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[209] Zu Ende der fünfziger Jahre wohnte ich auf dem Minoritenplatz in einem der alten, unregelmäßig um die Kirche herum gebauten Häuser, welche, ein Leckerbissen für Wiener Geschichtsforscher, nunmehr ihrer wohlverdienten Demolierung entgegensehen. Ich hatte eine geräumige Stube als »Zimmerherr« inne, d.h. als Aftermieter einer keifenden, alten Witwe, welche zwei Zimmer an[209] ledige Herren so gut vermietete, daß ihr eigenes, drittes, ihr gratis verblieb und noch etwas darüber. Der zweite Zimmerherr wohnte auf demselben Flur, meiner Stube gegenüber. Ich habe ihn nie gesehen und hörte nur, daß es ein kränklicher, alter Herr sei. Eines Morgens sah ich seine stets versperrte Türe angelweit offen und die böse Sieben mit krampfhafter Tätigkeit in dem Zimmer herumwüten. »Wo ist denn der kranke, alte Herr?« fragte ich erstaunt. »Gestern Abend gestorben – aber is schon fort, is schon fort. Hab' ihn gleich in die Totenkammer expediert.« Ein ärgerlicher Seufzer der Frau, von heftigem Reiben der weißen Nase begleitet, galt offenbar nicht dem verstorbenen Bewohner, sondern dem Leerstehen des Zimmers. Es ist aber nicht lange unbewohnt geblieben. Drei Tage, nachdem der erste »expediert« war, zog ein anderer ein. Ich habe nach seinem Namen nicht gefragt und ihn Wochen lang nicht zu Gesicht bekommen. Das geht so in großen Städten; man weiß nicht, wer neben einem lebt oder stirbt. Da treffe ich eines Tages auf der Treppe den Komponisten Robert Volkmann. Er war mein neuer Zimmernachbar. Ich freute mich dieser Entdeckung, denn Volkmann war mir nicht bloß als Tondichter lieb und wert, sondern auch als Mensch. Sein anspruchsloses, wohlwollendes Wesen, der schöne Ernst seiner künstlerischen Anschauung und Tätigkeit berührte mich sympathisch. Aber ein Verkehr mit ihm kam doch nicht zustande. Ein Besuch meinerseits, ein Gegenbesuch seinerseits – das war alles. Volkmann war nämlich ein noch größerer Schweiger als Schumann, also – mit Wagner zu sprechen – ein ebenso »unmöglicher Mensch«. Der dritte im Bunde der berühmten musikalischen Schweiger war, merkwürdig genug, ein Franzose: Felicien David, der Komponist der »Wüste«. An seinen Generalpausen scheint aber nicht zurückgedrängte Gedankenfülle schuld gewesen zu sein, sondern vielmehr der Mangel an Gedanken. David war eine so überaus »einfache« naive Natur, daß man sich in Leipzig verwunderte, wie Robert Schumann Stunden lang mit ihm aushalten könne. »Ich mag ihn gern,« erklärte Schumann – »er spricht so wenig.« Das hat auch mein Volkmann meisterhaft getroffen. Schweigend saß er neben mir, das blasse, graublonde Haupt vorgeneigt, und sah mich mit seinen guten, müden Augen an, die nur durch den tief herabhängenden Schnurrbart ein Relief erhielten. Die zuwartenden Pausen, an denen ich es nicht fehlen ließ, genierten ihn wenig; er unterbrach sie nur mit kurzen Worten. Obwohl[210] wir einen Winter lang Tür an Türe wohnten, haben wir miteinander keine zwanzig Worte gesprochen. Und doch wußte ich genau, daß er mir von Herzen wohlwollte, sowie auch er von meiner Hochschätzung Beweise hatte. Volkmann hat mir noch viele Jahre später seine freundschaftliche Gesinnung bewiesen, als ich eine Vorlesung in Pest gab. Er machte, obwohl schon leidend, abends den weiten Weg von der Festung Ofen herab, wo er wohnte, um meine Vorlesung durch seine Gegenwart auszuzeichnen. In Volkmann hat die deutsche Musik einen vornehmen und zarten Geist verloren; seine Freunde einen der wenigst unterhaltenden, aber aufrichtig treuen Genossen.

