[8] Wir waren fünf Geschwister; drei Brüder und zwei Schwestern. Mein Vater widmete sich vollständig unserer Erziehung und unterrichtete uns in allen Gegenständen selbst, auch im Klavierspiel. Solang wir klein waren, vertrug sich diese Tätigkeit ganz wohl mit seinem Amt als Bibliotheksskriptor, das nur den Vormittag in Beschlag nahm. Stets von zarter Gesundheit, hatte er sich aber im Dienste, wo er so häufig zwischen dem stark geheizten Lesesaal und den eiskalten Büchersälen hin und her gehen mußte, eine schwere Lungenentzündung zugezogen. Dr. Czermak, unser Hausarzt und Freund der Familie (der Vater des später berühmten Physiologen Hanns Czermak), bestand darauf, daß mein Vater diesen ihm verhängnisvollen Dienst quittiere. Nun gehörte seine ganze Zeit uns Kindern. Mit mir und meinem jüngern Bruder (wir studierten privat) trieb er Latein und Griechisch; dem Unterricht in Geschichte, Geographie und Religion wohnte auch meine ältere Schwester Lotti bei. Mein Vater hielt große Stücke darauf, uns in der Religion selbst zu unterrichten; er wollte nicht, daß man uns die Religion durch äußerlichen Formelkram verleide und durch Aberglauben entstelle. Wesen und Grundlage der Religion sei nur die Moral; bei gleichen moralischen Grundsätzen seien alle Bekenntnisse gleichwertig. Die biblischen Geschichten lernten wir nur von ihrer liebenswürdigen, gemütvollen und poetischen Seite kennen; die »Wunder« nur als Gleichnisse, als dichterische Einkleidungen, wie sie dem Kindheitszustande der Völker entsprachen. Wir wurden im besten, wenn auch nicht im streng kirchlichen Sinn, religiös erzogen. Nie ist ein Religionslehrer in unser Haus gekommen. Der Katechet des Gymnasiums war zum Glück ein aufgeklärter Mann, wie es ja so viele Priester für ihre Person sind, und ein Freund meines Vaters; so bestanden wir denn die öffentlichen Prüfungen aus der Religion wie aus den andern Gegenständen ganz löblich. Als Erzieher war mein Vater ein Feind der Strenge, der Strafen, der zornigen Aufwallung. Nie hat eines seiner Kinder einen Schlag bekommen. Wenn eines von uns sich irgendwie vergangen hatte, so galt es als die empfindlichste Strafe, an dem Tage ausgeschlossen zu bleiben von der gemeinschaftlichen Unterrichtsstunde.[9]
Wir genossen das für Kinder unersetzliche Glück, den Sommer auf dem Lande verleben zu können, und zwar in dem zum »Baumgarten«, dem Prater von Prag, gehörigen Dorfe Bubentsch. Da wanderte der Vater täglich nach dem Frühstück mit uns zwei älteren Knaben ins Freie; auf einem schattigen Grasplatz oder auf einer Bank im »Birkenwäldchen« wurde bis gegen die Mittagsstunde unterrichtet, studiert, memoriert. So lange wir beim Vater lernten, haben wir das Lernen immer nur als ein Vergnügen gekannt; daß es auch lästig und langweilig sein könne, erfuhr ich erst bei meinen Universitätsprofessoren. Auch dann noch, als ich aus dem glücklichen Privatstudium heraus an die Universität gelangt war, rekapitulierte der Vater regelmäßig mit mir, sah meine Hefte durch und machte mir Auszüge aus philosophischen Werken. Philosophisches Studium blieb seine Lieblingsbeschäftigung bis in seine letzten Tage. Seiner verständigen, auf Erfahrung und Beobachtung gebauten Weltbetrachtung sagte insbesondere der Philosoph Beneke zu, dessen Werke er vollständig besaß und dessen Porträt er sich aus Berlin hatte kommen lassen.
Es ist das traurige Schicksal so vieler zärtlicher Eltern, daß sie allmählich alleinstehen. Die Kinder, zu denen man sie so oft beglückwünscht, werden durch Heirat oder Lebensberuf nach allen Seiten entführt, zur Zeit, wo sie den Eltern am nötigsten oder wohltuendsten wären. So geschah es auch meinem Vater, der sich bald nach dem Tode meiner Mutter, die er um vierzehn Jahre überlebte, allein sah. Beide Schwestern hatten von Prag weggeheiratet, mein älterer Bruder Anton war als Eisenbahnbeamter nach Österreich, mein jüngerer, Robert, als Soldat in Radetzkys Lager gezogen; ich selbst ging auf den Wunsch des Vaters nach Wien zur Vollendung meiner juridischen Studien. Meine eifrigsten Bemühungen, den nun alleinstehenden Vater gleichfalls zur Übersiedlung nach Wien zu bereden, blieben vergeblich; er mochte in seinem Alter sich nicht mehr zu einem Wechsel des Aufenthalts und seiner Lebensgewohnheiten entschließen. Auch hing er fest an Prag, wo sich sein ganzes Leben ununterbrochen abgespielt hatte. Er liebte Prag, obwohl er in den letzten Jahren davon kaum mehr zu Gesicht bekam als die vier Wände seines Studierzimmers.
