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[363] Eines Tages erschien in meiner Wohnung die athletische Gestalt eines kaiserlichen Hofgendarms und überreichte mir ein Schreiben aus der Hofburg. Der mit kräftig geschwungenen lateinischen Lettern geschriebene Brief lautete:


Geehrter Herr! Ich bitte Sie, Montag den 25. um zwei Uhr Nachmittag zu mir zu kommen, um an der Beratung über unser Werk teilzunehmen. Mit den besten Grüßen

Ihr

Wien, den 20. Februar 1884.

Rudolf m/p.


Von dieser Einladung des Kronprinzen hoch erfreut und überrascht, war ich es noch viel mehr von ihrer Form. Die Mitglieder des Kaiserhauses pflegen solche Briefe niemals selbst zu schreiben. Einladungen, Ansuchen oder Dank von Erzherzogen erhält man stets mittels Zuschrift ihres Kammervorstehers, eines hohen Offiziers: »Im Auftrag Seiner kaiserlichen Hoheit des Durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs« usw. Daß Kronprinz Rudolf mich durch ein eigenhändiges und so freundliches Billett zu einer Besprechung einlud, gehörte zu jenen ganz modernen und liebenswürdigen Zügen, die ihn auszeichneten. Diese »Beratung« war[363] vorläufig ein Gespräch unter vier Augen in dem mit verschiedenen Jagd- und Reiseerinnerungen geschmückten Arbeitszimmer des Kronprinzen. Von den Wänden der dahin führenden Säle blickten lebensgroße Bildnisse aller österreichischen Kaiser auf mich nieder – Jahrhunderte österreichischer Geschichte! Der Kronprinz, eine feine, elegante Gestalt, blond, mit freundlich blickenden hellen Augen und sanfter, etwas hoher Stimme, entwickelte mir eingehend seinen Plan. Er beabsichtige ein Werk ins Leben zu rufen, das »in Wort und Bild« eine Schilderung der landschaftlichen und nationalen Beschaffenheit, der technischen, literarischen und künstlerischen Leistungen jedes einzelnen Landes der Monarchie bringen sollte. Er wünsche, ich möchte »die Musik in Wien und Niederösterreich« bearbeiten, außerdem auch sämtliche einschlägigen Aufsätze aus den Provinzen redigieren. Der Kronprinz selbst wolle die Einleitung schreiben und die Schilderung einiger ihm besonders interessanter und genau bekannter Landschaften beisteuern. Es versteht sich, daß ich seiner Aufforderung gern gefolgt bin. Beim Fortgehen ersuchte mich der Kronprinz, seinen Plan und den Inhalt unserer Besprechung vorläufig geheimzuhalten, da er die Bewilligung des Kaisers noch nicht eingeholt habe. Nach wiederholten Einzelbesprechungen mit seinen Hauptmitarbeitern ließ der Kronprinz die erste Gesamtberatung auf den 7. Juni 1884 ansetzen. In der zweiten Sitzung, am 25. Oktober desselben Jahres, machte uns Kronprinz Rudolf freudestrahlenden Auges die Mitteilung, daß der Kaiser die Dedikation des Werkes angenommen und die materielle Unterstützung desselben zugesagt habe. Der Kaiser habe nur die eine Bedingung ausgesprochen, daß das Werk regelmäßig fortgesetzt und unter allen Umständen zu Ende geführt werden müsse. Vielleicht mochte der Kaiser gefürchtet haben, der Kronprinz könnte einmal in seinem leicht erregbaren Temperament des eifrig Begonnenen überdrüssig werden und das Werk unvollendet liegen lassen. Diese Besorgnis wurde von dem Kronprinzen auf das schönste widerlegt. Bis zu seinem Tode hat er unseren Sitzungen, die in einem Teil der Hofburg (der sogenannten »Stallburg«) gewöhnlich um die Mittagsstunde stattfanden, persönlich präsidiert und sich für den Fortgang der Arbeiten auf das lebhafteste interessiert. Er machte den liebenswürdigsten Eindruck. Nachdem er uns Zigarren angeboten und selbst eine angezündet hatte, ließ er von dem Hauptredakteur, Professor Josef von Weilen,[364] die Tagesordnung und den Einlauf mitteilen und brachte die Beratungen in Fluß. Alle seine Fragen und Bemerkungen waren sachlich begründet und mit gewinnendster Bescheidenheit vorgebracht. Erstaunlich fand ich seine Detailkenntnis aller ethnographischen, geographischen und nationalökonomischen Verhältnisse jeder Provinz der Monarchie. Was ich aber am meisten bewunderte, war seine Geduld. Denn Geduld gehörte dazu, um die oft weit abschweifenden, wortreichen Reden manches bejahrten Herrn anzuhören, ohne denselben zu unterbrechen und »zur Sache« zu bitten. Das erste Heft des illustrierten Werkes, »Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild«, erschien am 1. Dezember 1885. Die mit Wärme und lebhafter Anschaulichkeit geschriebene Einleitung (eine Art malerischer Rundschau über Land und Leute der Monarchie) war vom Kronprinzen selbst verfaßt, desgleichen das erste Kapitel des zweiten Heftes »Die landschaftliche Lage Wiens«. Noch in der letzten Sitzung, welcher der Kronprinz beiwohnte (im November 1888), erklärte er sich bereit, die Schilderung der guarnerischen Inseln zu übernehmen, da er dieselben besonders gut zu kennen glaube. Die fünfthalb Jahre zwischen der ersten und der letzten vom Kronprinzen präsidierten Sitzung werden jedem der Mitarbeiter eine teure Erinnerung bleiben.

