[226] Zur selben Zeit, da die beiden erzdeutschen Komponisten, Wagner und Brahms, ihren Einzug bei uns hielten, widerhallte Wien von den schönsten italienischen Stimmen. Zuerst kam Adelina Patti, die eben in London ihren Ruf begründet hatte. Ihr Schwager und Gesanglehrer, Moriz Strakosch, ein feiner, liebenswürdiger Mann und guter Musiker, führte mich zu Adelina. Sie wohnte mit ihrem Vater, Salvatore Patti, einem schweigsamen, schönen alten Herrn, und ihrer treuen Gesellschafterin Louise Law recht einfach und zurückgezogen in einer kleinen Privatwohnung in der Klostergasse. Sie war noch nicht die gefeierte Diva beider Welten, noch nicht die grande dame, welche die folgenden Jahre in das zerstreuende Gewoge eines glänzenden Gesellschaftslebens warfen. Bei meinem Eintreten saß sie, ein kleines, schmächtiges, blasses Mädchen in rotwollenem »Garibaldihemdchen« am Fenster und streichelte ihr Hündchen Cora. Ich stand bald auf gut kameradschaftlichem Fuße mit beiden, mit Adelina und mit Cora. Es kamen außer mir nur wenig Leute ins Haus, hin und wieder der Impresario, der Kapellmeister der Italienischen Oper und die Familie des mit Strakosch verschwägerten Bankiers Fischhof. Adelina war damals ein halb schüchternes, halb unbändiges Naturkind, so recht, was die Franzosen mit »sauvage« bezeichnen, ungekünstelt, gutmütig und heftig.
Die Truppe, welche mit ihr im Carltheater sang, stand auf ziemlich niedrigem Niveau; der einzige bedeutende Künstler war der Tenorist Carrion. Er gehörte, wie Mario, Calzolari und andere italienische Tenoristen, zu jenen Gesangsvirtuosen, welche, dank ihrer vortrefflichen Methode und ihrer pedantisch soliden Lebensweise, mit sechzig Jahren noch unsere Bewunderung erregen. Solche Erscheinungen waren früher nicht selten unter den Italienern; heute scheinen sie selbst in ihrem Vaterlande auszusterben.[226] In Deutschland war noch Theodor Wachtel von dieser Art; er hat 1893, zur Feier seines siebzigsten Geburtstages, in Berlin ein Konzert gegeben und in seinen Zuhörern nicht etwa schonende Pietät, sondern aufrichtige Bewunderung wachgerufen. In Wien fragte ich einmal Wachtel nach einer anstrengenden Rolle scherzend: »Nicht wahr, heute Abend freuen Sie sich auf das erste Glas Bier?« – »Bier? Bier?« rief Wachtel ganz entsetzt mit seiner hohen Sprechstimme, »Bier ist Gift! Ich trinke nach dem Theater höchstens ein Gläschen gewärmten Bordeaux!« Wie früh verlieren die meisten unserer deutschen Tenoristen den Schmelz ihrer Stimme, mit ihrem Rauchen, Trinken und Wagnersingen! Carrion führte seinen eigenen Koch mit sich, um nicht den Schädlichkeiten einer fremden Hôtelküche ausgesetzt zu sein; blieb auch tagsüber im Bett liegen, wenn er abends zu singen hatte. Neben dem schmetternden Lerchentriller der Patti erregte der alte Nachtigall Carrion allerdings nur mäßigen Jubel im Publikum; sein hochausgebildetes Selbstgefühl täuschte ihn jedoch darüber. Wenn ich ihn über den Erfolg einer von mir versäumten Vorstellung fragte, antwortete er: »J'ai eu un grand succès«, – und nach einer Pause: »et Mademoiselle Patti aussi.«
Adelina hörten wir in jenem ersten Jahre als Rosina im »Barbier«, als Norina in »Don Pasquale«, als »Somnambula«, Lucia und als Zerline in Mozarts »Don Juan«. Sie sang diese Rolle mit entzückender Einfachheit und Anmut, vollständig in Mozarts Geist und buchstäblich getreu. Später hat sie ihre Kunst noch vervollkommnet, ihren Rollenkreis erweitert und erhöht, allein damals schon erschien sie mir als die erste lebende Gesangskünstlerin, als ein musikalisches Genie.
