[63] Es ist eine Schwäche der Menschen, mit der wir rechnen müssen, daß das Äußere unseres Nächsten, seine Art, sich zu geben, sofort für oder gegen ihn einnimmt. Von zwei gleichbegabten Anwärtern wird der, der aufzutreten weiß, die bessere Aussicht auf Anstellung haben, auch wenn er weniger Praxis hat als der andere. Alle großen Menschen sind von Natur aus im Vorteil, sie imponieren leichter, ihr Körpergewicht fällt anscheinend zu ihren Gunsten in die Waagschale. Sie sprechen von einem höheren Standpunkt aus und finden leichter Gehör. Aber es gibt Gefahren, denen sie leichter ausgesetzt sind: das Stolpern über die eigenen Beine, ihre Hilflosigkeit, allzu lange Arme, die leicht alles raffen, was ihnen in den Weg kommt, die Tücke aller leichten und seinen Objekte, die Gefahr der Lächerlichkeit.
Der kleinere Mensch hat die größere Leichtigkeit für sich, die Geschicklichkeit und Lebendigkeit.
Wenn auch das Turnen oder die soldatische Erziehung beiden helfen, das Höchste aus sich herauszuholen, so bleiben doch immer Unterschiede, und derer muß man sich bewußt werden, um sein Auftreten mit seinem Ich in Übereinstimmung zu bringen.
Besonders den Frauen ist die Erkenntnis ihrer Möglichkeiten oder ihrer körperlichen Unzulänglichkeiten sehr notwendig. Gehört eine Frau zum Typus Matrone, so darf sie, und sei sie noch so jung, nicht nach Niedlichkeit streben und sich mit Bändern, Maschen und Rüschen schmücken und das »süße Mädchen«[63] mimen wollen. Ruhe, Weichheit und würdige Anmut werden eine solche Frau, ein solches Mädchen zu einer vollendet vornehmen Erscheinung formen.
Ein herziges, quicklebendiges Persönchen wiederum soll sich ja nicht in Starallüren gefallen, und die herbe, tüchtige Frau sich nicht bemühen, wie eine mondäne Dame zu wirken. Jede von ihnen kann in ihrem eigenen Stil die vollendete äußere Form erreichen durch die Gepflegtheit ihrer Erscheinung, besonders aber durch Takt, Liebenswürdigkeit und Selbstbeherrschung. Die Gemütlichkeit der Matrone wird dann zu natürlicher Würde, die Lebendigkeit zu anmutiger Beschwingtheit gedämpft, die Schwere gelockert und der Anpassungswille zu lächelndem Ernst. Der gute Ton fällt der Frau überhaupt leichter als dem Manne, ihr Instinkt spürt das Rechte und faßt eine Situation rasch auf, paßt sich besser an. Sie kann nachgeben, ohne ihrem Stolz zu schaden, was der Mann nicht immer darf, sie kann mit Liebenswürdigkeit werben, wo der Mann fordern muß.
Dieses Fordern ist nicht immer leicht, denn er darf nie zudringlich erscheinen. Es gibt Menschen, die, um zu imponieren, die ganze Luft für sich zu beanspruchen scheinen. Ihre Stimme erfüllt den Raum, jedes Wort ist ein Befehl an den Zuhörer, sie sitzen breitspurig da, niemand kann vorbei, so wie niemand sie überhören und übersehen kann. »Da bin Ich!« (Donnerwetter noch einmal, bin ich ein flotter Junge!)
Andere aber, die können vor lauter Vornehmheit nicht Muh sagen, sitzen steif wie die Stöcke am Rande der Stühle, tragen eine starre Maske zur Schau und meiden ängstlich jedes Wort und jede Geste, die auf ihr Leben schließen lassen könnte. Man sieht ihnen die Angst an, es könnte ihre gute Erziehung einen Augenblick lang übersehen werden.
Wieder andere biedern sich bei der ersten Begegnung an,[64] fassen die Leute unterm Arm, auch Damen, tätscheln ihnen die Hand, klopfen ihnen auf die Schulter, lächeln einladend im Kreise herum, teilen ihre Eindrücke und ihre Familienverhältnisse jedem mit, der sie hören will. Sie können sehr gutmütige Menschen sein, und weil man dann das Herz nicht aufbringt, sie abzuschütteln, so fragt man sich, wenn man sie von weitem sieht: »Wie krieg' ich sie nur auf gute Art los?«
Solche Menschen haben keine Anstandsformen. Jedes Auftreten, das das liebe »Ich« unterstreicht und das »Du« an die Wand drückt, ist Protzentum. Man kann auch mit Gutmütigkeit protzen. Männer, die wirklich Kraft und Willen haben, brauchen es nicht durch Stimmaufwand und aufreizende Haltung zu beweisen. Dem Soldaten fällt es nicht ein, mit dem Säbel zu rasseln, um seinen Wehrgeist zu bezeigen, und eine wirkliche Individualität überzeugt auch ohne Großmauligkeit und großspuriges Auftreten. Das gleiche gilt für den innerlich Vornehmen. Auch der braucht keine Steifheit, um seinen Adel zu beweisen. Gerade, aufrecht und natürlich muß der Mensch sich geben, immer bereit zu Rücksicht und Entgegenkommen. Will man das richtige Auftreten haben, so muß man lernen, sich selbst richtig zu sehen und dem gegebenen Rahmen und der Gelegenheit anzupassen. In einer Kaserne tritt man anders auf als in einer Kirche, auf dem Tanzparkett anders als bei einem Begräbnis. Es gibt Augenblicke, da unser ganzes Wesen auf gedämpfte Zurückhaltung eingestellt sein muß, andere wieder, da es voll gespanntester Energie ist.
Die erste Voraussetzung eines sicheren Auftretens ist das Bewußtsein, vom Kopf bis zum Fuß gepflegt und sauber zu sein, der Mann tadellos rasiert, die Frau geschmackvoll frisiert. Der Mensch muß nach Reinlichkeit duften, doch soll man trotzdem keine stark riechenden Seifen, Parfums oder Puder verwenden.[65] Ganz besonders muß man sich hüten, verschiedene Düfte zusammenzumischen. Eine Sinfonie von Seife, Puder, Haarwasser und Kölnischwasser wirkt nicht immer verläßlich angenehm. Nichts ist aber einzuwenden gegen einen sparsamen Gebrauch eines guten Kölnischwassers oder eines diskreten Parfüms, das natürlich mehr erraten als gerochen werden muß.
Auch dem Herrn ist – als Belohnung für braves Rasieren – ein herber, sehr zurückhaltender Wohlgeruch gestattet. Schweres, süßes Parfum ist jungen Mädchen nicht einmal als Hauch gestattet. Moschus, Rosenöl, Chypre sind nichts für sie, wohl aber Veilchen, Flieder, Lavendel; Blumendüfte also, die am besten zu ihrer Lebendigkeit und Helligkeit passen.
Wenn wir schon mit guten Gerüchen sparsam sein müssen, so müssen wir uns vor schlechten Gerüchen hüten wie vor Gift. Wir brauchen alle irgendeinmal Benzin zum Fleckputzen, Kampfer gegen die Motten, wir essen mit Vergnügen gelegentlich einen Hering oder schneiden Zwiebel in der Küche – aber dann sofort die Kleider lüften, Zähne putzen, und wenn das nicht gleich hilft, darauf verzichten, in Gesellschaft zu gehen.
Nicht minder wichtig für unsere gesellschaftliche Geltung ist unsere[66]