III. Lesegesellschaften.

[97] In meiner Jugendzeit wurde viel mehr gemeinschaftlich gelesen als jetzt. Theils kaufte man damals noch weniger schönwissenschaftliche Bücher, während es doch in Berlin zu jener Zeit nur Eine irgend wohlversehene Leihbibliothek gab, die Viewegsche in der Spandauerstraße, theils bezweckte man, sich über das Gelesene gegenseitig zu verständigen. Wie es denn überhaupt hinsichtlich der Mittel, welche man ergriff um sich zu bilden, und die Art, auf welche Jeder im geselligen Verkehr sein Wissen Anderen mittheilte, anders stand als jetzt. Einmal schon sprach man unbefangen und rückhaltslos aus, man habe das Bestreben sich zu bilden, ein Wort, welches jetzt beinah lächerlich geworden ist. Weil man aber die Absicht und das Verlangen darnach aussprach, fanden sich sehr tüchtige Männer, und später, als die Pedanterei schon mehr einer freieren Bewegung Platz gemacht hatte, selbst berühmte Gelehrte, welche es nicht unter ihrer Würde hielten, den so Strebenden ihr Bestes mitzutheilen. Oft trugen sie in geselligen und sehr gemischten Kreisen vor, was unsere heutigen Gelehrten vielleicht nur Studierenden und Studierten vorzutragen der[98] Mühe werth achten würden. Eben so vereinigten sich sogar Gelehrte aller Fächer, Philologen, Philosophen, Theologen, Juristen u.s.w. mit Frauen und Männern, welche an Wissen und Urtheil weit unter ihnen standen, um sich miteinander an Erzeugnissen der schönen Literatur zu erfreuen, welche man sich, wie gesagt, zu diesem Zwecke vorlas.

Daß unter solchen Verhältnissen die Fähigkeit gut vorzulesen lebhaft angestrebt wurde, ist begreiflich. Auch mein Mann achtete dies Talent sehr, und kurz nach unserer Verlobung fragte er mich, ob ich lesen könne? – Da er mich während meines Brautstandes, und namentlich während der ersten Zeit desselben meist wie ein Kind behandelte, – und in der That war ich dies, denn ich zählte damals kaum dreizehn Jahre, und wurde auch im Hause selbst als Braut zu meinem großen Verdrusse noch so genannt – so bezog ich diese Frage auf das Mechanische des Lesens, und fühlte mich um so mehr durch sie gekränkt, als ich nicht nur schon fast die ganze Viewegsche Leihbibliothek zweimal durchgelesen hatte, sondern auch einst auf dem Wege dahin, einen schauerlichen Roman in der Hand, vor seinem Fenster zu welchem er eben hinaussah, ausgeglitten und hingefallen war; was er meiner Meinung nach, um so weniger hätte vergessen dürfen, als meine Beschämung darüber ihm nur zu sichtbar geworden war. Thränen rollten über meine Backen, und kaum vermochte ich ein leises: Ja! herauszubringen. Er bat mich nun, ihm etwas vorzulesen. Aber nach den ersten Zeilen schon sagte er, lächelnd zwar, doch mit der ihm eigenthümlichen witzigen Schärfe: »das nenne ich: ablesen!« – Nun las er mir seinerseits vor, und er las ganz vortrefflich. Jetzt verstand ich erst was er gemeint[99] hatte, und erklärte ihm, nun müsse ich freilich gestehen, nicht lesen zu können. »Ich werde es Sie lehren!« – sprach er; und ich mußte mir schon den, meine Eitelkeit verletzenden, aber mir sehr förderlichen Unterricht gefallen lassen.

Ich las später, wie man mir sagte, gut. Als ich einmal Göthes »Fischer« in Gegenwart Zelters las, schien dieser sehr erfreut von der Art meines Vortrages des Gedichts, ja er sagte dem Dichter davon. Es zeugt von Göthes trefflichem Gedächtniß, selbst für Unbedeutendes, daß er, als ich ihn nach Jahren in Dresden sah, Zelters Bericht noch in der Erinnerung hatte. Ich dankte diesem sehr freundliche Aeußerungen des Dichters über die Sache. –

Eine der frühesten Lesegesellschaften deren ich mich erinnere, war die, welche sich wöchentlich im Hause meiner, ein Jahr früher als ich verheiratheten Freundin Dorothea Veit, der Tochter Mendelssohns, später Friedrich Schlegels Gattin, versammelte. Zu ihr gehörten außer dieser Freundin und mir unter Andern mein Mann, Moritz, David Friedländer und eine zweite Tochter Mendelssohns. Gewöhnlich wurde Dramatisches gelesen, und ich darf sagen, gut. Mendelssohn war uns ein fleißiger und aufmerksamer Zuhörer. Aber wie schlichen wir auch um ihn herum, um ein Wort des Urtheils von ihm zu hören! War es gar ein beifälliges, wie glücklich waren wir! – Der Weise war so gut und mild in seiner Weisheit. Dabei liebte er den Scherz, aber der Seine war nie beißend. Selbst seinem Tadel wußte er eine anmuthige, ja wohlthuende Form zu geben. Ich war verwöhnt, weil man mir huldigte, und geneigt selbst über harmlose Neckereien empfindlich zu werden. Als dies eben einmal wieder der Fall gewesen war, tadelte[100] er mich ernst deshalb, schloß aber mit den Worten. »Sie sollten doch so etwas ruhig ertragen können!« –