Wir waren in Wien bis zum Jahre 1848 fortwährend mit italienischen Opern gefüttert und übersättigt worden. Als Musikreferent der »Wiener Zeitung« besuchte ich schließlich diese Vorstellungen mit ihrem ewigen Einerlei nur widerwillig und in dringendsten Fällen. Der Billeteur fragte mich eines Abends ganz verwundert, ob denn wirklich dieser wochenlang leerstehende Parkettsitz für die ganze Stagione abonniert sei? Es folgten hierauf mehrere Jahre ununterbrochener Alleinherrschaft deutscher Opernvorstellungen. Als dann die Patti erschien, fühlten wir den Sinn für italienische Gesangskunst und italienische Melodie in uns wiedererwachen. Die großen Erfolge Adelinas in einem Vorstadttheater weckten die Nacheiferung der Hofoperndirektion,[227] und diese lud durch die vier Jahre 1864–1867 eine italienische Gesellschaft zu Gast. In Desirée Artôt, dem Tenor Calzolari, dem Bariton Everardi und dem Baßbuffo Zucchini besaß diese Truppe ein unvergleichliches Sängerquartett für die opera buffa und pflegte dieses früher vernachlässigte Genre als glänzendste Spezialität. Mit Entzücken gedenke ich dieser Vorstellungen von »Cenerentola«, »Matrimonio segreto«, »Barbiere«, »Italiana in Algeri«, »Elisir d'amore« und »Don Pasquale«. Ich werde nie wieder dergleichen hören. Dieses ganze köstliche Repertoire ist mit der dazu gehörigen Gesangskunst von dem Moloch des »Musikdramas« verschlungen worden. Desirée Artôt, jetzt als Madame de Padilla nur noch als Gesangsmeisterin tätig, gehörte zu den vollkommensten und glänzendsten Sängerinnen. Ohne die geniale Unmittelbarkeit und die frische Sinnlichkeit der Patti zu besitzen, wirkte sie doch bestechend durch den eigentümlich kosenden, weichen Flötenton ihrer Stimme im Mezzavoce und das feine Spitzengewebe ihrer Koloratur. Die rotblonde, starkknochige Belgierin (sie spottete oft über ihr »mâchoir de cheval«) war keine Schönheit, aber in der geistreichen Grazie ihres Vortrags und Spiels erschien sie reizend. Der französische Charakter schlug bei ihr vor, wie bei der Patti das italienische Blut. Der Patti war sie überlegen an musikalischer und allgemeiner Bildung. Adelina, ein sehr unliteratisches Persönchen, interessierte sich für nichts, was außerhalb der Oper, genauer gesagt, außerhalb ihres Rollenkreises lag. Die Artôt hingegen erwärmte sich für jede gute Musik, wenn es darin auch nichts für sie zu tun gab. Sie hatte dasselbe Verständnis und Interesse für das Schauspiel wie für die Oper und ließ nicht nach, bis ich sie in eine französische Vorstellung von Dumas' »Kameliendame« begleitete, ein Stück, das ich nie sehen gewollt und das mich nun durch die trefflichen Leistungen der Bouhelier und Laffierères lebhaft interessierte. Der Artôt verdanke ich auch die erste Bekanntschaft mit Turgeniews Novellen, welche, damals in Wien noch wenig bekannt, mir seither eine Lieblingslektüre geworden sind. So war denn der persönliche Verkehr mit dieser geistreichen, immer gleich heiteren und liebenswürdigen Sängerin anregender und befriedigender als ein Gespräch mit der Patti, die mehr durch ihr Naturell bezauberte. Gerne erinnere ich mich einer kleinen von der Artôt arrangierten Landpartie. Wir fuhren in einem großen Omnibus nach dem »Himmel«, nächst dem Kahlenberg: Desirée nebst ihrer Mutter, [228] Everardi, Richard Lewy, mein Freund Dr. Viktor Pozzi und ich. Oben verfügte sich Everardi gleich in die Küche, band eine weiße Schürze um und kochte. Triumphierend brachte er dann seine Werke ins Freie, wo wir plaudernd und lachend den Abend in lautester Heiterkeit verbrachten.
