[99] Die Dame rechts, links der Herr und der bei der Türe immer schön voraus ..., wissen wir schon. Wirklich? Es ist doch gar nicht immer so! Man muß die Dame gar nicht immer rechts gehen lassen, vielmehr nur dort, wo ihr keine Gefahr droht und keine Unbequemlichkeit. Auf schmalem Gehsteig geht der Herr auf der Straßenseite, damit die Begleiterin nicht bei jeder Begegnung herabsteigen muß. Im Ausland ist die Häuserfront grundsätzlich die bessere Seite, ob der Gehsteig nun breit ist oder schmal. In öffentlichen Lokalen, Gast- und Kaffeehäusern geht der Herr voran, um den Weg zu bahnen, den Platz zu wählen und der Frau als Schutz und Schirm zu dienen. Vorauszugehen hat er überhaupt überall, wo man auf Hindernisse oder Gefahren treffen kann, zum Beispiel also bei Straßenaufläufen, denen man nicht mehr auszuweichen vermag, auf Rennplätzen, öffentlichen Veranstaltungen und ähnlichen Anlässen. Auf Treppen steigt der Mann voraus. Diese Sitte stammt aus vergangenen Tagen, als den Damen verboten war, ihre Dessous sehen zu lassen.
Ehe der Herr im Café oder Restaurant den Tisch wählt, holt er sich mit einem Blick das Einverständnis der Dame. Er gibt auch die Bestellung auf, nachdem die Dame gewählt hat. Das Zahlen ist selbstverständlich männliches Handwerk, auch wenn man getrennte Rechnung führt. Es gilt heute nicht mehr als ungehörig, daß die Dame für ihren Konsum selbst aufkommt, besser ist es aber auch in diesem Fall, daß der Herr den Kellner bezahlt und mit der Dame später abrechnet. Gewiß ist das nur eine Geste, aber sie gestattet der Frau eine[99] gewisse Zurückhaltung in der Öffentlichkeit. Diese Zurückhaltung ist auch sonst die erste Pflicht der Dame, die in die Öffentlichkeit tritt. Ein lärmendes Betragen, Krakeel mit dem Personal, Kokettieren mit der Umgebung ist ein Zeichen schlechtester Erziehung, und kein wirklicher Gentleman geht mit solcher »Dame« ein zweitesmal aus. Noch schlimmer ist die Sache, wenn ein allzu intimes oder schroffes Betragen die Aufmerksamkeit anderer erweckt. Die Öffentlichkeit verlangt eben noch viel mehr Korrektheit im Betragen als das Daheim. Mancher Ehegatte oder Bruder begrüßt seine heimkehrende Gattin oder Schwester ohne sich zu erheben und ist doch ein liebenswürdiger und liebenswerter Mensch. Täte er das in einem öffentlichen Lokal, so degradierte er sie in der Achtung der andern. Eine Frau, die man in der Öffentlichkeit übersieht oder unfreundlich behandelt, verzeiht das nie, und sie hat sehr recht, denn sie hat, wie der Japaner sagt, »ihr Gesicht verloren«. Sie ist dann eben jemand, mit dem man keine Geschichten zu machen braucht, tut's doch der eigene Mann auch nicht. Wer seiner rechtmäßigen Frau in der Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit widmet als etwa seinem »Schwarm«, ist ein Flegel, der bald erleben wird, daß man ihn selbst auch entsprechend einschätzt.
Ganz unmöglich ist es, dem andern in der Öffentlichkeit Szenen zu machen oder Ausstellungen. Hat man wirklich etwas zu bemerken, so sagt man es leise und unauffällig. Den kultivierten Menschen erkennt man an seiner Ruhe, insbesondere auf Reisen. Auf dem Bahnsteig, beim Einsteigen, wie überhaupt auf kleiner oder großer Reise, bei der man längere Zeit auf engem Raum mit seinen Nachbarn auskommen muß, offenbart sich übrigens besonders der Charakter unserer Volksgenossen. Ich habe schon Familien in den Zug einsteigen sehen, vornehm gekleidete Menschen, die einen derartig höllischen[100] Spektakel aufführten, daß der ganze Wagen unruhig und alle aufmerksam wurden. Da hat unser Sprichwort »Nur die Ruhe kann es machen« wirklich erhöhte Bedeutung. Wer von uns kennt nicht den armen Teufel, der immer glaubt, der Gepäcksträger habe ihn verloren, der Koffer sei vertauscht worden, der Hausknecht des Hotels werde mit dem Gepäck zu spät auf die Bahn kommen, er habe den Fahrschein verloren und die Mitreisenden seien lauter Flegel?