Etwas später, etwa um das Jahr 1785, bildete sich eine Lesegesellschaft, an welcher die ausgezeichnetesten Männer Berlins von den verschiedensten Fächern und Altern Theil nahmen. Ich will unter ihnen nur Engel, den stets alten und etwas pedantischen Ramler, Moritz, Teller, Zöllner, Dohm, den Juristen Klein und meinen Mann nennen. Auch die weiblichen Mitglieder ihrer Familien gehörten ihr an. Außerdem aber auch die beiden sechszehn- bis achtzehnjährigen Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, damals schon von feiner Sitte, lebendig, geistreich, kurz durchaus liebenswürdig, und von umfassendem Wissen. Sie waren zu jener Zeit schon in unser Haus ein geführt, und so konnte es denn bei ihrem Interesse für alles Schöne, welchem sich später wohl auch Einiges für die Schönen unserer Gesellschaft beimischte, nicht fehlen daß sie dieser angehörten.

Die Versammlungen fanden stets bei dem Kastellan des Königlichen Schlosses, Hofrath Bauer, statt, dessen Frau ihrer Zeit den Anspruch machte, ein bel-esprit zu sein, und zwar im Winter im Schlosse, im Sommer in einem Garten, welchen Bauer vor dem Königsthore besaß. Gelesen wurde jedesmal. Kleinere und größere Aufsätze, lyrische und epische Dichtungen, Dramatisches u.s.w. wechselten ab, und sowohl Männer als Frauen lasen vor. Aber im Winter tanzten wir Jüngeren nach dem frugalen Abendessen, und ich erinnere mich, daß Alexander von Humboldt mich an einem jener Abende die damals noch neue Menuet à la Reine lehrte, und im Sommer spielten wir allerlei gesellige Spiele im Freien, bei welchen sich jedoch oft auch die Aelteren[101] betheiligten, schlugen Ball u.s.w. Diese Allotria wurden freilich stets nur zu großer Unzufriedenheit der Frau Bauer getrieben, welcher nie genug gelesen werden konnte.

Engel präsidirte gewissermaßen in dieser Lesegesellschaft. Er führte die Irrenden auf den richtigen Pfad, und zwar im Winter von einem Platze hinter dem Ofen aus, welchen er stets einnahm wann er nicht las. Ich erinnere mich noch, daß als eines Abends Frau Bauer das Wort: Kritiker in einem Aufsatze, in welchem dasselbe wiederholt vorkam, stets: Krĭtīkĕr aussprach, Engel nicht müde wurde, den Fehler zu corrigiren. »Krītĭkĕr«, erschallte es immer von Neuem von hinter dem Ofen her, und, wie die Folge bewies, immer vergebens. Die Sache war allerdings geeignet, den Anwesenden ein Lächeln abzunöthigen, aber deshalb erschien uns die Frau noch nicht lächerlich, und Engel und alle die anderen Notabilitäten unseres Kreises erschienen sich nicht so, in ihren literarischen Unterhaltungen eine solche Frau zur Genossin zu haben. –

Etwas später bildete sich ein sogenanntes »Theekränzchen«, in welchem jedoch ebenfalls öfter gelesen wurde, und an welchem unter Anderen G.v. Brinkmann, Graf Christian Bernstorff, Ancillon, Gentz und Leuchsenring Theil nahmen, welches jedoch auch von solchen Freunden, die sich in Berlin damals nur zeitweise aufhielten, wie z.B. von Dohm und Carl Laroche bei ihrer Anwesenheit hier stets besucht wurde. –

In den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts endlich wurde eine Lesegesellschaft gegründet, welche sich noch bis jetzt erhalten hat. Ihr Gründer war Feßler, welcher sich durch sie vielleicht das beste Andenken erwarb, welches er[102] in Berlin hinterließ, da seine anderweite Thätigkeit hier, oft nicht mit Unrecht, vielfach angegriffen wurde. Diese Gesellschaft jedoch, welche noch heute unter dem Namen der Mittwochs-Gesellschaft besteht, hat sehr förderlich gewirkt. Sie versammelte sich damals im Englischen Hause. Auch an ihr nahmen gleich anfangs Männer der verschiedensten Fächer Theil, Gelehrte, Künstler, Staatsmänner. Aber Frauen waren auch hier nicht ausgeschlossen, ja sie waren thätige und gern gesehene Mitwirkende. Zu den ersten Theilnehmern gehörten unter Anderen Herz, Fischer der Physiker, Hirt, Schadow und der große Schauspieler Fleck. Herz las hier wissenschaftliche Abhandlungen aus verschiedenen Fächern, Fischer physikalische, die er durch Experimente erläuterte. Schönwissenschaftliches fehlte auch hier eben so wenig als Dramatisches, und Keiner las das Letztere schlechter, als der, welcher der erste Stern an einem damals wahrhaft glänzenden Theaterhimmel war, als Fleck. Ihn inspirirten nur die Bretter. Auf ihnen sprach er hinreißend, jedes Gefühl mit unnachahmlicher Wahrheit ausdrückend, jedes Gefühl unwiderstehlich in dem Hörer anregend.

