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[62] Mein Osterausflug nach Wien war nur dem Vergnügen gewidmet; ich konnte, jeder Sorge und Arbeit ledig, mich ganz dem Rausch der neuen Eindrücke hingeben. Als ich wenige Monate später nach Wien übersiedelte, um dort meine Universitätsstudien zu beenden, hatte die Sache schon ein ernsthafteres Gesicht. Indes – das letzte Jahr des Studentenlebens ist noch immer heiterer und poetischer als das erste im Staatsdienst und alle folgenden. Das Studium, obwohl nicht vernachlässigt, ließ mir doch[62] freie Zeit genug für anderes, was mich mehr interessierte als die österreichische Gerichtsordnung und die Verwaltungsgesetze. Ich hatte in der Vorstadt Landstraße, dem damaligen Studentenviertel, ein kleines möbliertes Zimmer gemietet, das monatlich vier Gulden kostete. Das ist ein Beispiel von der Billigkeit im vormärzlichen Wien. Ein ganz anständiges, mäßiges Mittagsmahl war mit zwanzig Kreutzern C.M. zu bestreiten. Gleich beim Erwachen freute ich mich auf ein angenehmes halbes Stündchen: das Frühstück in einem Kaffeehause in der Wollzeil, ganz nahe der Universität. Es war mir, der ich, sehr häuslich erzogen, in Prag niemals ein Kaffeehaus besucht hatte, eine Wonne, mich zu einer Portion guten Kaffees mit köstlichem Wiener Gebäck auf den rotsammetnen Diwans des eleganten Kaffeehauses niederzulassen und die Wiener Zeitschriften durchzublättern: Frankls »Sonntagsblätter«, Saphirs »Humorist«, Bäuerles Theaterzeitung, den »Wanderer«, den »Sammler« und was sonst damals an gemütlich unpolitischen Journalen in Wien blühte. Da geschah es freilich an manchem kalten, dunkeln Wintermorgen, daß ich mich etwas verspätete und der Glockenschlag Acht mich noch im Kaffeehaus überraschte. Es war zu spät, rechtzeitig zur ersten Vorlesung einzutreffen. Ich machte mir keinen besonderen Kummer darüber, war doch die Achtuhrstunde dem einschläferndsten Professor des allerlangweiligsten Gegenstandes gewidmet. Punkt neun Uhr war ich und viele andere an der Türe des Hörsaales. »Hat er Namen verlesen?« war unsere Frage. Nein! Nun, da war ja alles gut. Nur die »Absenz« hätte uns verdrossen, und auch diese war am Ende kein so großes Unglück. Die zweite Stunde habe ich niemals versäumt; der Gegenstand, Nationalökonomie, war mir interessant, und der Professor Eduard Tomaschek fesselte mich durch seinen klaren, von einem wohllautenden, weichen Organ unterstützten Vortrag. Er war ein noch junger Mann, begabt und von moderner Bildung, der später als Hofrat im Unterrichtsministerium mein liebenswürdiger Vorgesetzter und mir zeitlebens freundschaftlich zugetan blieb. Einen anderen anregenden Professor als ihn wüßte ich aus meiner eigenen Wiener Erfahrung nicht zu nennen. Gerne hätten wir literarisch strebsamen jungen Leute ein oder das andere außerordentliche Kollegium gehört, aber die dafür angestellten Professoren wirkten abschreckend, und Privatdozenten gab es nicht. Ein eigentliches »Studentenleben« habe ich nie gekannt. Es gab keine Burschenschaften,[63] keine Verbindungen, keine Kommerse. Jeder von uns lebte und studierte für sich, was jedenfalls nicht schlechter ging als in Verbindung mit Trinkgelagen und Schlägereien. Nach dem Muster deutscher Universitätsstädte begann ein Studentenleben in diesem Sinne bei uns erst im Jahre 1848, also nachdem ich die Universität verlassen hatte. Es feierte in Wien seine Neuexistenz mit zwei in ganz Deutschland allbekannten Liedern, die ein wunderlich gütiges Schicksal nur für Wien gleichsam aufgespart hatte. Reichhardts »Was ist des Deutschen Vaterland« und das Fuchslied »Was kommt dort von der Höh«. Und was im Revolutionsjahr die Wiener Studenten sangen, das sang das ganze Volk.

