Äußerliche Haltung

[77] Die Haltung jedes Menschen sei aufrecht, der Gang weder lässig noch hastig und in geschlossenen Räumen um vieles leiser als auf der Straße. In einem Schlafzimmer marschiert man nicht, man tritt behutsam auf. Wenn man schon das allzu lärmende Gehen eines Mannes als unangenehm empfindet, um wieviel unangenehmer berührt es, wenn ein Mädchen oder eine Frau es ist, die wie ein Grenadier auftritt, die Türen zuschlägt, anstatt sie leise zuzumachen, lärmend die Stühle rückt und alles mit ausholenden Bewegungen zu raffen scheint, was ihr unter die Hände kommt. Wenn eine Frau die Anmut nicht als Wiegengeschenk mitbekommen hat, dann muß sie sich selbst dazu erziehen mit eiserner Disziplin. Die ältesten Großmütter können noch anmutig sein, ja wir wollen zugeben, daß wir von so mancher Großmama in diesem Punkte noch lernen könnten. Sogar von mancher Bäurin, die ihr Leben lang bloßfüßig geht und alle Lasten auf dem Kopf trägt. Wie Königinnen schreiten sie daher, aufrecht, stolz, und doch biegsam und gelenkig. Man soll beim Gehen nicht mit Kopf und Schulter nachhelfen, als ob man sich tief in die Erde graben wollte. Man soll sich auch nicht vorwärts schieben, wie ein Großstadtstrolch. Hände in den Hosentaschen, oder bei Frauen in den Rocktaschen, das ist durchaus nicht so fesch, wie manche glauben ... In geschlossener Gesellschaft soll man vermeiden, jemandem längere Zeit den Rücken zuzukehren, das würde uns als Mißachtung ausgelegt werden. Und wenn wir es uns daheim bequem machen dürfen, so sollen wir trotzdem nicht lümmeln. In fremder Umgebung[77] ist uns ein Sich-gehen-lassen aber schon gar untersagt. Man darf sich doch nicht mit gespreizten Beinen, die Ellbogen aufgestützt, breitmachen, als gedächte man überhaupt nicht mehr sich aus dem süßen Pfuhl zu erheben.

Heute ist es nicht mehr streng verboten, die Beine übereinander zu kreuzen. Sogar die Dame darf das tun, doch weder Dame noch Herr darf die Beine ausspreizen. Es ist gar nicht schick, etwa mit der Hand den über das Knie gelegten Fußknöchel zu umspannen oder die Hände auf die Oberschenkel zu stemmen. Die Männer wissen oft mit ihren Händen nichts anzufangen, die Frauen mit ihren Füßen. Wer sich Mühe gibt, sitzende Frauen von hinten zu betrachten, macht oft amüsante Beobachtungen. Die einen ranken ihren Fuß zweimal um das andere Bein, andere stellen die Füße mit den Zehen zu- und den Fersen auseinander, wieder andere biegen wie Akrobaten die Knöchel fast im rechten Winkel ab und decken die Sohlen aufeinander, oder sie wickeln die Füße wie Schlingpflanzen um die Stuhlbeine.


Die Beine (S. 79)
Die Beine (S. 79)

Auch unsere Füße sind für unsere Haltung maßgebend, auch sie müssen wir beherrschen lernen. Ganz schwierig wird es aber manchem, seine Hände beim Sprechen unbeschäftigt zu lassen. Wer raucht, hat es leicht, aber auch der Nichtraucher soll darauf verzichten, Bart oder Papierkügelchen zu drehen, mit den Fransen der Tischdecke zu spielen oder mit den Fingern auf die Platte oder seine Knie zu trommeln! Jedes Kind weiß, daß man beim Husten, Niesen oder Gähnen die Hand mit dem Taschentuch vor den Mund hält. Doch soll man, wenn man sich die Nase putzen muß, kein Trompetengeschmetter vollführen und nach getaner Arbeit nicht, wie es alte Herren gerne tun, das Ergebnis einer genauen Inspektion unterziehen. Natürlich sind das Äußerlichkeiten, doch müssen sie in Fleisch und Blut übergehen.Heutzutage muß jeder so viel Gewalt über sich aufbringen, daß er diesen Unwillkürlichkeiten nicht unterliegt.

Von einem bärenschweren Menschen wird man sicher nicht verlangen, daß er auf einem Rokokostühlchen balanciert und dazu Süßholz raspelt, aber auch er darf sein Körpergewicht nicht als Entschuldigung für rücksichtsloses Benehmen ins Treffen führen. Die Lümmelhaftigkeit ist oft ein Zeichen von Verlegenheit und Schwäche. Ein Mensch mit Willenskraft kann immer die Unzulänglichkeit des Körpers korrigieren. Geistige Disziplin – selbstredend mit körperlicher gepaart – zwingt die Materie. Das gute Auftreten hängt vor allem von unserer vornehmen, beherrschten Haltung und von der Fähigkeit, sich selbst zu vergessen, ab. Auftreten heißt nicht Eindruck schinden, sondern, sicher seiner selbst – dem Bruder entgegenkommen.[81]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 77-79,81-82.
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