Man schreit den Träger nicht an, man pufft den Vordermann nicht in die Weichen, beim Einsteigen läßt man Kindern und Frauen den Vortritt, im Abteil fragt man höflich, ob noch ein Platz frei ist, fremdes Gepäck greift man nicht selbst an, sondern ersucht den Eigentümer, es wegzurücken, damit noch Platz fürs eigene wird. Wer schon sitzt und gefragt wird, ob noch Plätze frei sind, soll die Wahrheit sagen. Es ist sehr unfair, zu behaupten, es sei alles besetzt, wenn man es anders weiß. Reichen die Plätze tatsächlich nicht für alle Reisenden, so gebühren die Sitzplätze zuerst den Damen. Nur kranke und sehr alte Herren dürfen Sitzplätze auch dann beanspruchen, wenn noch Damen stehen müssen. Man hat oft darüber gestritten, ob in unserer modernen Welt, in der die Frau alle Rechte des Mannes auch für sich in Anspruch nimmt, solche Ritterlichkeit noch Sinn habe. Aber ich glaube: Heute mehr als je. Es ist verkehrt, zu denken: Die Frau, die dasselbe leistet wie ich, braucht keine Rücksicht. Wahrhaftig, die schaffende, opfernde, arbeitende Frau hat, glaube ich, mehr Anspruch auf Ritterlichkeit und Rücksicht als ihre Vorläuferin, das verwöhnte nichtstuende Dämchen. Diese mutige Kämpferin und Kameradin des Mannes ist ebenso Mutter, wie es die Frauen der früheren Zeiten waren, sie ist es noch bewußter und hat daher doppelten Anspruch auf Achtung und Schonung seitens des Mannes. Man verlangt natürlich[101] nicht, daß ein Mann, der von schwerer Arbeit heimkehrt, seinen Platz einem Mädchen abtritt, das vom Tennisplatz kommt, aber wir haben von der Frau gesprochen und von der Mutter, nicht vom Backfisch. Das ist ein entzückendes Geschöpf, gewiß, aber weder Dame noch Frau, wenn auch viele Herren der Schöpfung besonders in der Straßenbahn dieser Ansicht zuneigen. Da machen die ältesten Grauköpfe lächelnd der Jugend Platz – dafür aber bleiben gar manche Jünglinge sitzen, wenn auch ältere Damen stehen müssen. Vielleicht aber sind die Frauen selbst zum Teil schuld daran? Nicht wenige von ihnen lassen ihre Sprößlinge sich auf der Bank breitmachen, trotz Platzmangels, und diese kleinen Egoisten werden später zu den großen. Darum sollte jede Mutter ihr Kind, sobald es überhaupt begreift, dazu anhalten, den Großen Platz zu machen. Einerseits macht's einem solchen Bengel selbst Spaß, in der sausenden Straßenbahn auf eigenen Beinen zu stehen wie die Großen, und anderseits lernt er dabei Rücksicht üben.
Frauen, die ein Kind auf dem Arm oder unter dem Herzen tragen, haben selbstverständlichen Anspruch darauf, daß man ihnen Platz macht, auch gegenüber älteren Geschlechtsgenossinnen. Trotzdem muß man es leider auch noch ausdrücklich sagen.