Im Hause meiner Verwandten fand ich manche Anregung, manches Vergnügen und viele für meine Zukunft wichtige Anknüpfungen, die in Prag nicht möglich waren. Onkel Jaburek, ein angenehmer, freundlicher Mann, hatte in Wien zwei Vettern, mit deren Familie wir einen lebhaften Verkehr unterhielten: den Hofrat im Obersthofmeisteramt Baron Forstern und den General-Auditor von Dratschmiedt. Das Haus des Letzteren ist mir jahrelang ein unschätzbares Asyl intimen und künstlerischen Verkehrs gewesen. Baron Forstern verfügte in seiner dienstlichen Stellung über Freikarten ins Burgtheater und in die Oper, die uns sehr oft zu Gebote standen und mir um so wertvollere Genüsse verschafften, als die Börse des Studenten nicht allzu reichlich gefüllt war. Als ein besonderes Glück empfand ich die immer gute Laune meines Onkels und meiner Tante. Man kann oft die Wahrnehmung machen, daß kinderlose, in ungestörter Harmonie lebende Ehegatten sich eine heiterere Weltanschauung, ihren Freunden und Bekannten eine freundlichere Laune bewahren, als Eltern, die, von der Sorge für ihre Kinder bedrückt, für jedes Glücksgefühl leicht absterben. Es ist eine Art Ersatz für den Kindersegen, daß solche Elternpaare mehr von den Freuden der Außenwelt genießen, sich ein behaglicheres Leben bereiten können, was dann auch erwärmend auf ihre Umgebung ausstrahlt. Wie jedoch auch eine sehr zahlreiche Familie bürgerlichen Mittelstandes sich eine ewig heitere Laune und Lebenslust bewahren könne, das war nirgends schöner zu sehen als in dem Hause meines Onkels Dratschmiedt. Heiter und liebenswürdig wie die beiden Eltern, zeigten auch ihre Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter im Alter von fünfzehn bis einundzwanzig Jahren, die reizendste Verschmelzung von humaner Bildung und echt wienerischem, sanguinischem[64] Temperament. Viele meiner Wiener Leser dürften sich noch der stattlichen, würdevollen Erscheinung des General-Auditors Friedrich Dratschmiedt von Mährentheim erinnern, dessen blaue Augen und rosig angehauchtes Gesicht unter dem dichten, schneeweißen Haar uns doppelt sympathisch anblickten. Nie hat ein milderer Mann den Säbel getragen, nie ein humanerer Geist das Militärstrafgesetz gehandhabt. Der Bürodienst hatte seine Liebe für Kunst und Wissenschaft, insbesondere für Musik und Poesie nicht im mindesten abgeschwächt. Er war ein guter Vorleser und sang noch als alter Herr mit tiefer Empfindung Schubertsche Lieder. Sein Lieblingslied »An die Musik« haben wir scherzhaft die »Dratschmiedtsche Volkshymne« genannt. Mehrere Jahre bekleidete dieser General mit Eifer und Erfolg das Ehrenamt eines Präsidenten der »Gesellschaft der Musikfreunde«. An den intimen Abenden bei Dratschmiedt wechselte Musik mit schöner Literatur ab. Einmal las uns Bauernfeld sein neuestes Drama »Franz von Sickingen« aus dem Manuskript vor; ein andermal übernahm Onkel Dratschmiedt die Lektüre des eben erschienenen Schauspiels von Hendrik Herz »König Renés Tochter«; Josef Lewinsky, das jüngste Mitglied des Burgtheaters, erfreute uns mit dem Vortrag der schönsten Grillparzerschen Gedichte, und Clara Schumann, die mit ihrer Tochter wiederholt bei Dratschmiedt wohnte, folgte mit ihrem herrlichen Klavierspiel. Auf meine Bitte spielte sie dort auch manche mir besonders teuere Stücke von Schumann, die sie damals öffentlich vorzutragen noch für gewagt hielt; wie die »Humoreske« op. 20, die Symphonischen Etüden u.a.

Eine so anmutige, fast ununterbrochene Geselligkeit konnte von einer nicht reichen Familie freilich nur zu einer Zeit gepflegt werden, da man weit genügsamer und anspruchsloser lebte als heutzutage. Man konnte viel häufiger Freunde bei sich sehen, weil diese kein großes Souper erwarteten; man gab anstatt eines kostspieligen, großen Balles drei oder vier bescheidene Hausbälle, bei denen es ungezwungen herging und alles sich köstlich unterhielt. Einige junge Herren waren immer da, welche am Klavier abwechselnd zum Tanze spielten. Dieses Talent und diese Bereitwilligkeit findet man heute viel seltener unter der männlichen Jugend. Mit großartigem Humor pflegte Josef Hellmesberger, der vortreffliche Violinist und Konservatoriums-Direktor, in seiner Wohnung Hausbälle als Muster wohlfeilster Unterhaltung unter[65] dem Titel »Würstelbälle« zu geben. Es wurde dabei nichts anderes serviert als »Würstel mit Kren«, Semmeln und Bier, – alles vortrefflich und in Hülle und Fülle. Niemand durfte in Frack oder Balltoilette erscheinen, man tanzte in bequemem Sommeranzug. Ein ausgezeichneter Walzerspieler arbeitete unermüdlich auf den Tasten, ebenso unermüdlich tanzten die Gäste, größtenteils heiteres Künstlervölkchen, bis zum Morgengrauen. Nirgend war man so lustig, nirgend so ungezwungen, als auf so einem Hellmesbergerschen Würstel-Hausball. Der Hausherr heimste mehr Dank dafür ein als für das glänzendste Ballfest – und hatte doch so wenig ausgegeben!

In allen Dingen herrschte eine heitere Anspruchslosigkeit in den Familien unserer höher gestellten Beamten. Ausflüge in die Umgebung wurden immer im Omnibus gemacht oder in der dritten Eisenbahnklasse. Man konnte sich eben mit so bescheidenem Sinn viel mehr Vergnügen gönnen. Sperrsitze oder Logen waren ein seltener Luxus; meine Verwandten gingen mit ihren Familien ins zweite Parterre. Da existierte eine jetzt aufgehobene, wunderliche Praxis. Weil man sich gute Plätze sichern und doch nicht ein bis zwei Stunden früher schon dort sitzen wollte, schickte man seine Dienstboten hinein; diese zahlten an der Kasse ihre Eintrittskarten und verharrten auf den Plätzen, bis ihre Herrschaft kam, dann machten sie dieser Platz und ließen sich an der Kasse ihr Geld zurückgeben, wozu sie das Recht hatten, solange die Vorstellung noch nicht begonnen. Es war ein überaus komischer Anblick, in den Hoftheatern von sechs bis gegen sieben Uhr lauter Köchinnen und Dienstmädchen in Hauben und Kopftüchern im Parterre sitzen zu sehen. Mit der Zeit wurde dieses regelmäßige Geldzurückgeben an die »Platzaufheber« den Kassierern doch zu toll, und diese patriarchalische Stellvertretung ward untersagt. Wer einmal auf seinem Sitze saß, mußte sitzenbleiben. So angenehm durch heitere Zwiesprach gewürzte Theaterabende wie im zweiten Parterre habe ich kaum wieder genossen auf den bequemen Parkett- und Logenplätzen meiner späteren Zeit. Und so lustige Sylvesterabende auch nicht. Onkel und Tante Jaburek sind im rüstigsten Alter rasch weggestorben; von der Familie Dratschmiedt lebt nur die jüngste Tochter noch, die immer lustige Sophie, als Frau des Malers Alois Schönn. –

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 62-66.
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