Ein Rencontre mit der Rachel.

[160] Zu Anfang der fünfziger Jahre (ich verweilte einige Wochen in Paris) trat eines Morgens ein Bekannter bei mir ein, der früher oft in Deutschland gewesen und vielen unserer musicalischen Vereinigungen beigewohnt hatte, jetzt aber als kühner Schwimmer sich auf den hochgehenden Wogen des französischen geselligen Lebens mit Lust umhertummelte. »Ich habe Sie«, begann er, »in Dresden mit Eduard Devrient allerlei Dichtungen aufführen hören – er declamirte, Sie begleiteten ihn improvisirend auf dem Flügel. Hier ist diese Gattung von Ensemble unbekannt, höchstens kommt in den Boulevard-Melodramen Aehnliches vor, wenn der Bösewicht sich zu einer Mordthat anschickt und die Geigen dazu tremoliren! – Ich sprach gestern der Rachel von Ihren Thaten, und sie zeigte Lust zu einem derartigen Versuch. Sie gibt in den nächsten Tagen eine enorme Soirée – wollen Sie mitthun?«

»Können Sie zweifeln?« erwiderte ich, »wäre es auch nur, um die berühmte Frau einmal in der Nähe zu sehen und sprechen zu hören.« – »Nun wohl,« sagte der gefällige Vermittler, »ich führe[161] Sie morgen Vormittag zu ihr – und dann mögen Sie sehen, wie Sie fertig werden. Ade.«

Die Rachel empfing uns in einem reizenden Morgenkleide, dessen Einzelheiten leider meinem Gedächtnisse entschwunden sind – sie plauderte mit der ihr eigenen Anmuth. Der Introducteur verschwand und sie führte mich in ein Boudoir, in welchem ein Pianino jedenfalls das uneleganteste Möbel war. »Wie fangen wir's nun an?« sagte die gefeierte Künstlerin, »erklären Sie mir's.« – »Da ist nicht viel zu erklären,« entgegnete ich, »Sie recitiren ein Gedicht von Victor Hugo oder einem andern Ihrer großen Lyriker, und ich versuche dem Gange der Dichtung, sie musicalisch illustrirend, wenn ich so sagen darf, auf dem Piano zu folgen.« – »Victor Hugo!« rief sie aus, »ich weiß nichts auswendig von seinen Gedichten. Nehmen wir etwas von meinen Dingen, den ›Traum der Athalia‹ zum Beispiel.« – »Wie es Ihnen beliebt,« sagte ich, »aber ich muß um ein Exemplar von Racine's Tragödien bitten, damit ich nicht nur nachlesen, sondern auch das Kommende vorher schauen kann.« Nach wenigen Minuten lag ein wunderbar gebundenes Buch auf dem Clavierpult, und wir begannen.

Diejenigen, die das Glück hatten, die Rachel zu bewundern, werden sich der Rapidität ihrer Sprechweise erinnern; sie bewahrte zwar im lebendigsten Zeitmaß eine Klarheit und Deutlichkeit, um welche jeder Claviervirtuose sie beneiden durfte, aber man mußte doch gewaltig aufpassen, um nichts zu verlieren. Ich hatte kaum in einigen düstern Accorden »l'horreur d'une profonde nuit« anzudeuten versucht, als sie schon an der fierté ihrer Mutter Jézabel angelangt war, und als ich der Anrede der stolzen Mutter einigen Glanz zu verleihen versuchte, »stritten sich schon die gierigen Hunde um die lambeaux pleins de sang«. So ging es weiter. Im Nu waren wir am Schlusse angelangt, der obendrein so unmittelbar in den Dialog hinüberführt, daß ein Abschluß kaum anzubringen ist.

»Pardon,« sagte ich, »es ist mir unmöglich, Ihnen musicalisch zu folgen; die Töne bedürfen einiger Momente mehr als die Worte, um irgend etwas Vernünftiges auszusprechen. Könnten Sie, ich bitte[162] nochmals um Verzeihung, könnten Sie nicht etwas weniger schnell sprechen?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich will's versuchen,« meinte sie mit einem Lächeln, dessen freundliche Absicht nicht zu verkennen war.

Wir begannen zum zweiten Mal, aber nach einem kurzen Ritardando zu Anfang der Rede kam sie allzubald wieder ins Tempo primo zurück. Kaum konnte ich eine gelinde Verzweiflung verbergen und wagte die Worte, die Musik verlangt nun einmal unter diesen Umständen eine langsamere Declamation. Da rief sie mit großer Lebhaftigkeit aus: »Je suis actrice, je ne suis point une déclamatrice!«

Das Pianino wurde verlassen, wir plauderten noch eine Weile, und sie lud mich wiederholt ein, trotz unseres kleinen Kampfes auf ihre Soirée zu kommen, was ich denn am folgenden Tage that. Das Theater Français war glanzvoll versammelt, außerdem eine große Anzahl junger und alter, eleganter und vornehmer Cavaliere. Ein lautes Geschwirr voller Leben und Reiz! Es wurde geflirtet, gegessen, getrunken, getanzt, und ich dankte dem Himmel, unter diesen Verhältnissen nicht zum Phantasiren genöthigt zu sein. Leider habe ich die Rachel nie wieder gesehen. Die Wiener Burgherren haben mir aber vor ein paar Jahren bewiesen, daß man großer Schauspieler und Declamator in Einer Person sein und in letzterer Eigenschaft auch ein Piano neben sich dulden könne.

Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 160-163.
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