Kleinere Rücksichtslosigkeiten – vielleicht sind es oft nur Gedankenlosigkeiten? – kann man täglich erleben. Da wandert einer mit Überschuhen, Mantel und Regenschirm am Häuserrand des Bürgersteiges, um ja möglichst wenig naß zu werden. Ein anderer kommt ihm entgegen, ohne Überschuhe, womöglich mit zerrissenen Sohlen, ohne Mantel, ohne Schirm, aber der Wohlgeschützte weicht nicht einen Schritt zur Seite. Soll der andere naß werden! Von der Straßenbahn steigen die Leute in den Regen herunter und spannen den Schirm auf, ohne sich zu vergewissern, daß sie dem Einsteigenden nicht das Auge ausstoßen.[102] Ein paar Tropfen muß man schon riskieren, wenn man ein wohlerzogener Mensch bleiben will. Und noch etwas: Die Straßenpolizei ist nicht bloße Schikane. Manches, was sie vorschreibt, ist weiter gar nichts als selbstverständliche Rücksicht auf den Nebenmenschen, der ja auch da ist. Auf belebten Straßen und Gehsteigen bleibt man nicht in Rudeln stehen, um einen Plausch zu halten. Erstens ist es verboten (aber gerade darum täte man es ja recht gerne) und zweitens behindert man damit die andern.
Eins freilich schreibt die Straßenpolizei nicht vor, sondern überläßt es der guten Erziehung: Wer Platz zu machen hat. Es sollte nicht nötig sein, zu sagen, daß es immer der Mann ist, der vom Gehsteig auf die Straße heruntertritt, wenn's nötig ist, daß er bei Begegnungen zur Seite weicht, aber man erlebt es alle Tage, daß diese in der Theorie wohlbekannten Grundsätze in der Praxis vergessen werden. Den Damen wieder wäre zu empfehlen, ihre Hundelieblinge an möglichst kurzer Leine zu führen, denn wenn man in der Begegnung drüberstolpert, ist das für keinen angenehm, auch nicht für den Hund.
Bei uns zu Lande ist es üblich, daß der Herr die Dame grüßt, doch gibt es einige Ausnahmen von dieser Regel. Ich halte es für eine Sache der Disziplin, daß Schülerinnen ihren Lehrer zuerst grüßen, und finde es durchaus in der Ordnung, daß jüngere Angestellte und Beamtinnen älteren Vorgesetzten mit dem Gruß zuvorkommen.
Grüßt ein Herr eine Dame, so grüßen alle in seiner Gesellschaft befindlichen Herren mit. So ist es Gewohnheit in deutschen Landen. Anderswo tut man es nicht. Gilt der Gruß nur einem einzelnen einer ganzen Gruppe, so darf man das doch nicht merken lassen, ohne unhöflich zu werden. Der Gruß hat sich an alle zu richten, aber nichts verbietet uns, den einen oder[103] die eine, der es besonders gilt, durch ein freundliches Lächeln noch besonders auszuzeichnen.
Niemals darf man eine Dame auf der Straße aufhalten, wenn einen nicht eine besonders nahe Bekanntschaft dazu berechtigt. Und dann hat man zu warten, ob die betreffende Dame durch irgendein Zeichen dazu ermuntert. Auch die Begleitung ist nicht immer erwünscht, und da es der Dame auch Verlegenheiten bereiten kann, eine diesbezügliche Bitte abzuschlagen, so ist es richtiger, zu warten, ob sie selbst einen diesbezüglichen Wunsch ausspricht.
Wie hat man sich zu verhalten, wenn man spät nachts eine bekannte Dame allein auf der Straße trifft? Will man auf keinen Fall einen Verstoß begehen, so hat man sie nicht zu erkennen und nicht zu grüßen. Dann hat man aber auch nicht das Recht, etwa am nächsten Tag zu fragen: »Was haben Sie gestern nachts allein dort zu tun gehabt?« Und schon gar nicht darf man Herrn Müller erzählen, daß man Frau Mayer unlängst um ein Uhr nachts allein in der Mailänderstraße gesehen habe.
