Bedenken gegen den Anstand

[11] Bedenken gegen den Anstand? O ja, das gibt es auch. Auch im weltlichen Leben gibt es Heilige und Märtyrer irgendeiner Tugend, der sie bis zum Laster frönen. Da sind zum Beispiel die Wahrheitsfanatiker, die von der Anstandsform nichts hören wollen, weil »sie eine Tugend heuchelt, die vielleicht nicht vorhanden ist«, da sind Menschen, die jede Liebenswürdigkeit im voraus ablehnen, weil sie die Grobheit für den natürlichen, wahren Zustand jedes Zweifüßlers ansehen und den Versuch, sich über das angeborene Mißtrauen durch Geistesdisziplin zu erheben, für eine Falschheit halten. Man muß wohl zugeben, daß der bloß äußere Anstand den inneren Menschen nicht umzukrempeln vermag, aber es ist schon ein menschlicher Gewinn, wenn die Höflichkeit den Egoismus und die Brutalität in Schranken hält. Kein gefräßiger Mensch wird nur durch gute Lebensformen zum Aszeten, doch wird er, von Kindheit an erzogen, zum erträglichen Tischgenossen, und vielleicht ist er sogar imstande, seinem Nachbarn das bessere Stück vorzulegen. Damit ist das Tier in ihm schon gebändigt. Wer sich aus Höflichkeit täglich in Geduld übt, dem wird die gute Laune zur Gewohnheit, fast zur zweiten Natur. Mag für manchen oberflächlichen Menschen der Anstand auch nur eine Maske sein, so ist er doch eine von jenen Masken, die mit der Zeit das wahre Gesicht nach sich umzuformen vermögen. Es verhält sich damit ganz so wie mit dem Zwang der militärischen Erziehung, dem Drill. Auch er kann aus einem ängstlichen Menschen nicht einen Löwen machen, aber er kann ihn[11] durch die bloße Disziplin bis zur heroischen Pflichterfüllung bringen. Das hat mit Heuchelei absolut nichts zu tun.

Wer die üblichen Formen des guten Benehmens bewahrt, prahlt darum noch lange nicht mit einer Tugend, und erst das wäre Heuchelei.

»Ja, aber«, sagen meine Wahrheitsbesessenen, und es folgt der klassische Satz: »Darf ich aufrichtig meine Meinung sagen?« Dabei rieselt es mir schon kalt über den Rücken, denn daß diese Aufrichtigkeit etwas Angenehmes wäre, glaubt kein Mensch. Darf ich auch aufrichtig sein, lieber Wahrheitsfanatiker? Warum fühlst du diesen Wahrheitsdrang nur dann, wenn du deinen Mitmenschen eins versetzen willst? Noch nie ist es mir geschehen, daß einer mir aus lauter Wahrheitsliebe was Angenehmes gesagt hätte. Aus Liebe, aus Güte gottlob sehr oft, auch aus Mitleid, aber aus Wahrheitsliebe?

Wenn ich darüber nachdenke, liebe Wahrheitsfreunde, so scheint mir, ihr haltet euch für ewig tagende Mitglieder einer Sittenprüfungskommission, die mit einer gewissen Genugtuung die Fehler der anderen ankreiden dürfen. Euch ginge eine kleine Wollust des Lebens verloren, müßtet ihr euch anstandshalber etwas zurückhalten.

»Ja, kann man jemals zu aufrichtig sein?«

O ja, wenn diese Wahrheit nur sehr relativ, höchst persönlich, von Ehrgeiz, Eitelkeit, Geltungstrieb entstellt ist. Dagegen können wir für jene Wahrheit eintreten, die uns###, nicht nur dem Nachbar Opfer auferlegt! An solchen Wahrheiten ist die Welt nicht gar so reich, da könnt ihr absolut tugendhaft sein, wenn ihr es vermögt. Es gehört nicht zur Wahrhaftigkeit, seinem Mitmenschen »frei von der Leber weg« alles zu sagen, was man im Augenblick empfindet, denn das kann grundfalsch sein. Man ist nicht »wahr«, wenn man[12] einen Menschen fühlen läßt, daß er einem nicht zu Gesicht steht, man ist nur undiszipliniert, läßt man sich ohne sehr triftigen Grund und ohne lange Prüfung dazu hinreißen.