Wie deutlich steht sein Bild vor meinen Augen! Immer unverändert dasselbe, so oft ich, ihn von Wien aus besuchend, in sein Zimmer trat. Eine etwas gebückte, zarte Gestalt, von Büchern[10] umgeben, am Schreibtisch sitzend, im grauen Schlafrock, ein schwarzes Sammetkäppchen auf den feinen graublonden Haaren. Der Vater ging wenig aus, las fast den ganzen Tag und machte mit seiner zierlichen, sehr kleinen Schrift unermüdlich Auszüge aus den ihn interessierenden Büchern, – eine, wie ich glaube, nützliche, wenngleich zeitraubende Passion, die ich von ihm geerbt habe. Er hatte ein großes Werk geschrieben, die erste vollständige »Geschichte und Beschreibung der Prager Universitäts-Bibliothek«. In seiner Bescheidenheit dachte er nicht daran, dieses Werk dreißigjähriger, gründlichster Arbeit einem Verleger anzutragen. »Wer wird so ein Buch kaufen?« meinte er. Da wurde im Jahre 1847 die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien gegründet, und ich drang in den Vater, ihr sein Manuskript einzuschicken. Er tat es nicht ohne Widerstreben, eigentlich nur mir zuliebe. Nach Monaten kam das Werk wieder an ihn zurück mit dem Bescheid, die Akademie wolle dem Autor eine Subvention zur Bestreitung der Druckkosten bewilligen, nachdem er zahlreiche von der Zensur gerügte Stellen gestrichen oder geändert haben werde. Soviel ich weiß, waren das freimütige, mitunter sarkastische Schilderungen der Mißwirtschaft in der früheren Verwaltung der Prager Bibliothek, insbesondere unter der Herrschaft der Jesuiten. So sehr man in Wien über den Freimut des Verfassers die Nase rümpfte, die Wichtigkeit des Buches konnte man nicht leugnen. Mein Vater verwendete die ihm von der Akademie bewilligte mäßige Summe dazu, zweihundert Exemplare des Buches drucken zu lassen, die er geschenkweise an alle österreichischen und die hervorragendsten deutschen Universitäten schickte. Ich besitze noch eine ansehnliche Menge der schmeichelhaftesten Dankschreiben, die mein Vater von den Vorständen der größten Universitäten und Unterrichtsministerien Deutschlands erhielt. Das von allen Fachgelehrten hochgeschätzte, dem Bibliographen unentbehrliche Werk meines Vaters ist nie in den Buchhandel gekommen und gehört jetzt zu den kaum mehr aufzutreibenden Seltenheiten. In seiner beispiellosen Anspruchslosigkeit hatte der Verfasser sowohl auf Ruhm wie auf Gewinn freiwillig verzichtet. Das kurze Vorwort, Prag im Dezember 1851, beginnt mit den Worten: »Dem Publikum gegenüber fühle ich mich zu dem Geständnis verpflichtet, daß ich eigentlich selbst das Publikum bin, dessen Befriedigung ich bei Bearbeitung dieser Schrift fürerst im Auge hatte.« Er sei überzeugt[11] gewesen, »das Buch werde auf den einzigen Leser beschränkt bleiben, für den es ursprünglich geschrieben war«.
Das Leben meines Vaters war fortan das eines stillen Gelehrten, der bei fast ununterbrochenem körperlichen Leiden wie Christian Garve in der Philosophie die Stärke fand, sie ohne Murren zu ertragen. Durch jahrelange Kränklichkeit mit dem Gedanken des Todes vertraut, blieb er bis ans Ende sich gleich in seiner philosophischen Ruhe und Freisinnigkeit. Als er seinen Tod nahen fühlte, setzte er eigenhändig seine Todesanzeige auf, da er die üblichen »Phrasen« nicht leiden konnte und verbat sich jeden geistlichen Zuspruch. Auf die mahnende Frage des Arztes und der alten Magd, ob er sich nicht möchte »versehen« lassen, antwortete er lächelnd: »Danke, ich bin mit allem Nötigen versehen.« So starb am 2. Februar 1859 in seinem vierundsiebzigsten Jahre der Mann, welcher mir mein Leben hindurch das leuchtendste Vorbild geblieben – ein Weiser ohne Weisheitsdünkel, dessen ganzes Dasein nur von dem Wohlwollen für andere beherrscht war.