Wildaurin

[444] Wildaurin, Gratiola officinalis, L. [Zorn, pl. med. tab. 449] mit lanzetförmigen, sägeartig gezahnten Blättern und gestielten Blumen; ein etwa fußhohes Kraut mit mehrjähriger Wurzel auf feuchten Wiesen und an Bächen, vermuthlich besonders da, wo der Boden etwas Küchensalz enthält, welches im August blaßgelbe oder weiße Blumen mit blaßpurpurfarbnen Lippen trägt.

Das Kraut mit seinen einander gegenüber stehenden Blättern und Zweigen und die zylindrische, strohhalmdicke, schiefkriechende, gegliederte, untenher mit vielen Fasern besetzte, weiße Wurzel (Hb. Rad. Gratiolae) besitzen beide zwar keinen Geruch, aber einen ekelhaft und heftig bittern, lang anhaltenden Geschmack, der bei lezterer nicht nur bitterer, sondern auch adstringirend ist. Das frisch getrocknete Kraut kömmt dem frischen an Kräften und sinnlichen Eigenschaften ziemlich bei; das lang aufbewahrte ist aber dagegen um desto unkräftiger. Der frisch ausgepreßte Saft ist weniger bitter und milder an Wirkung als der vom Auspressen übrige Rest. Die so häufig von diesem Kraute beobachteten, Erbrechen und Purgiren, oft mehrtägiges, drastisches, torminöses Purgiren erregende Kraft scheint gar keine diesem Kraute besonders eigenthümliche, sondern blos durch Misbrauch und übermäßige Gabe erzwungene Wirkung zu seyn, die in hoher gefährlicher Gabe von jeder heroischen Arznei erfolgt; man gab das Pulver zu dieser Absicht in ältern Zeiten bis zu einem Quentchen, in neuern bis zu einem Skrupel, und Mutterblutflüsse, Fehlgeburten und andre heftige Zufälle waren oft die Folge. Daß diese Wirkung nur misbräuchlich erzwungen sei, siehet man an den übrigen mit einem blos abführenden Mittel kontrastirenden Kräften des Wildaurins, seiner Tugend in Wechselfiebern, selbst Quartanfiebern, in Rheumatismen, Fußgeschwüren, Knochengeschwüren und allen Nachwehen vom Quecksilbermisbrauche, in der Fallsucht und selbst in der Wassersucht, wo dieses Kraut nicht so hülfreich seyn würde, wenn, wie die Erfahrung lehrt, seine Harn treibende Kraft nicht überwiegender, als seine purgirende wäre. Auch seine nicht geringe anthelminthische Tugend scheint unabhängig von der purgirenden zu seyn. Man würde weit heilsamere und ausgebreitetere Wirkungen von ihm gesehen haben, wenn man die Gaben nicht bis zur Erregung des Darmkanals getrieben hätte. Dieß scheint man in neuern Zeiten geahnet zu haben, wo man in den gedachten Uebeln kleinere Gaben des Pulvers und den in mäsiger Gabe wenig oder gar nicht purgirenden Dicksaft in einigen Manien in alten Fußgeschwüren, u.s.w. mit großem Erfolge brauchen ließ. Das[444] durch Kochen ausgezogene und eingedickte Extrakt wirkt heftiger.

Auch Speichelfluß und Schweiß pflegt der Waldaurin zu erregen.

Man hat äusserlich die frisch zerquetschten Blätter mit Erfolg auf alte Geschwüre, auf gichtische und rheumatische Stellen, auf Milchknoten in den Brüsten und auf Blutunterlaufungen gelegt, und durch dieses äussere Mittel selbst Wasserköpfe, wie man versichert, geheilt.

Die Wurzel hat man in allen diesen Fällen fast noch wirksamer befunden, und sie sogar in der Ruhr für spezifisch gehalten; das Pulver erregt in mehr als mittelmäsigen Gaben vorzüglich Erbrechen. Die geistige Tinktur scheint ein vorzügliches Präparat zu seyn. Das Dekokt in Milch hat man als Klystir gegen die Springwürmer des Afters gebraucht.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Apothekerlexikon. 2. Abt., 2. Teil, Leipzig 1799, S. 444-445.
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