Man ist nicht wahr, wenn man hinausschmettert: »Darf ich Ihnen aufrichtig sagen, daß Sie eine dumme Gans sind?« Denn vielleicht ist die »dumme Gans« gar keine unumstößliche Wahrheit, sondern eine augenblickliche Gallenverstimmung, und dann hätte die Frage, wollte sie wirklich aufrichtig sein, lauten müssen: »Darf ich Sie anflegeln?«

»Meine Meinung werde ich immer vertreten!«

Ja, das wollen wir, wenn wir darum gebeten werden oder wenn's dafürsteht oder wenn wir Böses verhindern können. Wenn ein höheres Interesse es verlangt, müssen wir bereit sein, unsere Meinung zu sagen, für sie einzutreten und unser Interesse zurückstellen. Ist das aber nicht der Fall, dann sollen wir Rücksicht üben, denn wenn wir schon alles denken sollen, was wir reden, so ist es doch nicht nötig, alles zu sagen, was wir denken. Es gibt Wahrheiten, die niemand interessieren. Daß du, lieber Nachbar, Schuhnummer 47 hast, ist kein Grund, mir deshalb alleweil auf die Zehen zu treten. Daß du als Zornbinkel, Unbeherrschter, Rücksichtsloser oder Mißtrauischer auf die Welt gekommen bist, ist für dich bedauerlich, doch gehört es nicht zum Dienst an der Wahrheit, es in jedem Worte, zu jeder Zeit mit dem Vorsatze, sich nicht zu bessern, der Menschheit zu beichten. Die höhere Wahrhaftigkeit verlangt die Erkenntnis, daß du damit anderen das Leben schwer machst, und schon aus nur äußerem Anstand sollst du Rücksicht nehmen und Disziplin halten.

Ein anderer Anstandsfeind erklärte, er sei auch kein Wahrheitsfanatiker, er sei ein Naturbursche und könne daher das Komödienspiel und Mätzchenmachen nicht leiden. Das sagte[13] auch ein junges Mädchen – auch ein Naturbursche –, das zwischen zwei alten Damen, die sich gegenseitig den Vortritt anboten, wie ein Wirbelwind durchsauste. Sie hatte die »Faxen« nicht gerne, aber sie ahnte nicht, daß ihre dick aufgetragene Faxenfreiheit auch Komödie war. Ein wirklich natürlicher Mensch ohne Mätzchen macht eben kein Aufsehen um Dinge, die zu alten Gewohnheiten geworden sind und niemanden stören. Der Naturbursch, der auf Schritt und Tritt, bei Ernst und Spiel, bei Katastrophen und beim Bartschneiden von seiner Erdgebundenheit spricht, ist kein natürlicher Mensch. Nie macht der Bauer ein Aufhebens davon, und gerade er hält am zähesten an seinen überlieferten Anstandsformen fest. Man lebe nur einmal mit diesen naturverbundenen Menschen, und man wird staunen, wie sehr ihr Betragen von dem unserer »Naturapostel« abweicht. Sie sind nicht naseweis, vorlaut, polternd, körperlich und moralisch entblößt – o nein. Richtige Bauern haben eine Etikette wie Könige, es gibt Dinge, die unter keinen Umständen getan, gefragt oder gesagt werden dürfen.

Sie sind so empfindlich in ihrem Gefühl für Takt, daß die guterzogene Dame, der höfliche Herr ihnen viel näher stehen und mehr Vertrauen einflößen als der Naturbesessene, der ihre Verschlossenheit und Wortkargheit, die selbstbewußte Einfachheit nur nachäfft. Sie empfinden die Komödie, die er sich selber vormacht, und sie ahnen es: Naturhaftigkeit an Stelle rücksichtsvollen Anstandes ist Kraftmeierei, der die Kraft schon fehlt. Wirklicher Anstand verlangt keine Komödie oder Verstellung, nur Beherrschung. Die Zeit der Floskeln ist gewiß vorbei und die des bloßen Scheins. Dafür dürfen wir aber nicht anderen Schein und andere Floskeln setzen.

Ein sonst intelligenter Mensch tat alle Höflichkeitswendungen[14] mit dem Worte »Quatsch« ab. Die Autosuggestion vollbrachte das Wunder, daß dieser brave Mann bis heute noch nicht daraufgekommen ist, daß auch sein geliebtes Wort »Quatsch« nur eine Floskel ist.

Eine junge Dame langweilt sich in Gesellschaft älterer Leute. Sie macht die Komödie der Höflichkeit nicht mit, es ist unter ihrer Würde, ihr Gefühl zu unterdrücken und mit gutem Willen Mittel und Wege zu suchen, um sich und den anderen die Zeit zu vertreiben. Ihr Gesicht sagt deutlich: »Sie öden mich an«, sie täuscht Nervosität vor, provoziert womöglich Situationen, die das peinliche Gefühl noch steigern, hofft mit ihrer unterstrichenen Langeweile die Alten zu ärgern und amüsiert sich schließlich über dieses Spiel mit der Langeweile tatsächlich.