Freilich mußte man auch in dieser Gesellschaft hinsichts der geistigen Kost bisweilen genügsam sein; immer aber hinsichts der leiblichen, denn man aß nach dem Lesen ungemein schlecht. Und dies bei einigen Talglichten, die kaum mehr als einen Dämmerschein über einen Saal, lang und schmal wie ein Darm, verbreiteten. Aber Keiner war anspruchsvoll, Keiner that vornehm, und so störten uns denn diese Aeußerlichkeiten nicht. –

Man las damals anders als jetzt, sowie auch auf der Bühne anders gesprochen wurde als jetzt. Zunächst meist[103] mit gerundeter, klangvoller Stimme. Denn wer vorlesen oder gar die Bühne betreten wollte strebte vor Allem sein Organ zu bilden. Die Annahme, daß die wohlthuenden Stimmen, welche man damals von den Brettern herab hörte, und deren einige noch in die neuere und neueste Zeit hinüberreichten, z.B. in der Bethmann, in Beschort, in der Schröck, eben nur Gaben der Natur waren, würde sehr irrig sein. Die damaligen Bühnenkünstler hielten vielmehr die sorglichste Ausbildung ihres Organs für eine ihrer ersten Berufspflichten. Sie glaubten nicht, man spreche tönend, rund, weich, weil man überhaupt spreche, wie sie auch nicht einmal glaubten, man gehe auf eine gefällige Weise, weil man sich überhaupt gehend fortbewegen könne; sie lernten Beides. Dafür ersparten sie sich andererseits manche Mühe, an welcher es unsere neuen Bühnenhelden und Heldinnen leider nicht fehlen lassen. Denn hatten sie jene Vorbildung erworben, so strebten sie, eine Rolle einstudierend, wohl, sich in sie hineinzudenken, sich hineinzufühlen, meinten aber nicht beim Vortrage derselben etwas Anderes thun zu müssen, als mit ihren eigenen schönen menschlichen Stimmen zu sprechen wie es der jedesmalige Moment des Dramas erforderte oder ihnen eingab. Daß solch ein Held, Liebhaber, Bösewicht von der Bühne herab mit einem ganz anderen Tonfalle sprechen müsse, als irgend ein Mensch in der Wirklichkeit spricht, ja mit dem absonderlichsten, und zumal im ernsten Drama, fiel ihnen entfernt nicht ein, und Iffland, der schon etwas von dieser Unart hatte, galt auch trotz seines trefflichen Spiels bei allen Leuten von Geschmack in dieser Beziehung für einen Manieristen, namentlich so lange der so ganz unverkünstelte Fleck mit seinem wahrhaft[104] wunderbaren Naturel neben ihm stand, und mehr noch der, wenn auch in einigen Rollen sehr anerkennungswerthe Mattausch, der nun wieder ein Nachahmer der Manier Ifflands war.

Gleiche Ansichten leiteten die Dilettanten bei dem, damals sehr häufigen Lesen dramatischer Werke mit vertheilten Rollen. Man trug sie mit möglichstem Verständniß des betreffenden Charakters und seines Verhältnisses zum Ganzen des Werkes, und mit möglichst gebildetem Organe vor, dann aber auch mit möglichster Natürlichkeit. In dieser Art hatte ich in früherer Zeit oft die Leonore v. Sanvitale in Göthes Tasso mit Beifall gelesen. In späterer forderte mich der verstorbene Delbrück einmal auf mit Frau v. Knoblauch, der Tochter des Ministers Schrötter, und der Schauspielerin Demoiselle Beck, welche sich in die Rolle der Prinzessin theilen wollten, den Tasso zu lesen. Ich sagte ihm: das geht nicht, das wird abscheulich! Jedes Wort dieser Damen wird gewichtig auftreten wie ein Flügelmann, denn sie werden glauben, auch die Kehlen müßten vom Kothurn zeugen. Ich werde leichtweg lesen wie ich spreche. Wie soll da Einklang in die Bewegung kommen? – Aber Delbrück bestand, ich fügte mich dem Wunsche des Freundes, und der Erfolg war, wie ich ihn vorhergesagt hatte. Ich sah ein, daß ich nicht mehr vorlesen dürfe, und daß man froh sein müsse wenn das Vernünftige sich auch nur eine Zeit hindurch geltend gemacht hat.

Quelle:
Herz, Henriette: Ihr Leben und ihre Erinnerungen.Berlin 1850, S. 97-105.
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