Eines Morgens stürzt Ambros zur Tür herein und an meine Brust. Ja, das war der beweglich heitere, kleine Mann mit den freundlich durch die Brille blitzenden, geistreichen Augen, an den mich jetzt Freund Stettenheim so lebhaft erinnert! Er hatte endlich seinen Wunsch erreicht und war von der Prager Staatsanwaltschaft ins Justizministerium berufen worden. Hocherfreut, den alten Freund bleibend in meiner Nähe zu haben, frage ich ihn eifrig nach seinen amtlichen und Familienverhältnissen. – »Und wieviel Kinder hast Du?« – »Ja, kannst Du Dir das nicht merken? Soviel, als der Regenbogen Farben hat und die Skala Töne, die Woche Tage, soviel Weise Griechenlands, soviel Wunder der Welt man zählt, soviel Städte sich um Homers Geburt streiten, soviel Todsünden es gibt ...« – »Genug«, rief ich lachend, aber er war noch lange nicht zu Ende mit den Daten, die mir die Zahl Sieben einprägen sollten. Dieses Raketenfeuer seines Gedächtnisses war charakteristisch für Ambros. Als sein Familiensegen sich noch um ein achtes Kind vermehrte, ging das Feuerwerk schon etwas stockender, das verspätete Nr. 8 schien ihn ein bißchen verlegen zu machen. Ambros, der eben ein volles Urlaubsjahr zu einer Studienreise nach Italien verwendet hatte, schrieb auf mein Drängen eine Reihe von Feuilletons für die »Neue freie Presse«. Das machte ihn einem weiteren Leserkreis bekannt, der mir gewiß ebenso aufrichtig dankte für diese Vermittlung wie Ambros selbst. Alsbald übernahm er auch das ständige Musikreferat in der »Wiener Zeitung«. Was übernahm und erledigte er nicht alles! Er arbeitete im Justizministerium – wo er allerdings in Julius Glaser das Ideal eines wohlwollenden, nachsichtigen Ministers fand – er arbeitete in der Redaktion der »Wiener Zeitung«, er hielt Vorlesungen in zwei höheren Töchterschulen, er unterrichtete[211] den jungen Kronprinzen Rudolf in der Kunstgeschichte, und neben alledem schrieb er emsig weiter an seiner großen »Geschichte der Musik«. In der Kunst, die Zeit auszunützen, ist mir Ambros stets als bewunderungswürdiger Virtuose erschienen. Das halbe Stündchen zwischen dem Ankleiden und dem Frühstück gehörte seiner »Geschichte der Musik«; aus dem Büro nach Hause gekommen, setzte er unverweilt den Satz fort, bei dem er früh stehengeblieben, vielleicht bei einem »und« oder »aber«. Damit mußte er gleich wieder innehalten, sobald die Suppe aufgetragen war. Nur diese stete Geistesbereitschaft, dieses à la minute-Produzieren macht die erstaunliche Summe seiner Tätigkeit erklärlich. Andere Schriftsteller (unter anderen ich selbst) brauchen ein Stündchen stiller Sammlung, bevor sie die Feder eintauchen, eine gewisse Brutwärme, möchte ich sagen, – Ambros hätte man plötzlich aus dem Schlaf wecken können, er würde sofort an dem unterbrochenen Manuskript weiter geschrieben oder ein ganz neues Kapitel begonnen haben.

Wie kam es doch, daß Ambros, der zehnmal mehr von Musik verstand als alle seine Wiener Kollegen, dennoch als Kritiker keinen großen Einfluß geübt hat auf die öffentliche Meinung? Man nahm ihn nicht recht ernst. Man unterhielt sich mit seinen Kritiken, aber man beugte sich ihnen nicht. Ambros machte in jedem Feuilleton so viele Witze, brachte so viel Zitate, verschwendete so viel Einfälle, daß die gerade Linie des Urteils unter der Last dieses nicht immer geschmackvollen Zierrats nahezu verschwand. Der witzige Polyhistor rannte jeden Augenblick dem Kritiker in den Weg und stellte ihm ein Bein. Hand in Hand mit dieser fast kindlichen Freude an stilistischem Luxus, ging eine auffallende Scheu, tadelndes Urteil mutig auszusprechen. Er mochte niemanden verletzen, keinen Anlaß zu Polemik geben. Über Liszts sinfonische Dichtungen und Kirchenmusiken goß er in der Zeitung ein Füllhorn von Lob; unter vier Augen stimmte er entgegengesetzten Urteilen nicht unwillig zu. Brendels phrasenhafte »Vorlesungen« zitierte Ambros im Vorwort zu seiner Musikgeschichte als ein »mit allgemeinem und verdientem Beifall aufgenommenes, brillantes, ungemein geistvolles Buch«. Und doch wußte er sehr gut und hat es hundertmal ausgesprochen, daß Brendels »Geschichte« zur Hälfte Kompilation, zur Hälfte Parteischrift ist. Diese Schwäche konnte im Leben den liebenswürdigen Eindruck seiner Persönlichkeit erhöhen, nicht aber sein Ansehen als[212] Kritiker. Eines einzigen Falles erinnere ich mich, wo Ambros mit ungeahnter Heftigkeit vom Leder zog: nämlich gegen die modernen Operetten. Er führte aber seine Hiebe gegen Offenbach, Strauß etc. nicht sowohl im musikalischen Interesse, als im moralischen. Aus Empörung über die Frivolität ihrer Textbücher schrieb er seinen Artikel »Musikalische Wasserpest«. Wieviel Talent steckte aber gerade in den Offenbachschen Operetten! Und ist nicht Talentlosigkeit die wahre Wasserpest in der Musik?