Unser persönliches Verhältnis zum Kronprinzen gewann an Freiheit und Festigkeit durch die Einladungen, die wir zwei- bis dreimal des Jahres zum Diner erhielten. Es waren außer den zur nächsten Umgebung des Kronprinzenpaares gehörigen Personen meistens sechzehn bis achtzehn Herren versammelt. Der Mehrzahl nach Redakteure und Künstler des »Kronprinzen-Werks«, wie es kurz genannt wurde, mitunter aber auch fremde Gäste. In besonders lebhafter Erinnerung ist mir der (seither verstorbene) Kardinal-Erzbischof Haynald, der sich mit seinem roten Kardinalskäppchen und violettseidenem Talar gar prächtig von den schwarzen Fracks abhob. Er war ein vollendeter Weltmann, geistreich, gesprächig, liebenswürdig. Mit den Worten, er sei ein großer Musikfreund und alter Freund Liszts, den er oft als Gast beherbergt, sprach er mich an und ermunterte mich zu einem Besuch in seiner Residenz Kaloczsa, wo er einen kleinen Gesang- oder Musikverein protegiere. Diese Einladung versäumte ich leider, aber die fesselnde Persönlichkeit des Kardinals, die alle traditionelle geistliche Steifheit und Salbung abgestreift hatte,[365] blieb mir unvergeßlich. Interessant und bedeutungsvoll war es auch, daß entschiedenste Gegner der herrschenden Taaffeschen Politik beim Kronprinzen geladen waren, namentlich der Führer der deutsch-liberalen Partei, Dr. von Plener, Nikolaus Dumba und andere. Der Kronprinz nahm auch keinen Anstand, seinen Antagonismus gegen das Taaffesche Regime im Gespräch leicht durchblicken zu lassen. Einen sehr gemütlichen Tischnachbar hatte ich einmal an dem berühmten ungarischen Romancier Jókai. Er bedeutet für seine Nation ungefähr dasselbe, was für die Franzosen der ältere Alexander Dumas, dem er in leichter, unerschöpflicher Produktion, in naiver Lust am Fabulieren, in erfinderischem Erzählertalent nahe kommt. Im persönlichen Verkehr fand ich den alten Herrn durchaus einfach, ruhig, natürlich. Ich frug ihn, ob der Kronprinz wirklich geläufig ungarisch spreche? »Wie ein Bauer«, antwortete Jókai, um damit das denkbar beste Zeugnis für die Sprachfertigkeit des Kronprinzen auszudrücken. Außer den bereits genannten waren noch als häufigste Gäste an der Kronprinzentafel Graf Hans Wilczek, der österreichische Historiker Geheimrat von Arneth, der gelehrte Ethnograph Graf Gundacker Wurmbrand (jetzt Handelsminister), Dombaumeister Friedrich Schmiedt, Galeriedirektor von Engerth, die Hofräte J. W. Exner, Jakob Falke, Josef von Weilen, die Professoren Karl von Lützow, Zeißberg, Menger, die Maler Trenkwald, Schindler, Lichtenfels und andere. Daß ein österreichischer Kronprinz Diners für Künstler und Schriftsteller gab, nicht bloß für Generale und Geheimräte, war bis dahin unerhört. Nach dem Diner, welches, dank dem schnellen Servieren, nicht sehr lange dauerte, wurde im anstoßenden Saal Cercle gehalten. Der Kronprinz wie die Kronprinzessin sprachen mit jedem von uns und fast mit jedem von seinem Fach. Was mich oft in Erstaunen setzt, ist das außerordentliche Personengedächtnis der hohen Herrschaften. Sie erkennen jeden und merken sich jeden, der ihnen einmal vorgestellt ward. Der Kronprinz kannte allerdings seine Mitarbeiter von einigen Sitzungen her; die Kronprinzessin Stephanie jedoch, erst kurze Zeit in Österreich und an allen diesen Herren weit weniger interessiert, stand ihm kaum nach in augenblicklichem Erkennen und rascher Geistesgegenwart der Ansprache. Es ist dies keine Kleinigkeit und nur dadurch erklärlich, daß das Physiognomiegedächtnis der Prinzen und Prinzessinnen schon in der Jugend systematisch geübt wird. Wenn jemand an diesen Abenden noch[366] mehr Herzen erobert hat als der Kronprinz, so ist es seine Gemahlin, die Kronprinzessin Stephanie. Dem Zauber dieser hohen, schönen Gestalt mit dem treuherzigen Blick und dem überaus freundlichen Lächeln konnte sich der trockenste Gelehrte, der älteste Hofrat nicht entziehen, – von den Malern natürlich ganz zu schweigen. Schon während der Brüsseler Feste 1880 hatte ich so einmütiges Lob dieser vom Volke angebeteten Prinzessin vernommen, daß mein patriotisches Herz über die Wahl unseres Kronprinzen jubelte. Als große Musikfreundin, die selbst gern singt und Klavier spielt, wurde sie den Wienern eine doppelt freudige Erscheinung. Musikliebe und Musiktalent, bei den österreichischen Monarchen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts so mächtig hervorragend, haben seither gleichsam eine Pause gemacht am Wiener Hof. Kaiser Franz Joseph und einige Erzherzoge erscheinen zwar mitunter in der Oper, aber niemals in Konzerten. Die seit lange ganz verwaiste Loge im großen Musikvereinssaal belebte sich nun wieder zur Freude der Künstler und des Publikums. Die Kronprinzessin fehlt in keinem Philharmonischen oder Gesellschaftskonzert. Freude an ernster Tonkunst, an sinfonischer und Chormusik ist aber der rechte Prüfstein für musikalischen Sinn. Mit welcher Aufmerksamkeit und Auffassung die Kronprinzessin Musik hört, das entnahm ich aus mancher ihrer Ansprachen. Den Vorwurf, daß ich »schrecklich streng« sei als Kritiker, mußte ich freilich mit hinnehmen. Die Kronprinzessin spricht mit weichem, sehr wohllautendem Organ ein vortreffliches Deutsch, das durch einige leichte französische Anklänge – z.B. »Schübèr« statt Schubert – nur noch reizender klingt. Der Musik gegenüber nahm der Kronprinz eine ganz andere Stellung ein, tatsächlich ein Gegenüber. »Ich mache mir gar nichts aus Musik«, gestand er mir wörtlich; »die einzige Musik, die mich unterhält und der ich stundenlang zuhören könnte, ist – Zigeunermusik«. Ich war auch so glücklich, dem Bruder unserer Kaiserin, Herzog Carl Theodor von Bayern, vorgestellt zu werden. Bekanntlich nimmt der Herzog unter seinen hohen Standesgenossen eine ganz exceptionelle Stelle ein; er ist Doktor der Medizin und (nach Ausspruch Billroths) ein ganz ausgezeichneter praktischer Augenarzt. Diesen Beruf übt er zum Wohle der armen Bevölkerung teils in Meran, teils in Tegernsee mit rastloser Hingebung aus. Um den Fortschritten der Wissenschaft zu folgen, kam der Herzog durch mehrere Winter für einige[367] Wochen nach Wien, hospitierte in den Spitälern und verfolgte mit besonderem Interesse die chirurgischen Operationen Billroths. Nach den Anstrengungen eines solchen Vormittags pflegte er häufig Billroth mit zwei jüngeren Ärzten zu einem Frühstück einzuladen, dem auch ich einigemal beigezogen wurde. Rührend war mir die liebevolle, fast unterwürfige Bescheidenheit, welche der Herzog im Verkehr mit dem »Herrn Hof rat« festhielt; er fühlte sich Billroth gegenüber immer nur als der Schüler vor dem Meister. Der Herzog nahm auch großes Interesse an Musik und rühmte mir das Musiktalent seiner Tochter, der jungen Prinzessin Amalie. Auf ihren Wunsch mußte ich mich in ihr Album einschreiben, welches ich dann, vom Herzog aufgefordert, ihm persönlich in die Hofburg überbrachte. Ich empfand es dankbar als ein schönes Erlebnis, dort der Herzogin vorgestellt zu werden, welche in der ärztlichen Praxis ihres Gemahls eine ebenso edle Rolle übernommen hat wie er selbst. Ja, es ist noch bewunderungswürdiger, daß eine so hohe Dame bei allen Operationen des Herzogs ernstlich und geschickt assistiert mit allen nötigen Handreichungen. Ein seltenes, in dem selbstgewählten edlen Beruf ganz einziges Menschenpaar! Beim nächsten Frühstück konnte ich mein Bedauern nicht verschweigen, die Prinzessin Amalie nicht gesehen zu haben. »Aber Amalie hat Sie gesehen!« erwiderte lächelnd der Herzog. »Sie hat während ihres Besuchs an der halb offenen Türe gestanden, traute sich aber nicht hereinzukommen.« Ist das nicht allerliebst?