Wäre es nicht wahrer und menschlicher gewesen, sie hätte versucht, ihr wenig wichtiges persönliches Gefühl zu unterdrücken und die anderen zu unterhalten?

Leider haben wir uns daran gewöhnt, unsere Zu-und Abneigungen offen zur Schau zu tragen. Machen wir uns nichts vor! Es war nicht Aufrichtigkeit und Natürlichkeit, die uns dazu veranlaßt haben, sondern Indolenz, die Unfähigkeit, den andern zu verstehen, Rücksichtslosigkeit, Hochmut und Egoismus.

Das Prinzip: Erst beweise mir, daß du ein anständiger Mensch bist, damit ich dich menschlich behandle – ist falsch. Man muß seinen Nächsten so lange als Gentleman behandeln, bis er sich als Lump erwiesen hat.

»Ich wäre dafür«, sagen ehrliche, aber nüchterne Menschen, »den Verkehr unter Menschen auf Sachlichkeit zu basieren.« Sachlichkeit? Was ist das? Eine Art Objektivität dem Gegenstand gegenüber? Da doch jedem das Ding etwas anderes[15] bedeutet, je nach dem Gesichtswinkel, aus dem er es ansieht. Wie kann man da ehrlich sachlich sein? Was ist ein Wurm zum Beispiel, sachlich betrachtet?

Für den Forscher ein lichtscheuer Bewohner des feuchten Erdreichs, ein Weichtier ohne Skelett, ohne Augen, ohne Gehörorgan.

Für die Henne, nicht minder sachlich, ein wohlschmeckender Leckerbissen.

Für manche Pflanze dagegen der Erbfeind.

Für den Philosophen eines der tausend Naturwunder, für viele Menschen eine ekelerregende Angelegenheit.

Und alle glauben, rein sachlich gesprochen zu haben. Also – die Sachlichkeit ist kein Maßstab für das Lebendige, sie ist im Grunde nicht eine ganz menschliche Angelegenheit. Darum ist auch eines der größten Paradoxa, die je ausgesprochen worden sind, das von der »sachlichen Kunst«.

Die Kunst beginnt eben da, wo eine starke Eigenheit des Lebens und Empfindens den Menschen zwingt, das vorhandene Objekt nachzudichten, in eine Ebene zu heben, in der es anderes zu geben hat als das, was es nach seiner Gebrauchsanweisung zu geben hätte.

Ein Kochtopf gehört aufs Feuer. In dem Augenblick, in dem ich ihn auf die Leinwand zaubere, habe ich aufgehört, sachlich zu sein.

So wie die Sachlichkeit nicht in die Kunst gehört, gehört sie auch nicht alleinbeherrschend ins Leben. Denn Leben heißt: Stellung nehmen. Selbst im Geschäftsleben ist die absolute Sachlichkeit unmöglich, denn kein Kaufmann kommt ohne Reklame aus, und die ist, wenn man sie noch so bescheiden treibt, keine sachliche Angelegenheit. Wer von einer Ware mehr sagt als Preis und Beschaffenheit, ist schon unsachlich.[16]

Selbst die Natur bedient sich, wenn sie einen Zweck verfolgt, jeder Lockung der Luft und Schönheit. Warum sollen wir in die ohnehin nüchtern genug gewordenen Beziehungen von Mensch zu Mensch noch eine Steigerung dieser Nüchternheit durch gekünstelte, dem wahren Leben fremde Sachlichkeit hineintragen? Kann man sich, um nur ein Beispiel zu nennen, ohne zynisch zu wirken, bei einem Begräbnis, auch wenn man nicht zu den Leidtragenden gehört, »sachlich« betragen?

Unvergeßlich bleibt mir die Sachlichkeit eines Spitalarztes, der dem Vater einer seiner Patientinnen auf die Frage nach dem Befinden derselben antwortete: »Hoffnungslos, bitte den Sarg zu bestellen.«

Sachlich war auch jener Mann, der meinte, man sollte alte Menschen, wie das manche wilde Völkerstämme tun, ins Jenseits befördern, damit die Jugend mehr zu essen hätte. Die Sachlichkeit hat nämlich einen minderen Bruder, der sie nie lange allein schalten läßt: den Zynismus. Und dies ist etwas ganz und gar Undeutsches.

Das kalte Rechenexempel, die brutale Feststellung irgendeiner Tatsache helfen nicht, das Leben zu meistern. In alle menschlichen Beziehungen gehört der blutwarme Impuls, der das Herz höher schlagen läßt, der die Schritte beschwingt, der das Zweckmäßige in Schönheit, Freude und Güte taucht und erst begehrenswert macht.[17]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 11-18.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon