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[321] An einem Frühlingsnachmittage trat, von ihrer Schwester begleitet, eine junge Sängerin bei mir ein, mit dem Ersuchen, sie anzuhören. Eine Schülerin der Marchesi, sollte sie demnächst in der öffentlichen Prüfungsproduktion des Konservatoriums auftreten. Ich akkompagnierte ihr die Romanze der Mignon aus der Oper von Ambroise Thomas. Mit ineinander gefalteten Händen, das dunkellockige Haupt etwas zurückgelehnt und die blauen Augen gen Himmel gerichtet, sang sie »Kennst du das Land?« Ihre Stimme klang so warm, ihr Vortrag so tief empfunden, zugleich so dramatisch, daß ich, davon sympathisch berührt, ihrem Talente eine schöne Entwicklung prophezeite. Gern folgte ich ihrer Einladung, sie im Kreise ihrer Familie aufzusuchen. Da habe ich denn häufig mit ihr musiziert, insbesondere einige Rollen wie Agathe, Mignon, Margarethe, Amneris ihr am Klavier begleitet. Nicht nur ihr Talent, ihr ganzes Wesen interessierte mich, das, bescheiden, schweigsam, schüchtern, nur im Gesang einen ungeahnten[321] Aufschwung nahm. In der Opernproduktion, welche die öffentliche Schlußfeier des Konservatoriums bildete, sang und spielte sie (im Kostüm und mit Orchesterbegleitung) die Kerkerszene aus Gounods »Faust« mit hinreißender Wärme und Wahrheit. Der erste Preis im dramatischen Gesang wurde ihr einstimmig zuerkannt. Der Ruf von diesem neu aufgetauchten vielversprechenden Talent verbreitete sich bald. Dr. August Förster, im Begriffe, die Direktion des Leipziger Stadttheaters zu übernehmen, kam in Begleitung seines Kapellmeister Josef Sucher zu der jungen Sängerin, hörte sie singen und engagierte sie. Der bereits unterzeichnete Kontrakt ist trotzdem nie in Kraft getreten, und daran war kein anderer schuld als ich. Sophie Wohlmuth, so hieß das Mädchen, wurde meine Frau. Über den Vorwurf, der Bühne ein schönes Talent vorweggenommen zu haben, mußte mich die Überzeugung trösten, daß die zarte Konstitution Sophiens den Anstrengungen der modernen Opernpartien nicht lange standgehalten hätte. Nicht bloß ihre Stimme, auch ihre Psyche war zu fein besaitet für die Wirklichkeit des Bühnenlebens mit seinen häßlichen Intrigen und rohen Berührungen. Sie hatte von der Prosa hinter den Kulissen gerade genug gesehen, um zu fühlen, daß sie dahinein nicht passe. In vielen langen Gesprächen habe ich ihr vorgehalten, daß sie es vielleicht bereuen werde, ihrem Lieblingstraume entsagt zu haben um meinetwillen! Aber sie blieb fest in ihrem Entschluß. Und heute noch, nach neunzehn Jahren, wiederholt sie mir das goldene Wort: »Ich habe es nie bereut!« Ich wäre namenlos unglücklich geworden, hätte sie sich darin getäuscht. War es doch ein großes Wagestück, in meinen Jahren ein junges Mädchen zu heiraten. Aber aus ihrem ganzen Wesen, das so durchaus wahr, ernst und redlich mich anblickte, hatte ich volles Vertrauen geschöpft. Es ist keinen Augenblick getrübt worden. Die Abmahnungen meines stets besorgten Herzensfreundes, Eduard Schön, ließen mich unbewegt. »Du hast wieder einmal mehr Glück als Verstand gehabt!« rief er, als er nach Jahr und Tag uns im glücklichsten Einvernehmen fand. Ich mußte ihm vollkommen Recht geben. Am 29. April 1876 wurden wir in der Karlskirche von dem mir befreundeten Kommandeur des Kreuzherrn-Ordens, Josef Dobner, getraut und unternahmen noch am selben Tag unsere kleine Hochzeitsreise. Sie erfüllte Sophiens sehnlichsten Wunsch: das Meer zu sehen, Venedig zu sehen.[322]

Meine Frau hat der Bühne, aber nicht der Kunst entsagt. Ihr Vortrag deutscher und italienischer Lieder, von Wärme der Empfindung wie des Klanges durchströmt, erfreut noch heute den Kreis unserer Freunde. In die Öffentlichkeit ist sie nur noch inkognito getreten, um meine Vorlesungen in Pest, Prag und Graz durch den Vortrag einiger, den Gegenstand illustrierender Gesangstücke zu unterstützen. Der frühverstorbene geistvolle Kunsthistoriker Professor Alfred Woltmann in Prag hat damals in einem Toast den Gedanken schön ausgeführt, daß die selbstlose Unterordnung einer Künstlerin unter einen wissenschaftlichen Zweck uns doppelt schön und herzlich anmute, wenn sie zugleich als ein Liebesbeweis der Frau für ihren Mann erscheint.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 321-323.
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