Bei Desirée Artôt traf ich auch einigemale die ihr befreundete Solotänzerin Katinka Friedberg, die unter ihren Ballettkolleginnen in ähnlicher Weise durch Geist und Bildung hervorstach. Nie hatte man die Verführungsszene in »Robert der Teufel« so gespenstisch schön, mit so genialer Mimik und Aktion darstellen sehen wie von der Friedberg. Die »schöne Teufelin« Heinrich Heines stand leibhaftig vor uns. Ihre Gestalt war stolz und königlich, ihr Tanz eine Verschmelzung von schöner Plastik mit dämonischer Glut. Wenn sie umgeben von dem tanzenden Mädchenschwarm auftrat, so überragte sie alle ihre Genossinnen. Mit solchen Gestalten ist es im Tanz wie mit sehr starken Stimmen im Gesang; sie schmiegen sich Schwerin die zierlich verschlungenen Linien der Koloratur. Der Vorteil ihrer heroischen Erscheinung bot Katinka Friedberg die schönsten plastischen Motive, wurde aber zum Nachteil für alles, was leicht und zierlich, was »Koloratur« im Tanz sein soll. Für die Friedberg hätte ein poetischer Ballettmeister ein Tanzpoem nach Kleists »Penthesilea« schreiben müssen. Sie war eine Deutsch-Russin und hat von der Bühne weg einen Grafen Westphalen geheiratet, auf dessen Gut in Preußisch-Schlesien sie hoffentlich heute noch als stattliche Burgfrau von ihren Triumphen ausruht. Ich besitze von beiden Damen, der Artôt und der Friedberg, eine Anzahl französischer Briefe, die wenige ihrer Kolleginnen ihnen nachschreiben dürften.
Es war ein Verdienst der Artôt, daß die vortreffliche Sängerin Maria Wilt sich der Oper zuwendete. Diese Frau, die Gattin eines namhaften Architekten, hatte ihre schöne Sopranstimme und ihre tüchtige musikalische Bildung durch einige Jahre in Konzertaufführungen, besonders in Oratorien, erfolgreich geltend gemacht. Ihre Sehnsucht, erst heimlich, dann immer lauter, drängte zur Bühne. Alles mahnte sie dringend ab von diesem Schritte. Es sei zu spät, daran zu denken. Frau Wilt war nicht mehr jung, obendrein sehr korpulent von Gestalt und nichts weniger als hübsch. Kein Hauch von Poesie oder Anmut lag auf diesem Typus einer behäbigen, prosaischen Hausfrau; man konnte sie sich[229] nicht vorstellen als Donna Anna, Euryanthe, Valentine. Dem entschiedensten Widerstand begegnete sie in ihrer Familie. Da faßte sie Zutrauen zur Artôt, sang ihr vor und bat sie um ihr aufrichtiges, ja entscheidendes Urteil. Ich war selbst so erstaunt, wie die übrigen näheren Bekannten der Wilt, als mir Desirée am selben Tage erzählte, sie habe Frau Wilt zur Bühnenkarriere ermutigt. Der Erfolg hat ihr Recht gegeben. Allerdings standen die Bühnenleistungen der Wilt nicht auf der Höhe ihres Konzert- und Oratoriengesanges. Aber zu den merkwürdigsten Erscheinungen muß ich sie zählen. Die Wilt hatte, wie erwähnt, den Frühling des Lebens ziemlich weit hinter sich, aber der Klang ihrer Stimme war so jugendlich geblieben, daß der abseits horchende Zuhörer auf ein blühendes Mädchen raten mochte. Ein seltenes Vorkommnis; denn regelmäßig hält Schönheit des Gesichts und der Figur, insbesondere von den Hülfsmitteln der Bühne unterstützt, länger vor als der Reiz der Stimme, für den es keine Schminke gibt. In Paris konnten die Mars in der Tragödie, die Déjazet im Lustspiele noch als bejahrte Frauen jugendliche Rollen spielen, nur weil ihr Organ seinen vollen Wohlklang beibehalten hatte. Die Wilt bewahrte sich diesen jugendlichen Klang viel länger als die meisten bekannten Sängerinnen. Zu dieser seltenen Stimme gesellte sich eine sichere virtuose Technik und ein durch und durch musikalischer, gediegener Vortrag. Das sind die Grundbedingungen, die ersten und wichtigsten, wenn auch nicht die einzigen einer vollendeten Gesangsleistung. Für die maßvollen Empfindungen, die klaren, starken Linien der Oratorienmusik werden diese Vorzüge in der Regel vollauf genügen und für sich allein Großes erreichen. Dem Gesange der Wilt im »Alexanderfest«, in der »Cäcilien-Ode«, in der »Schöpfung«, in Brahms' »Deutschem Requiem« wüßte ich Ähnliches kaum an die Seite zu stellen. Auf der Bühne war sie ein vollendet gespieltes musikalisches Instrument; sie entzückte das Ohr; tiefer drang mir der Eindruck selten. Keine Spur von schauspielerischem Talent, schauspielerischer Bildung. Das Ungenügende ihrer Bühnenleistung lag keineswegs, wie oft behauptet wurde, einzig in der mangelnden Jugend und Schönheit. Es gibt verschiedene Arten von unschönem Äußern: geistvolle Häßlichkeiten, dämonische, gemütliche. Wer erinnert sich nicht an eine und die andere Sängerin (insbesondere aus Frankreich und Italien), deren anfangs abstoßende, unregelmäßige Züge sich im Singen veredelten, vergeistigten,[230] ja, anziehend werden konnten? Ein durch Geist oder tiefes Gemüt unmittelbar fesselndes Seelenleben drängte sich hier durch die widerspenstigen Gesichtszüge gleichsam an die Oberfläche, prägte jede Miene, jede Bewegung und siegte über die ungefällige Form. Solche Vergeistigung und Veredlung von innen heraus war bei der Wilt nicht wahrzunehmen. Man brauche ja nur, so hieß es oft, die Augen zu schließen, um von dem unvergleichlichen dramatischen Vortrag der Wilt hingerissen zu sein. War dies so? Nicht ganz. Nicht bloß aus dem Auge spricht die Seele eines Menschen, auch seine Stimme ist solch ein Fenster; man erkennt bald, wer da heraussieht. Aus dem Tone der Wilt quoll sicheres, musikalisches Gefühl, ruhige Kraft, auch lodernde Leidenschaft, aber jenen Hauch feinerer Bildung, der sich in der geistvollen Nuancierung eines Satzes, eines Wortes verrät, kannte ihr Gesang ebensowenig, wie den Blütenduft zartester Empfindung. Die eigenste Natur dieser Frau, wie wir alle sie im Leben gekannt, versagte auch auf der Bühne das Poetische. Selbst in dem hellblinkenden Metall ihrer Stimme lag etwas, das an den Glanz des sonnenbeschienenen Eises mahnte. Daß die Wilt ihr mächtiges Organ für den Koloraturgesang ebenso geschult hatte, wie für den breiten, pathetischen Vortrag, und imstande war, in den »Hugenotten« nach Belieben die Valentine oder die Königin zu singen, das allein würde sie zu einer seltenen Erscheinung in der Theatergeschichte stempeln. Marie Wilt hat ein erschütternd tragisches Ende genommen. Sie wurde in sehr vorgerückten Jahren von einer heftigen Leidenschaft für einen jungen Mann erfaßt. Diese Neigung blieb unerwidert und aus Verzweiflung darüber stürzte sich die unglückliche Frau von einem vierten Stockwerk auf das Straßenpflaster.
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