Bei Tag dagegen grüßt man eine bekannte Dame auch dann, wenn sie sich in Begleitung eines fremden Herrn befindet, wo immer man sie trifft. In diesem Falle wäre Diskretion geradezu beleidigend. Die wahre Diskretion ist eben die Harmlosigkeit unseres Tuns, und das ist eine Angelegenheit des Herzenstaktes. Man verdächtigt niemanden auf den bloßen Schein hin. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Ein Herr betritt die Halle eines Hotels und sieht dort eine ihm bekannte Dame mit einem ihm unbekannten Herrn sitzen. Trotzdem er ihr ins Gesicht sieht, tut er, als ob er sie nicht kennte. Ist es nicht beleidigend, dieses: »Merken Sie nicht, daß ich nichts bemerken will?«[104]
Und dabei war wirklich nichts zu bemerken, weil es sich um ein harmloses Zusammentreffen handelte. Das Betragen des »diskreten« Herrn aber macht aus einer Harmlosigkeit einen vermuteten Ehebruch. Das ist natürlich falsche Diskretion. Es gibt sicherlich Fälle, in denen wir nichts zu sehen haben, aber dann haben wir eben nichts gesehen und dürfen dem andern nicht unter die Nase reiben, daß wir nur so tun, als ob ...
Gut erzogene Menschen benehmen sich in der Öffentlichkeit zurückhaltend und geräuschlos. In der Oper, im Konzert, beim Anhören eines Redners raschelt man nicht mit Papier, mögen das nun Bonbontüten oder Textbücher sein, Husten und Räuspern unterdrückt man, und ist man so verkühlt, daß es bei bestem Willen nicht geht, dann bleibt man eben zu Haus. Kranke Leute gehören ins Bett und nicht in die Öffentlichkeit. Es ist nicht angenehm, so einen Huster als Nachbar zu haben. Und gleich hier sei mir erlaubt zu bemerken: Es ist auch nicht angenehm, wenn sich der seitliche Nachbar oder mein Hintermann auf meine Sessellehne stützt.
Lautes Schimpfen, Kritisieren, Zwischenrufen, Zischen gehört nicht ins Theater; es ist ein Zeichen schlechter Erziehung und wird besser unterlassen. Ist man mit dem Gebotenen nicht einverstanden, so merkt das der Darbietende auch, wenn man ihm den sonst üblichen Applaus vorenthält. Ein wirksamer Protest liegt sicher auch darin, daß man in einer Pause vor Schluß der Produktion das Haus verläßt.
Die Spiegel sind, seit es welche gibt, immer das besondere Gebiet der Frau gewesen. Deshalb wirkt es etwas komisch, wenn ein Herr der Schöpfung breit vor dem Spiegel aufgepflanzt sorgfältig den Sitz seiner Krawatte prüft, während seitlich hinter ihm ein Mädchen noch versucht, so gut es geht, einen Blick auf sich zu erhaschen.[105]
Wenn man eine Türe durchschreitet, übergibt man sie offen dem Hintermann – wenn sie nicht ohnehin eingehakt ist.
In der Garderobe wird man nicht zum Boxkämpfer (siehe das Kapitel Publikum), und um den andern aus dem Weg zu kommen, zieht man sich mit seiner Last an Mänteln, Hüten, Überschuhen usw. sofort von der Ausgabe in eine ungestörte Ecke zurück, in der man nicht Gefahr läuft, dem Nachbarn Ellbogen und Beine in den Bauch zu rennen.
Überhaupt gibt es viele Kleinigkeiten, die an sich harmlos sein mögen, aber in der Öffentlichkeit stören. Wer hat sich noch nie darüber geärgert, daß irgendein Lümmel auch im größten Gedränge seine Zigarette nicht aus dem Munde tut oder ungeniert im weiten Bogen ausspuckt, womöglich an unserer Nase vorbei?
Spucken ist überhaupt nicht fein, bei Damen nicht und auch nicht bei Herren.
Eine uns fremde oder gar körperlich mißgestaltete Erscheinung laut zu bestaunen, zu begaffen oder zu besprechen, ist auch täppisch, ja unter Umständen kulturlos und unmenschlich.
Erst wenn man überzeugt ist, es mit einem gefährlichen Narren zu tun zu haben, kann man die Polizei oder den Rettungswagen rufen, sonst zuckt man als Mensch mit Erziehung auch vor den sonderbarsten Erscheinungen nicht mit der Wimper.
Wenn es dagegen heißt, zu helfen, dann ist man sofort zur Stelle und wartet nicht, ob einer, der ausgerutscht ist, etwa auch allein auf die Beine kommt. Eine Selbstverständlichkeit für jedermann muß es sein, Kindern und alten Leuten unaufgefordert beizuspringen.[106]
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Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
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