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[215] Das Jahr 1862 führte zwei deutsche Tondichter nach Wien, große und eigenartige Erscheinungen; dabei einander so unähnlich als möglich: Johannes Brahms und Richard Wagner. Brahms, damals neunundzwanzigjährig, trat in mehreren Konzerten als Komponist und Klavierspieler auf; Wagner, bereits auf einer der vorletzten Stufen zu seinem Ruhmesgipfel, kam aus der Schweiz, um in Wien der Aufführung seines »Lohengrin« beizuwohnen. Wagners stolzes Wort, er sei »der einzige Deutsche, der den ›Lohengrin‹ noch nicht gehört,« wurde in seiner kindischen Übertreibung von vielen Deutschen bewundert, die nicht einmal noch den »Fidelio« gehört hatten. Die Vorstellung fiel glänzend aus. Einen idealeren Lohengrin als Ander, eine poetischere Elsa als Louise Dustmann, einen gewaltigeren Telramund als Beck wird man schwerlich mehr sehen. Heinrich Esser dirigierte.

Zu Wagners ältesten Bekannten gehörte Heinrich Laube, der Direktor des Burgtheaters. Er lud Wagner zu einem Mittagessen in engem Kreise, an welchem ich auch teilnehmen durfte. Ich konnte Wagner manches ihm Neue über die merkwürdige Geschichte des »Tannhäuser« in Wien erzählen. Die Oper, die ich 1846 in Dresden gehört und seitdem in der Presse unermüdlich dem Hofoperntheater empfohlen hatte, gelangte erst im Jahre 1859 daselbst zur Aufführung. Zwei Jahre vorher hatte ein Vorstadt-Direktor den »Tannhäuser« in einem bretternen Sommertheater (»Thaliatheater«) gegeben, trotz der bescheidenen Mittel[215] mit sehr gutem Erfolge. Nun machte der Direktor des Hofoperntheaters, Julius Cornet, sechs bis sieben Bittgesuche nacheinander an das Obersthofmeisteramt um die Erlaubnis, den »Tannhäuser« aufführen zu dürfen. Jedesmal wurde er mit Hinweis auf das »unsittliche Textbuch« abgewiesen. Erst nach dem großen Erfolge des »Lohengrin« gab man nach und erlaubte den »Tannhäuser«, aber nur mit einigen sehr merkwürdigen Änderungen im Texte. Die Zensur fühlte sich durch die reaktionäre Luft der fünfziger Jahre wieder gestärkt und begann ihr altes Spiel, das man, allzu sanguinisch, für immer beseitigt geglaubt. Das Wort »Rom« durfte in der Oper nicht vorkommen. Wie lächerlich klang es, wenn Wolfram im 3. Akte den Tannhäuser fragte: »Warst Du nicht dort?« und dieser erwiderte: »Schweig' mir von dort!« Noch etwas recht Komisches ereignete sich in dieser Premiere. Man hatte in Wien die »Tannhäuser-Parodie« früher kennengelernt als die Oper selbst. Abend für Abend stürmte das Publikum ins Carltheater, wo (mit Nestroy als Landgraf, Treuman als Tannhäuser) diese köstliche Travestie die Zuhörer erheiterte. Eine der drolligsten Szenen spielte der Komiker Knaack. Er saß als »Hirtenknabe« auf einem entlaubten Baume, sang oder meckerte vielmehr das Mailied und blies das Ritornell anstatt auf der Oboë auf dem Fagott. Die Wirkung war unbeschreiblich. Als nun in der ersten Aufführung des wirklichen »Tannhäuser« im Operntheater der Hirtenknabe auf dem Hügel sein Mailied anstimmte, ging eine schwer zu bändigende Heiterkeit durch das ganze Haus. Alles mußte an Knaack und sein impertinentes Fagott denken. Der treffliche Stuttgarter Tenorist Grimminger, welcher den Tannhäuser sang, ging in stummem Spiel auf der Bühne hin und her und besah sich, immer unruhiger und verlegener, von oben bis unten, in der Meinung, irgendein lächerlicher Verstoß in seiner Toilette sei die Ursache der allgemeinen Heiterkeit.

Dies alles vernahm Wagner mit Interesse, benahm sich aber sonst sehr fremd gegen mich. Laube klärte mich darüber auf. Wagner habe gehört – selbst lese er natürlich keine Kritiken –, ich sei für »Lohengrin« bei weitem nicht so warm eingetreten, wie einst für den »Tannhäuser«. Das war richtig. Unleugbar sind die großen technisch-musikalischen Fortschritte in Wagners späteren Opern, aber im »Tannhäuser« lebt doch seine beste Jugend. Nur in den schönsten Nummern der »Meistersinger« pulsiert noch die melodische Frische und Unmittelbarkeit, welche den[216] »Tannhäuser« auszeichnen. Der erste Dialog Tannhäusers mit Venus (selbstverständlich vor dem banalen Venuslied), das Bacchanale im Hörselberg (in der ersten Bearbeitung), das Männerseptett am Schlusse des ersten Aktes, das zweite Finale, die Erzählung der Pilgerfahrt – das sind Stücke, deren musikalischen Reiz bei starkem dramatischen Ausdrucke ich im Lohengrin nicht mehr in gleicher Potenz wiederfinde. Im »Lohengrin« wirkt vor allem die bewunderungswürdigste von Wagners Eigenschaften: seine Gabe, den Hörer mit ein paar Takten sofort in die erforderliche Stimmung zu versetzen. Man höre den Anfang des Orchestervorspiels, das Auftreten Elsas, das Herannahen des Schwans! Überhaupt ist der erste Akte eine glänzende Leistung dramatischer Stimmungsmalerei. Hingegen finde ich die Szenen Ortruds mit Telramund in ihrer gekünstelten Überspanntheit hohl und ermüdend, Elsas vielbewundertes »Es gibt ein Glück« trivial und den beliebten Brautjungfernchor gleichfalls. Im großen und ganzen, insbesondere gegen den »Tannhäuser«, ist die »Lohengrin«-Musik weichlich, marklos, oft geziert; sie wirkt wie das weiße Magnesiumlicht, in das wir nicht lange schauen können, ohne daß uns die Augen schmerzen. Dieses weiß flimmernde zuckende Licht ist es eben, wofür die unmusikalisch-sentimentalen Seelen schwärmen. »Lohengrin« ist die Lieblingsoper aller gefühlvollen Damen. Ich finde den »Tannhäuser« kräftiger, männlicher, natürlicher und kann ihn, in guter Aufführung – mit einem Niemann! – heute noch mit Vergnügen hören, während »Lohengrin« mich schnell abspannt und langweilt. Selbst den »Fliegenden Holländer« ziehe ich in seiner Gesamtwirkung vor; es sind Naturlaute darin, die sich von Wagners Nordseefahrt herschreiben und später in gleicher Unmittelbarkeit höchst selten bei ihm wiederkehren. Am wenigsten in »Tristan und Isolde«, wo die Unnatur von Text und Musik mir einfach unaushaltbar ist. Das sind natürlich ganz subjektive Empfindungen, wie man sie eben nur in einer Selbstbiographie ausspricht. Motiviert, soweit sich dergleichen motivieren läßt, habe ich sie in zahlreichen Kritiken bis zum Überdruß.

Wagner benutzte seinen Aufenthalt in Wien, um (im Winter 1862 auf 63) mehrere große Orchesterkonzerte im Theater an der Wien zu geben, darin als Novitäten Bruchstücke aus den »Meistersingern« und der »Walküre«. Der Primararzt Dr. Standhartner, ein begeisterter Wagnerianer, dabei liebenswürdig und tolerant,[217] hatte mich zu einer Abendgesellschaft geladen, in welcher Wagner den vollständigen Text seiner »Meistersinger« vorlas. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie man das lange Register der von David abgehaspelten »Weisen« komponieren könne. »Ach, das fließt im Gesang so leicht dahin,« antwortete Wagner, »daß es gar nicht auffällt.« Abgesehen von dieser und anderen Geschmacklosigkeiten der Diktion erschien mir die Wahl des Stoffes als eine sehr glückliche und gerade für Wagner verheißungsvoll. Ich berichtete über jene Meistersinger-Vorlesung in der »Presse«: »Nach der qualmenden Glut der ›Nibelungen‹ ein ansprechendes, bald heiteres, bald rührendes Sittenbild aus dem deutschen Städteleben, auf einfachen Verhältnissen ruhend, bewegt von Freud und Leid schlichter Menschen. Mit den ›Meistersingern‹ wird Wagner dem deutschen Theater einen größeren Dienst leisten, als mit den ›Nibelungen‹; während diese einer geträumten Zukunft harren, wartet auf jene die opernlose Gegenwart. Wagner hat sich gleichzeitig zwei entgegengesetzte Wege geöffnet. Der deutschen Kunst kann es nicht gleich gelten, welchen von beiden Wagner in Zukunft erwählen und ob er es vorziehen wird, seiner Nation ein Meistersänger zu sein oder ein Nibelung.« Eine Bühnenaufführung haben bekanntlich beide Werke, deren Dichtungen wir 1862 kennenlernten, erst mehrere Jahre später erlebt; ihre ungleiche Wirkung auf das Publikum und die sehr verschiedene Stellung, die sie im heutigen Repertoire behaupten, hat meine Ansicht nur bestätigt.

Wagner, sehr befriedigt von der Aufführung des »Lohengrin«, bemühte sich nun auch, seine neueste Schöpfung »Tristan und Isolde« im Hofoperntheater zur Aufführung zu bringen mit Ander und der Dustmann in den Hauptrollen. Die Oper wurde auch sofort angenommen, und die Sänger mühten sich redlich mit dem Studium ihrer fast unüberwindlich scheinenden Rollen. Nachdem eine Anzahl von Proben überstanden war, sagte mir eines Tags Ander: »Es wird gehen; den zweiten Akt können wir jetzt beinahe auswendig, aber den ersten haben wir wieder vergessen.« Die Erkrankung Anders hat die Proben zeitweilig unterbrochen, sein früher Tod ihnen ein Ende gemacht. Es war ein Irrtum Wagners, wenn er meinte, Intrigen hätten die Aufführung von »Tristan« vereitelt; ein ebensolcher Irrtum wie seine spätere Behauptung, es sei der Wiener Hofoperndirektion trotz aller zuvorkommenden Versprechungen »nicht bloß darum zu tun gewesen,die ›Meistersinger‹ nicht geben zu dürfen, sondern auch zu verhindern, daß sie auf anderen Theatern gegeben würden.« (!) In seiner leidenschaftlichen Gereiztheit war Wagner jeder Ungerechtigkeit fähig.

Der vielen Unterbrechungen müde, reiste Wagner nach Petersburg, wo er mehrere Konzerte gab. Hierauf kehrte er nach Wien zurück. Er mietete eine hübsche Villa in Penzig, ließ sie nach seinem Geschmack tapezieren und möblieren, nahm eine niedliche Ballettänzerin mit, welche seinen Gästen die Honneurs machte, und – war eines Tages verschwunden. Friedrich Uhl, damals in häufigem Verkehr mit Wagner, erzählt, wie eines Morgens Karl Tausig (nächst Cornelius wohl der aufopferndste von Wagners Jüngern) aufgeregt zu ihm hereinstürzt mit dem Ausruf: »Denken Sie, Wagner ist fort, ohne mir etwas zu sagen! Und ich bin Bürge beim Tapezierer!« Während Wagner, auf der Flucht vor seinen Gläubigern, sich Zürich näherte, war bereits hinter ihm sein Stern aufgegangen. Der bayrische Kabinettssekretär, Herr v. Pfistermeister, erschien in Wien im Auftrag des jungen Königs Ludwig, um ihm Wagner zu bringen. Er eilt in die Villa Wesendonk nach Zürich. Wagner war inzwischen nach Stuttgart abgereist, Pfistermeister fliegt ihm nach, erreicht ihn und bringt ihn nach München zum König. Für Wagner beginnt, nach langen Kämpfen und Irrfahrten, das goldene Zeitalter.

Von Leuten, welche die Gewohnheit haben, jede Kritik persönlich aufzufassen und zu deuten, wurde ich oft gefragt, was ich denn »gegen Wagner habe«? Nicht das allermindeste. Daß er mir nach meiner Lohengrin-Kritik bei Laube sehr kühl entgegentrat, darauf war ich gefaßt; noch mehr nach der Konzertaufführung seiner »Nibelungen«- und »Tristan«-Fragmente. In solchen Dingen besaß ich damals schon einige von den Erfahrungen, an denen ich heute überreich bin. Daß mich Wagner später, 1869, in sein »Judentum« eingeschmuggelt hat, das konnte mich noch weniger kränken. Wagner mochte keinen Juden leiden; darum hielt er jeden, den er nicht leiden konnte, gern für einen Juden. Es würde mir nur schmeichelhaft sein, auf ein und demselben Holzstoß mit Mendelssohn und Meyerbeer von Pater Arbuez Wagner verbrannt zu werden; leider muß ich diese Auszeichnung ablehnen, denn mein Vater und seine sämtlichen Vorfahren, soweit man sie verfolgen kann, waren erzkatholische Bauernsöhne, obendrein aus einer Gegend, welche das Judentum nur in Gestalt[220] eines wandernden Hausierers gekannt hat. Wagners Einfall, meine Abhandlung vom Musikalisch-Schönen ein »mit außerordentlichem Geschick für den Zweck des Musikjudentums verfaßtes Libell« zu nennen, ist, milde gesagt, so unglaublich kindisch, daß er vielleicht meine Feinde ärgern konnte, mich selbst gewiß nicht. Das kostbarste Aktenstück in dem ganzen Prozeß ist aber Gustav Freytags Kritik des »Judentums in der Musik«. In dieser keineswegs satyrischen, sondern unbefangenen, sachgemäß ernsten Untersuchung gelangt Freytag zu dem Resultat, daß gerade die verfemten »jüdischen« Charakterzüge sich besonders stark ausgeprägt finden in Wagners eigenen Opern!

Hatte auch Wagners Benehmen, das ich ja gewärtigen und begreifen mußte, mich in keiner Weise verletzt, so kann ich doch nicht leugnen, daß mir seine ganze Persönlichkeit recht unsympathisch war. Ein Fremder hätte aus Wagners Gesicht weniger auf einen genialen Künstler als auf einen trockenen Leipziger Professor oder Advokaten geraten. Er sprach unglaublich viel und schnell, in monoton singendem sächsischen Dialekt; er sprach in einem fort und immer von sich selbst, von seinen Werken, seinen Reformen, seinen Plänen. Nannte er einmal den Namen eines anderen Komponisten, so geschah es gewiß in wegwerfendem Tone. Man findet das ja genauso in seinen Büchern. Der Ausruf von Hebbels Holofernes: »O, es ist öde, nichts ehren zu können als sich selbst!« paßte nicht übel für Wagner. Nun ist mir, offen gestanden, von allen Fehlern, die einem bedeutenden Menschen anhaften können, keiner so widerwärtig als Anmaßung und Größenwahn, vollends, wenn diese gepaart sind mit Ungerechtigkeit und Mißgunst. Im Schimpfen über das Publikum, über Theaterdirektoren und Sänger kannte Wagner kein Maß; selbst die besten, ihm ergebensten (wie Niemann) wurden nicht geschont. Daß die Deutschen eine »niederträchtige Nation« seien, konnte man jeden Augenblick hören. Und zu all diesem hervorgesprudelten Geifer, welcher eisige Blick seiner kalten, grauen Augen! Er war der personifizierte Egoismus, rastlos tätig für sich selbst, teilnahmslos, rücksichtslos gegen andere. Man weiß von keinem jungen Talent, das Wagner tatkräftig unterstützt und gefördert hätte, höchstens für seine eigenen Zwecke. Dabei übte er doch den unbegreiflichen Zauber, sich Freunde zu machen und sie festzuhalten; Freunde, die sich für ihn opferten und, dreimal vor den Kopf gestoßen, dreimal wiederkamen. Je mehr Undank[221] sie von Wagner erfuhren, desto eifriger glaubten sie für ihn arbeiten zu müssen. Die hypnotisierende Gewalt, welche Wagner nicht bloß durch seine Musik ausübt, sondern auch durch seine Persönlichkeit allerwärts erprobte, alles niederzwingend und seinem Willen beugend, reicht hin, ihn zu einer der bedeutendsten Erscheinungen, zu einem Phänomen von Energie und Begabung zu stempeln. Das hindert mich nicht zu bekennen: je mehr ich von Wagner wußte und erfuhr, im Laufe der Jahre von ihm und über ihn las, desto mehr verminderte sich mein Respekt vor seinem Charakter. Daß dies alles nichts zu schaffen hat mit dem Eindruck, welchen Wagners Opern auf mich machen und auf mein Urteil über dieselben, bedarf keiner Versicherung. Wer hätte in einem langen Kritikerleben nicht Kompositionen befreundeter, liebenswürdigster Menschen tadeln müssen und umgekehrt, die Werke von Männern bewundert, mit denen er im Leben nicht gern zu tun gehabt!

Seitdem ich mit Wagner je einmal bei Laube, Standhartner und Frau Dustmann zusammengetroffen, habe ich ihn nicht wieder gesprochen. Von seinen späteren Werken wird aber in diesen Blättern noch die Rede sein.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 215-222.
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