archivarius, mit angemessenem Gehalt bekommen hätte, und mein Bruder zum Bibliothekar ernannt worden wäre. Einem Archiv vorzustehn, und ein so reiches und wenig benutztes, wie das hessische, nach Lust bearbeiten zu können, hätte meiner innern Neigung noch mehr zugesagt, als die Bibliothekarsstelle. Der alte, simple Archivariustitel hätte mir auf Lebenslang genügt, und keiner Direktion so wenig wie früherhin es bedurft. Indessen bin ich nie von jemand gefragt worden und hütete mich wohl Vorschläge verlauten zu lassen. Ich hatte mich ganz einfach um die erste Bibliotheksstelle gemeldet, als um das Gerechteste und was sich beinahe von selbst verstand. Die getroffene neue, alle bescheidenen Wünsche vernichtende Einrichtung musste mich tief kränken. Ich hatte einen im Jahr 1816 durch Eichhorn indirekt mir geschehenen Antrag einer Professur zu Bonn geradezu abgelehnt und keiner Art Vortheil daraus zu ziehen gesucht, weil ich in Hessen zu leben und zu sterben dachte. Damals aber wäre es mir gewiss leichter und vortheilhafter gewesen, mich der akademischen Laufbahn zu widmen, als später. Unter der Hand geschah uns nun im Sommer 1829 der Antrag, einem ehrenvollen Rufe nach Göttingen zu folgen. Alte zu Rath gezognen [160] Freunde ermahnten dazu aus Kräften. Die geliebte und gewohnte Heimath aufzugeben schien uns hart und schmerzhaft wie vorher, aus dem Geleise genau bekannter Beschäftigungen und einer uns Frucht bringenden Musse herauszutreten, fast unerträglich. Allein auch in dem Verhältniss zu einem neuen Vorgesetzten, der wo er eingreifen oder schonen sollte, selbst noch nicht zu wissen schien, lag etwas Peinliches und Unheimliches. In dieser Stimmung folgten wir dem Gefühl der Ehre, und entschieden uns für die unbedingte Annahme des Gebotenen. Unterm 20. Okt. erfolgte zu Hannover die förmliche königliche Vokation, die mich zum ordentlichen Professor und Bibliothekar, meinen Bruder zum Unterbibliothekar ernannte, mit angemessenen Besoldungen, die unserer steten Nahrungssorge im hessischen Dienst ein Ende machten. Schon unterm 30. Okt. wurde zu Kassel unsere Entlassung ausgefertigt. Neujahr 1830 haben wir die hiesigen Stellungen angetreten. Wir sind von allen Kollegen zu Göttingen freundschaftlich aufgenommen worden, mein erstes Kollegium lese ich diesen Sommer über deutsche Rechtsalterthümer. Zwar sind die Bibliotheksarbeiten weit mühsamer als zu Kassel, aber sie bieten doch auch ihre Vortheile dar, die ich mit der Zeit noch viel deutlicher gewahren werde. Zwar ist die Göttinger Gegend nicht zu vergleichen mit der Kasseler aber die nämlichen Sterne stehn am Himmel und Gott wird uns weiter helfen.

Quelle:
Grimm, Jacob: Selbstschilderung. In: Deutsche Lehr- und Wanderjahre, Selbstschilderungen berühmter Männer und Frauen, II: Männer der Wissenschaft, Berlin 1874; S. 141–161., S. 141-162.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1-4

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1-4

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

640 Seiten, 29.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon