Wir machen Besuch

[89] Die Zeiten des Etikettebesuches sind, Gott sei Dank, vorbei. Man hat für solche gesellschaftliche Phrasen allgemein keine Zeit mehr. Dennoch verpflichten uns Freundschaft, Dankbarkeit, Entgegenkommen, Aufmerksamkeit und Achtung oft genug zum Besuchemachen.

Wann machen wir Besuch bei Fremden? In der Regel dann, wenn man von einem Familienmitglied, das man auf Reisen, Bällen oder anderswo kennenlernte, eingeladen wird. Der Umstand, daß man ein paar Stunden auf der Eisenbahn, im Autobus, in einem Bad oder sonstwo angenehm verplaudert hat, gibt noch kein Recht, in die häusliche Intimität eines andern einzudringen. Da muß man schon warten, bis es heißt: »Machen Sie uns doch einmal das Vergnügen!«

Kommt ein Beamter neu in einen kleinen Ort, in dem man aufeinander angewiesen ist, so macht er wohl seinem Vorgesetzten und seinen Kollegen Besuch. In der Großstadt ist das nicht üblich. Wer aber, sagen wir, beruflich mit jemandem in Korrespondenz steht, wird wohl, wenn er in dessen Wohnort kommt, nicht versäumen, bei ihm vorzusprechen.

Hat man Dienste oder Aufmerksamkeiten empfangen oder will man um etwas bitten, so verpflichtet das zu persönlicher Vorsprache.

Solche Besuche dauern nicht länger als eine Viertelstunde.

Wer in Geschäften besucht, bleibe dabei. Es tut nicht gut, Geschäftliches und Privatsachen durcheinanderzumengen. Freundschaftliche Besuche wieder sollen peinlich vom Geschäftlichen[89] rein bleiben. Man muß nicht immer profitieren wollen. Junge Brautpaare besuchen alle Freunde und Verwandten beider Familien. Ist man irgendwo zum erstenmal zum Tee oder zum Abendessen geladen, so pflegt man vorher eine Anstandsvisite zu machen. Aber es genügt auch – ist man sehr beschäftigt –, schriftlich für die Einladung zu danken und sein Erscheinen zuzusagen, da sehr wenige Menschen heute in der Lage sind, frei über ihre Zeit zu verfügen.

Besuche von Ehepaaren werden von Ehepaaren erwidert, Damenbesuche nur von der Dame. Heute muß man nicht unbedingt jeden Besuch erwidern. Unter alten Freunden versteht es sich von selbst, daß man über die Besuchsstunden und -minuten nicht Buch führt. Dagegen wird man, wenn man für längere Zeit verreist oder nach langer Abwesenheit heimkehrt und vor großen Feiertagen seine Freunde nicht vergessen. Nur ist das nicht Gesellschaftspflicht, sondern Herzenssache.

Wann machen wir Besuche? Hat jemand seine Gesellschaftstage, dann natürlich an diesen Tagen. An hohen Feiertagen nur dann, wenn man sehr intim oder eingeladen ist. Im allgemeinen gilt die Zeit zwischen halb zwölf und zwölf Uhr mittags als Besuchsstunde, doch sei ehrlich eingestanden, daß diese Zeit den meisten Hausfrauen sehr kostbar ist und daß Besuche zu dieser Stunde nicht selten störend wirken. Die Zeit nach fünf Uhr nachmittags fände ich viel passender und sie bürgert sich auch langsam schon ein.

Hat uns auf unsere Frage der dienstbare Geist mitgeteilt, daß die Hausfrau oder der Hausherr daheim und bereit sind, uns zu empfangen, so lassen wir uns mit der Besuchskarte oder auch bloß mit Namensnennung anmelden, legen Überrock und Hut ab (die Damen natürlich nicht) und treten ein. Befinden[90] sich Fremde im Zimmer, so stellen wir uns vor, wenn weder die Hausfrau noch der Hausherr anwesend ist.

Bei einem ersten Besuch Geschenke oder Blumen mitzubringen, ist nicht guter Ton, auch wenn man sein Herz an die Haustochter verloren haben sollte. Länger als eine gute Viertelstunde bleibt man bei seinem ersten Besuch nicht.

Ich muß nicht erst sagen, daß ein wohlerzogener Mensch bei seinem Besuch nicht neugierig um sich schaut. Allerdings soll man auch wieder nicht aus lauter Vornehmheit selbst Dinge ignorieren, auf die man aufmerksam gemacht wird. Man wird also den ausgebreiteten Perserteppich ruhig übersehen dürfen, während man, ohne einen Fehler zu begehen, von einem blühenden Kaktus entzückt sein darf. Zeigt die Hausfrau bei näherer Bekanntschaft Stücke des Hausschatzes, Bilder, alte Schmuckstücke, so ist es schon allein ein Gebot der Liebenswürdigkeit, Interesse dafür zu zeigen. Es gibt Leute, die glauben, ungemein gescheit und vornehm zu wirken, weil sie sich nicht imponieren lassen. Sie bewundern nie aus vollem Herzen. Sie sind weit dümmer als jene, die aus Gutherzigkeit alles bewundern. Man kann und soll ruhig loben, was man ehrlich schätzt. Fühlt man sich aber einer Sache nicht gewachsen, dann darf man ebenso ruhig erklären, daß man nichts davon versteht. Und trifft man auf Kitsch, der aber dem Eigentümer ans Herz gewachsen zu sein scheint, dann überwindet man sich eben und steht lächelnd daneben. Warum soll man dem Besitzer die Freude verderben? Die wenigstens ist gut und ehrlich. Nur sehr guten Freunden ist vielleicht schonende Kritik gestattet. Oft genug ist es nicht das Ding an sich, an dem der andere hängt, sondern der Erinnerungswert, das seelische Moment. Hier würde Spott oder Kritik nur verletzen.

Spricht bei so einem ersten Besuch die Hausfrau eine Einladung[91] zum Tee oder zum Abendessen für ein andermal aus, so nimmt man selbstverständlich dankend an. Dazu erscheint man nicht im Sportanzug, sondern dunkel gekleidet, doch ist Smoking heute nicht mehr unbedingt vorgeschrieben. Übrigens darf man ruhig fragen, welche Kleidung erwünscht ist. Damen erscheinen in einem dunklen, längeren Kleid, ausgesprochene Abendkleidung trägt man bei intimen Zusammenkünften nicht.

Bei dieser Gelegenheit ist es erlaubt, der Hausfrau ein paar Blumen zu bringen, doch keineswegs einen kostbaren Strauß, der wie eine Revanche wirken würde. Eine einzige, besonders schöne Rose genügt auch schon. Das Papier hat man natürlich schon vor dem Betreten des Zimmers der Blume abgenommen. Man wartet, bis die Hausfrau Platz genommen hat, ehe man sich zu Tische setzt. Wie man sich bei Tisch benimmt, ist heute nicht mehr nötig zu sagen. Kein Mensch steckt mehr sein Mundtuch in die Weste oder bindet sich's gar um den Hals. Jeder weiß richtig mit dem Besteck umzugehen. Barbaren, die das Fleisch auf Vorrat in Stücke schneiden und dann die Gabel in die Rechte nehmen, um Stück für Stück aufzuspießen und in den Mund zu schieben, gibt's wohl heute kaum mehr. Es wird auch nicht vorkommen, daß einer auf seine Gabel lädt, was nur hinausgehen will, um sie dann wie eine Heufuhr zum Mund hineinzuschieben. Wohl aber macht sich mancher bei Tisch noch zu breit, nicht alle haben es gelernt, Messer und Gabel zu bedienen und dabei die Arme nahe dem Körper zu halten. Und viele können noch immer nicht die Suppe, den Kaffee, den Tee oder den Wein geräuschlos trinken. Das Schlürfen ist, unter uns gesagt, eine abscheuliche Sache.

Übrigens – Kaffee und Tee löffelt man nicht, man trinkt aus der Schale. Nur die Schlagsahne, die in Österreich gerne zum Kaffee gereicht wird, darf man – ja muß man mit dem[92] Löffel abessen. Mit Messer und Gabel spielt man nicht, man fuchtelt beim Sprechen nicht damit herum.

Fische, Kartoffeln und Klöße (Knödel) teilt man nicht mit dem Messer. Übrigens hat man für Fische eigene Bestecke. Und seit es Bestecke aus Chromstahl gibt, fiele eigentlich der Grund, das Messer nicht zu verwenden, hinweg.

Das Obst zerteilt man zuerst und schält sich dann das Viertel, das man verzehren will. Auf Vorrat braucht man nicht zu schälen. Salat wird schon beim Anrichten so vorbereitet, daß ein Zerschneiden mit dem Messer überflüssig wird. Kommt doch einmal ein zu großes Blatt vor, so rollt man es um die Gabel.

Ein wohlerzogener Mensch nimmt Hühnerknochen nicht in die Hand, um sie abzunagen. So probat diese Methode ist und so gut es schmeckt, so ist eine derart primitive Eßkunst doch höchstens bei Picknicks im Freien gestattet.

Auch den Spargel ißt man bei Tisch mit Messer und Gabel. Damit der Gast aber nicht zu kurz kommt, muß die Köchin dafür sorgen, daß er von allen holzigen Teilen sorgfältig befreit ist. Bratensaft darf, obwohl gerade das besonders gut schmeckt, nicht mit Brot aufgetunkt werden. Daher ist zum Beispiel Gulasch mehr eine Angelegenheit der intimen Häuslichkeit. Krebse sind eine etwas schwierige Sache, zu deren Bewältigung die Finger unentbehrlich sind.

Den Wein schenkt in der Regel der Hausherr ein. Zuerst ein paar Tropfen ins eigene Glas, dann den Gästen, zum Schluß sich selbst. Gibt es Sekt, so läßt man den Pfropfen nicht knallen.

Ungezogen ist es, auf dem Teller oder im Glas Reste zurückzulassen. Man soll nicht mehr herausnehmen, als man zu essen gedenkt. Und als unhöflich wird es empfunden, wenn[93] der Gast angebotene Speisen ablehnt. Eine Kleinigkeit davon kann man immer nehmen, auch wenn es nicht gerade das Lieblingsgericht wäre. Unerträglich ist der Prinzipienreiter bei Tisch, etwa der Gast, der um keinen Preis einen Tropfen Wein zu sich nimmt und statt dessen einen Vortrag über die Schäden des Alkohols hält. Auch der Vegetarianer soll sich überlegen, ob er lieber einmal in angenehmer Gesellschaft ein Stück guten Braten essen oder daheim Trübsal blasen will. Mir geschah es einmal, daß eines Winterabends spät ausländische Gäste ins Heim schneiten. Schnell ließ ich eine kalte Platte besorgen, Schinken, gefüllte Eier, Sardinen und was man sonst für solche Gelegenheiten hat. Eine pikante Creme krönte das ganze Werk. Als dann stolz serviert wurde, weigerten sich die Gäste, die Wurst, den Schinken, die Sardinen zu essen, sie waren Vegetarianer. Auch die gefüllten Eier gingen gegen ihr Prinzip. Meine Gäste sahen um sich, als könnten sie aus den Mauern Blumenkohl sprießen lassen. Meine letzte Hoffnung war die Creme. Auch meine Gäste sahen ihr lächelnd entgegen, nach dem ersten Löffel aber blickten sie mich strafend an: »Da ist Likör drin? Schade, wir sind Antialkoholiker.«

Schließlich landeten diese angenehmen Mitbürger bei einem Butterbrot. Ich habe sie nie mehr gesehen. Auch wenn man für seine Gesundheit fürchtet, sollte man nicht zuviel Schwierigkeiten machen, ein paar Bissen werden selten schaden. Und vor allem braucht man bei Tisch nicht seine Krankengeschichte zu erzählen. Wer wirklich krank ist und strenge Diät halten muß, darf eben keine Einladung annehmen. Nur wenn man mit der Hausfrau sehr gut befreundet ist, darf man ihr diätetische Winke geben. Aber das muß vorher geschehen, so daß der Gast dann nicht vor dem leeren Teller sitzt und für den Appetit der anderen als lebender Vorwurf wirkt.[94]

Über das Essen soll man nicht reden – aber es freut die Hausfrau doch, wenn man am richtigen Platz mit ein paar freundlichen Worten ihre Mühe lohnt.

In Schweden ist es Sitte, sich für die gute Nahrung zu bedanken. Bei uns tut man das wohl nicht, aber beim Abschiednehmen darf man schon seiner Freude über den schönen Abend Ausdruck geben. Es macht jeder Hausfrau Freude, zu hören, wie gemütlich es wieder bei ihr war. Besonders wenn man die Ehrlichkeit der Meinung aus den Worten hört. Um noch einmal auf die Tafel zurückzukommen: Geraucht wird weder vor der Mahlzeit noch zwischen den Gängen, sondern erst dann, wenn der Hausherr das Zeichen dazu gibt. Und die Asche gehört in den Aschenbecher, weder in die Untertasse noch in die Blumentöpfe. Natürlich bläst man niemandem den Rauch ins Gesicht.

Selbstverständlich hat man die Pflicht, sich um den Nachbarn rechts und links zu kümmern. Daß man im Gespräch alles Peinliche und Unangenehme vermeidet, versteht sich von selbst. Man will doch niemandem die gute Laune oder den Appetit verderben.

Hebt die Hausfrau die Tafel auf, so legt der Gast sein Mundtuch nicht in Falten, aber er knüllt es auch nicht zusammen. Es ist nicht höflich, im Laufe des Abends ohne Abschied zu verschwinden oder die Damen, die einen weiten Heimweg gehen, allein in die Nacht wandern zu lassen. Dazu darf man sich aber nicht etwa nur lauter hübsche, junge Mädchen aussuchen, vielmehr müssen zuerst die älteren Damen versorgt werden. Kommt nur ein Kavalier für zwei Damen in Betracht, so wird die jüngere eben einen kleinen Umweg mit in Kauf nehmen müssen, wenn sie Wert darauf legt, nicht allein zu gehen. Unter ritterlichen Männern kommt es gar nicht[95] vor, daß einer jungen Dame sich zwei oder mehr Begleiter anbieten, während die ältere allein bleibt.

Früher einmal schrieb die Etikette für jede Einladung einen Dankbesuch vor. Heute nimmt man das nicht mehr so streng. Wer verheiratet ist, erläßt eben auch seinerseits gelegentlich eine Einladung, um die Beziehungen weiter zu pflegen, und Junggesellen und Mädchen sind auch dieser Pflicht enthoben. »Pflichtbesuche« sind, wie gesagt, heute nicht mehr Vorschrift. Aber wenn man sich was zu sagen hat, besonders wenn der Freund krank oder gar notleidend ist – dann ist der Besuch Selbstverständlichkeit. Dazu braucht es gar keinen Zwang des »guten Tones«, denn wie sich einer in schweren Tagen zu uns verhält, daran erkennen wir den Freund. Da brauchen wir unseren Gefühlen gar keinen Zwang aufzuerlegen, wir dürfen sie durch Blumen, Leckerbissen, Bücher oder wie es uns sonst beliebt, zum Ausdruck bringen. Sorge soll uns der Kranke nicht anmerken, denn von uns erwartet er Beruhigung, Gedanken an die Besserung und frische Lebenslust, ebensosehr aber auch Mitgefühl, das Verständnis für Kranksein und Schmerzen aufbringt. Der Kranke soll – der Gesunde übrigens auch – nach unserem Besuch erfrischt und erfreut sein.


 »Der Rücksichtsvolle« (S. 97)
»Der Rücksichtsvolle« (S. 97)

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 89-97,99.
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