Eines der interessantesten Diners beim Kronprinzen war das, an welchem einmal der Erzherzog Johann teilnahm. Kleiner als der Kronprinz, fast unansehnlich, fiel er nur durch den lebhaften Ausdruck von Intelligenz auf. Er war ungemein begabt, ein heller, vorurteilsfreier Kopf, dabei etwas zerfahren und unstet. Den lästigen Gesetzen der Etikette, welche sein Stand ihm vorschrieb, vermochte er sich schwer zu fügen und geriet mehr als einmal in Konflikt mit dem Hofe. Auch mit dem Kronprinzen war er eine Weile überworfen; dieser hatte jedoch, die hohen Fähigkeiten und den edlen Charakter seines Vetters erkennend, der Spannung ein Ende gemacht mit den Worten: »Sollten denn nicht gerade wir Zwei zusammenhalten?« Zwei Tage vor dem Diner, von dem ich spreche, im Januar 1884, hatten die beiden Prinzen ein interessantes Abenteuer bestanden: die Entlarvung des Spiritisten Bastian. Erzherzog Johann erzählte uns den Vorfall nach Tische[368] mit dramatischer Lebendigkeit. Dieser Bastian hat in Wien »spiritistische Séancen« veranstaltet, in welchen er die Geister Verstorbener zitierte. Kronprinz Rudolf und Erzherzog Johann hatten sich vorgenommen, den Schwindel zu entlarven, und tatsächlich gelang es ihnen, den von Bastian zitierten »Geist« zu erwischen. Sie hatten die Veranstaltung getroffen, daß die Tür des Nebenzimmers durch ein sinnreich konstruiertes mechanisches Gitter ersetzt wurde, welches so geschickt angebracht war, daß es Bastian nicht sehen konnte. Als nun der »Geist« in der Séance erschien, drückte der Kronprinz auf einen an der Wand angebrachten Knopf, das Gitter klappte zu und schnitt dem »Geist« den Rückzug ins Jenseits des dunklen Zimmers ab. Es wurde Licht gemacht – und in der Mitte des Zimmers stand der »Geist« Bastian in körperlicher Person mit sehr unspiritistisch wollenen Socken über seinen Schuhen und einem langen Leintuch.

Wie heiter und mitteilsam bewegten sich die beiden Prinzen an diesem Abend, während das Unheil schon über ihren Häuptern lauerte! Erzherzog Johann war vom Kronprinzen in das »Direktionskomitee« des Werkes gewählt worden, nahm aber diese Berufung nicht an; hingegen wollte er einen Beitrag über »das Baufach in Oberösterreich« liefern, auch die Redaktion des ganzen Abschnittes »Oberösterreich« übernehmen. Es ist weder zu dem einen noch zu dem andern gekommen. »Ein Zufall,« schreibt er an Weilen, »hat, zu meinem innigsten Bedauern, meine Teilnahme an dem großen Werke des Kronprinzen ausgeschlossen.« Überspannte Empfindlichkeit und »das alte Mißtrauen, nicht seiner Persönlichkeit die Beteiligung zu verdanken«, mag es hauptsächlich verschuldet haben, daß das Kronprinzen-Werk nicht eine Zeile von der Hand des Erzherzogs enthält. Auch musikalisches Talent besaß der so vielseitig begabte Prinz. Er sandte mir aus Linz, seiner Station als Kommandierender, eine von ihm komponierte recht hübsche Tanzmusik mit folgendem Billett: »Ich erlaube mir Ihnen meinen letzten Walzer ›Am Traunsee‹ zu übersenden, mit der Bitte um freundliche Annahme und sehr, sehr viel Nachsicht! Ihr ergebener Erzherzog Johann.« Er mochte wohl damals nicht vermuten, daß es wirklich sein letzter Walzer war. Im Jahre 1887 trat er aus der österreichischen Armee aus. Bald darauf legte er aus freiem Antrieb alle seine Würden, Auszeichnungen und Standesrechte nieder, hörte auf, österreichischer Erzherzog zu sein und nahm den bürgerlichen Namen Johann[369] Orth an, von der kleinen Halbinsel Orth am Gmunder See, wo seine Mutter, die noch lebende Großherzogin von Toscana, ein Schloß bewohnt. Sein edler, aber rücksichtsloser, unbändiger Drang nach Freiheit duldete nicht länger die vielen Hemmungen und Widersprüche, mit denen ihn die Traditionen und Vorschriften seiner hohen Stellung umklammerten. Er mag im Innern einen schweren Kampf gekämpft haben. »Glauben sie mir,« schrieb er an seinen ehemaligen Lehrer, Professor Weilen, im Februar 1888, »ich weiß, daß ich gefehlt; doch habe ich auch einen Prozeß in mir durchgemacht, den ich nicht meinem ärgsten Feind wünsche – der, ich gestehe es offen – vorübergehend meinen Geist gebrochen und mein Gemüt getrübt hat.« Wie tief schmerzlich klingen seine Zeilen aus Orth am 22. November 1888 an Weilen: »Mein Leben – es ist kein Leben – mein Dasein sieht genauso aus wie die nebligen, düsteren, aussichtslosen, inhaltlosen Herbsttage im Gebirge. Warum kann man die Menschenseele nicht um fünf Gulden stimmen wie ein Klavier?« Erzherzog Johann ging als »Johann Orth« nach England, machte die vorgeschriebene Schiffskapitänprüfung, kaufte ein Schiff und segelte mit demselben nach dem Kap Horn in Südamerika. Es leidet heute keinen Zweifel mehr, daß er daselbst mit Schiff und Mannschaft zugrunde gegangen ist. Was hätte der hochbegabte, unglückliche junge Prinz seinem Vaterlande werden können!

Aber Österreich war ein noch größerer Verlust beschieden. Es durchzuckt mich wie ein brennender physischer Schmerz, sooft ich daran erinnert werde. Am Nachmittag des 30. Januar 1889 durchlief ein Gerücht die Stadt: der Kronprinz sei tot! Erschreckt, aber ungläubig schüttelte man anfangs den Kopf, war doch der Kronprinz tags zuvor gesund und rüstig gesehen worden. Da brachten die Abendblätter die entsetzliche Nachricht von dem Selbstmord des Kronprinzen auf seinem Jagdschlößchen Meyerling. Die trostlose, verzweifelte Aufregung, die sich der ganzen Bevölkerung bemächtigte und tagelang anhielt, ist nicht zu beschreiben. Ich habe in Wien die traurigsten Katastrophen erlebt: Revolutionen, unglückliche Feldzüge, verlorene Provinzen, mörderische Verheerungen durch Wasser und Feuer – nichts von alledem war diesem grauenvollen 30. Januar entfernt zu vergleichen. Der letzte tiefe Seelengrund, aus welchem der unglückliche Wahn des Kronprinzen erwuchs, wird wohl nie erforscht,[370] kaum auch nur gemutmaßt werden. Über der Tragödie von Meyerling liegt ein ewiger Schleier.

Das Leben ist unwahrscheinlicher und grausamer in seinen Erfindungen als der verwegenste Romandichter. Wann haben wir drei so furchtbare Tragödien hintereinander erlebt wie den Selbstmord des Königs Ludwig von Bayern (1886), das Siechtum und den Tod Kaiser Friedrichs (1888) und (1889) das Ende des Kronprinzen Rudolf!

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 363-371.
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