Die Kunst des Sprechens

[82] Das ist keine leichte, aber eine sehr notwendige Kunst, heute mehr denn je. Unseren Lehrern und Professoren kann man nicht dringend genug ans Herz legen, auf den Gebrauch der Sprache in Schule und Unterricht größten Wert zu legen.

Wer von Kindheit auf daran gewöhnt wird, seine Gedanken zu ordnen und dann klar auszudrücken, der kommt viel leichter durchs Leben. »Im Anfang war das Wort«, sagt die Schrift. Und erst als der Urgedanke durch das Wort Bewußtsein wurde, begann das Leben.

Das Wort ist mächtig, man kann nie sagen: Das war nur ein Wort. Es kann ein Wort ein Lebenswerk zerstören, wie es, zur richtigen Zeit gesagt, eine Welt aufbauen kann. An einem bösen Wort haben Menschen lebenslang gelitten, an einem guten haben andere sich immer wieder aufgerichtet. Das Wort ist wie der kleine Stein, der, je nachdem, einen rollenden Wagen aufhalten, oder einen Zug zur Entgleisung bringen kann. Daher müssen wir den Wert eines Wortes erst kennenlernen und seine innere Dynamik. Wer das weiß, jongliert nicht bei nichtigen Gelegenheiten mit pathetischen Worten herum, sondern bewahrt auch hier Geschmack und Takt. Viele glauben, ihre Energie durch saftige Ausdrücke beweisen zu müssen, durch scharfe Urteile und harte Redewendungen, sie berauschen sich – wie früher die Romantiker am Süßholzraspeln, – an ihrer Grobheit, die sie für Charakter halten. Dieses billige Imponieren hat in einer Zeit heroischer Taten und wirklich titanischer Willensmenschen gar keinen Platz mehr. Selbst im Widerspruch muß ein gut erzogener Mensch seine[82] Meinung mit Maß vertreten. Nie darf er persönlich werden, Beschimpfungen und Verdächtigungen sind keine Argumente. Wenn der Gegner ein anständiger Mensch ist, muß man sich mit Ritterlichkeit schlagen und, ist es soweit, den Triumph auch im kleinen mit Bescheidenheit tragen. Den Tanz vor der Leiche des Feindes überlassen wir den Wilden. Dem ehrlichen Gegner im täglichen Leben reicht man, wie im Sport, die Hand. Nie darf man es so weit kommen lassen, daß er vor andern bloßgestellt wird – ich spreche natürlich vom ehrbaren Gegner, der Lump verdient keine Rücksicht. Es ist auch nicht fair, irgendeinen, nicht zur Streitsache gehörigen, wunden Punkt zu berühren, um einen Menschen klein zu kriegen, oder Dinge, die er uns anvertraut hat, als Waffe gegen ihn zu benützen. Auch der Widerspruch kann ritterlich bleiben, selbst wenn er energisch vorgebracht werden müßte.

Die größte Kunst des Sprechens besteht im Zuhören. Das kostet oft viel Geduld und Geistesgegenwart, um Gedankensprüngen gewachsen zu sein. Aber ein paar hie und da eingestreute Worte genügen wohl, um unsere Aufmerksamkeit zu beweisen. Zieht sich die Rede des andern gar zu lange hin und fängt sie an, die Zuhörer zu langweilen, so kann man versuchen, den Dingen durch ein paar hingeworfene Fragen eine andere Wendung zu geben, sonst aber hüte man sich, den andern zu unterbrechen oder gar ihm das Wort wegzuschnappen. Hat man auch die Pointe eines Witzes, den Schluß einer Anekdote schon zehnmal gehört, so höre man ruhig ein elftesmal zu, denn es gibt andere, die das noch nicht kennen und sich darüber freuen. Man muß auch einem andern einen Lacherfolg gönnen können.

In gemütlicher Unterhaltung wird man sich nicht als Lehrer oder Moralprediger aufspielen und die Zuhörer als fruchtbaren Acker für die eigene Ideensaat ansehen. Das wirkt auf die[83] Dauer tödlich langweilig. Der Gymnasiast sagt von solchem Menschen, er hätte einen Wurm. Es gibt einen philosophischen, einen mystischen, einen politischen Wurm und viele andere solcher Bohrwürmer noch dazu. Eine Zeitlang läßt man sie sich gefallen, aber nur immer Würmer, das ist zu viel.

Damit ist nicht gesagt, daß das Gespräch in Plattheiten sich erschöpfen soll, im Gegenteil, man soll es möglichst mannigfaltig halten. Aber wer ewig dasselbe wiederkaut, zur Zeit und Unzeit, bei passender und unpassender Gelegenheit, der macht aus den besten Ideen Binsenwahrheiten und Schlagworte ohne Saft und Kraft.

Man muß frei reden können, aber auch freie Antwort vertragen können. Unerträglich ist der Mensch, der nur darauf wartet, einem das Wort im Munde zu verdrehen. Macht einer einen kleinen Schnitzer, der niemand und nichts verletzt, so lasse man ihn unbemerkt passieren. Es ist nicht nötig, sein eigenes Besserwissen immer herauszukehren. Ob jemand Napoleon ein Jahr früher oder später sterben läßt, ist gewöhnlich sehr gleichgültig und berechtigt uns nicht, dem Betreffenden eine schlechte Geschichtsnote zu geben.

Man sollte immer um ein klein wenig mehr wissen, als man zeigt, und die lebenswarme Wirklichkeit über das Buchwissen stellen, weil sie von allen verstanden wird.

Niemand muß sich fürchten, zu wenig zu bieten. Manche Menschen, oft sind es die wertvollsten, bleiben in Gesellschaft stumm, weil sie nichts Interessantes zu erzählen haben – wie sie glauben. Aber es ist alles interessant, was warm erlebt und wiedergegeben wird. Geistreich sind nicht jene Sprecher, die die Witze am laufenden Band produzieren, sondern die, die jedes tote Ding mit pulsierendem Leben durch dringen. Die Würze des Gespräches ist der Humor, eine Tugend, die jeder pflegen[84] kann. Lustigkeit, Witz, Schlagfertigkeit sind Begabungen, die man bei der Geburt gratis mitbekommt, zum Humor aber kann man sich erziehen. Humor ist eine wohlwollende, innere Haltung den Dingen des Lebens gegenüber, eine Abgeklärtheit im Anschauen, die uns erlaubt, aus fast allen Lagen des Lebens eine befreiende Komik herauszuholen, die sie erträglich macht. Zum Humor gehört Mut, der Wille, sich durch Widerwärtigkeiten nicht klein kriegen zu lassen. Eine Hausfrau, der ein Gast eine kostbare Vase zerbrach, rettete die peinliche Situation und die ganze Feststimmung dadurch, daß sie sagte: »Kein Malheur, den Scherben ist nichts passiert.« Gewiß nicht geistreich, aber von erlösender Komik. Die meisten Menschen nehmen sich zu wichtig, sie gehen feierlich neben ihrem eigenen Ich daher, als hielten sie sich ihre eigene Nachrede.

»Alles Göttliche ist leicht«, sagt Nietzsche und meint leicht im Sinne von beschwingt. Diese Beschwingtheit ist ein Teil, ein großer Teil des Humors. Gewöhnt man sich diesen inneren Optimismus an, so kommt er dem Verkehr mit dem Nächsten sehr zustatten. Gespräche über Krankheiten und Miseren gehören nicht zu Tisch, man soll niemandem den Appetit verderben. Und Neugierde tut auch nicht gut. Fremde Menschen fragt man nicht über ihre Familienverhältnisse und intimen Angelegenheiten aus, man fragt nicht nach Alter und Stand. Und unüberlegte allgemeine Redewendungen sind auch – wir haben darüber schon gesprochen – gefährlich. So sagt man zum Beispiel nicht in Damengesellschaft: »Ach – die ist doch nicht mehr jung, die ist doch mindestens vierzig.« Es könnten sich die Fünfzigjährigen dadurch gekränkt fühlen. Oder: »Für Dicke (oder Dünne) habe ich nichts übrig.« Oder: »Blondinen (Brünette) sind nicht mein Geschmack.« Eine oder die andere anwesende Dame fühlt sich vielleicht dadurch verletzt.[85]

Befindet man sich in größerer Gesellschaft, so darf man sich nicht mit einem Partner allein unterhalten oder von Dingen sprechen, die nur einer kennt, so daß die anderen von der Teilnahme an der Unterhaltung ausgeschlossen sind. Ist man aber aus irgendwelchen Gründen genötigt, von Dingen zu sprechen, die dem großen Teil der Gesellschaft fremd sind, so gehört es sich, daß man mit einigen Worten den anderen das Verständnis ermöglicht. Man darf auch nicht ausschließlich in Ausdrücken reden, die nicht allgemein verständlich sind, ob es sich nun um sportliche oder etwa wissenschaftliche Fachausdrücke handelt. Auch die bewußte Ausdrucksweise in Fremdwörtern, die nur ein schlechter Ersatz für den deutschen Ausdruck sind, ist ungehörig. Bei heikligen Themen, wenn sie überhaupt in Gesellschaft besprochen werden, tun Frauen und Mädchen gut, allzu große Deutlichkeit zu vermeiden. Dinge, die »sich nicht gehören«, wird man ja überhaupt nicht besprechen, aber wir sind heute nicht mehr zimperlich, und es gibt auch heikliche Themen von allgemeinem Interesse. Und da sind die Frauen für das »Wie« verantwortlich. Auf den Mann wirkt es – und je männlicher er ist, um so mehr – beschämend, wenn eine Frau solche Fragen mit erbarmungslosen, nackten Worten bespricht.

Wenn jemand schon gar nichts zum Gespräch beitragen kann, so soll er wenigstens auf Fragen höfliche Antwort geben. Nichts schafft so eisige Atmosphäre als irgendein steifer Geselle, dem man die Worte mit einem Schürhaken aus dem Halse ziehen muß. Jeder kann um ein paar Worte mehr sagen als bitte und danke oder ja und nein.

»Ich habe gehört, Sie haben eine große Tour gemacht, Herr Müller?«

»Ja.«

»Wohin fuhren Sie?«[86]

»Nach Rom.«

»Hatten Sie gutes Wetter?«

»Nein.«

Warum nimmt Herr Müller nicht die Gelegenheit wahr, um von seiner Reise zu erzählen? Warum sagt er nicht, daß er, weil es immer regnete, naß wurde wie ein Wassermann, daß er jämmerlich gefroren hat und dann wieder in der Hitze halb gebraten wurde? Der persönliche Ton, in dem man die Antwort bringt, erzeugt Wärme, und dann ergeben sich von selbst weitere Fragen, mit der Zeit sogar ein eifriges Gespräch, wenn der andere nicht immer bloß mit ja und nein und bitte – danke antwortet.

Heutzutage geschieht so viel in der Welt, daß man für jeden etwas Interessantes finden kann; nach einigen tastenden Fragen kriegt man wohl heraus, wo die Stärke des andern liegt. So mancher muß dabei seine Sprechfaulheit erst überwinden, aber man darf eben nicht nur der Nachbarin die Mühe der Unterhaltung überlassen.

Kein gut erzogener Mann beginnt die Unterhaltung etwa mit den Worten: »Erzählen Sie mir was, Fräulein! Gibt's etwas Neues?« Anhaltspunkte hat man genug an den Tagesereignissen, Theatern, Ausflügen, Ferienreisen und ähnlichen mehr. Und den Frauen fällt es meist leichter, aus dem andern herauszuholen, was er selbst nicht den Mut hat zum besten zu geben. Ihr Fragen und Zuhören wird dem schüchternen Mann Selbstvertrauen geben, und – für jeden Mann ist die Frau die geistreichste, in deren Gegenwart er selbst geistreich und gesprächig werden kann. Es ist nicht guter Ton, von sich selbst zu reden oder gar zu renommieren. Es ist auch nicht höflich, über den Kopf anderer hinweg mit jemandem zu reden. Das Tuscheln ist eine Unart und in Gesellschaft dem andern ins[87] Ohr zu flüstern ebenfalls. Hat man Geheimnisse aufzuwarten, so tut man es unter vier Augen. Daß das Anschreien immer eine Ungezogenheit ist, braucht man wohl nicht erst zu sagen.

Viele Menschen, insbesondere manche Frauen, pflegen ihre Stimme zu wenig. Einen gewissen Wohlklang kann jede Stimme erreichen, mindestens aber kann man Fehler ablegen, die der Nächste unangenehm empfindet. Die schönste Frau, und wäre sie die Venus von Milo selber, wird ihre Verehrer in die Flucht schlagen, wenn sie sie mit kreischender Stimme empfängt. Spricht man scharf, hart oder liegt die Stimme zu hoch, so bekommt sie etwas Aggressives, das tonlose und farblose Reden schläfert wieder durch seine Eintönigkeit ein. Am schrecklichsten vielleicht sind weinerliche Stimmen, die immer den Tränen nahe sind.

Man kann natürlich nicht über seine Mittel hinaus, und wer eine Flöte bekommen hat, kann darauf nicht Cello spielen. Man soll sich aber bemühen, auf seinem Instrument gute Musik zu machen, und jede Frauenstimme kann Musik werden. Den Nerven der Männer wäre es Wohltat, hörten sie daheim immer nur wohlklingende Stimmen!

Nun – Unmögliches wird nicht verlangt, aber wohl das dringend Notwendige. Kein Näseln als Vortäuschen nonchalanter Vornehmheit, kein brüskes Anschnauzen anstatt freundlicher Anrede, kein Knödeln, Gurren oder Lispeln. Das, was man sagen will, drückt man klar und schön aus; man bedenke, daß unsere Vorfahren Jahrtausende an unserer herrlichen Sprache gearbeitet haben, um sie zu dem edlen Instrument zu machen, das sie geworden ist. Sprachpflege gehört zur Kultur der Persönlichkeit. Die Sprache ist das unsterbliche Gut eines Volkes, und ohne Übertreibung darf man sagen, die Pflege der Sprache ist nationale Pflicht.[88]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 82-89.
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