Trotz all seiner Gelehrsamkeit war Ambros eigentlich doch mehr zum Feuilletonisten geschaffen als zum Geschichtsschreiber. Es fehlte ihm der klare, ruhig überschauende Blick; die Kunst, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden; der große Stil, welcher den echten Historiker kennzeichnet. Womit er gerade beschäftigt war, das erfüllte ihn mit Enthusiasmus. Er blieb an Zufälligkeiten und Nebendingen hängen, die seinem Witz zu tun gaben. Als er die Periode der alten Niederländer bearbeitete, ging ihm nichts über eine Messe von Josquin; später, bei den Italienern angelangt, galt ihm Monteverdi oder auch Scarlatti als der Höhepunkt musikalischen Genies. »Freund«, fragte ich ihn, »wo wirst Du denn die entsprechenden Ausdrücke der Bewunderung hernehmen für Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven?« – »Es ist eben alles herrlich in seiner Art und unübertrefflich,« lautete die Antwort. Diese ehrliche, unbedingte Hingebung an das Schöne, diese jugendliche Begeisterungsfähigkeit machten mir Ambros so liebenswert, ja rührend. Nur verlor er über seinem Enthusiasmus die nötigen Unterscheidungen und Stufen. Der zweite und dritte Band seiner Musikgeschichte enthalten treffliche Partien; man wird ihnen reichliche Belehrung danken, besonders, wenn man die Urteile nicht so heiß ißt, wie sie aufgetragen sind. Leid tat mir's hingegen um die ungemeine Mühe und Arbeit, welche Ambros an den trockenen, unersprießlichen Stoff des ersten Bandes gewendet hatte: die Musik der Chinesen, Inder, Araber, Ägypter, Hebräer etc. Die Häufung zerbröckelnder Einzelheiten, welche unsere Kenntnis der Musik bei den asiatisch-mohammedanischen und den vorklassischen Völkern ausmacht, drängt doch zu dem Ausruf: das ist ja keine Musik und hat keine Geschichte. Erst von der griechischen Musik ist ein nachweisbarer Einfluß auf die unsere, wenngleich in unscheinbaren und getrennten Stößen, ausgegangen. Das Meiste, was überhaupt von der Musik der Orientalen gesagt werden kann und von Ambros[213] reproduziert wird, ist gar nicht von artistischem, sondern vielmehr von kulturgeschichtlichem und ethnographischem Interesse. Für die historische Entwicklung der Musik, für die Musik als Kunst, ist die Beschreibung jedes Schilfrohrs mit so oder so viel Löchern, jeder Trommel oder Klapper, wie sie bei den Orientalen gefunden oder auch nur nach Abbildungen geschildert wird, sehr unerheblich. Die Beschreibung der Musikwerkzeuge unkultivierter Völker hat kaum eine andere Bedeutung als die Kunde von deren Wohnungen, Waffen, Kleidungsstücken. Sie gehört zur Statistik ihrer Kultur, nicht zur Geschichte der Tonkunst. Ambros' groß angelegte Musikgeschichte ist leider unvollendet und vor Palestrina stehengeblieben; sie starb jung an Hypertrophie.

Ambros prophezeite sich oft ein hohes Alter, da seine Eltern über achtzig Jahre gelebt hatten und er selbst niemals krank gewesen. Armer Freund, du warst kein guter Prophet! Eine kurze, heftige Krankheit tötete im Frühling 1876 den kaum sechzigjährigen Mann mit dem jugendfrischen Geist und fröhlichen Herzen. Er, wahrlich, durfte sich redlich vollbrachten Tagewerks rühmen! Mit glänzenden Fähigkeiten gesegnet, eine Million von Kenntnissen noch täglich vermehrend, unter dem Hochdruck außerordentlicher Anforderungen stets gleich elastisch und empfänglich, so sahen wir den Mann durch Jahrzehnte wirken, unermüdlich, neidlos, genügsam, verliebt in seine Wissenschaft und seine zahlreiche Familie, voll inneren Glücks in der Arbeit und immer voll Arbeit im Glück. Mir war er durch mehr als dreißig Jahre ein treu anhänglicher Freund geblieben.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 209-214.
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