[139] Innerhalb der letzten 18 Monate hat die »Revue des deux mondes« ihre Leser mit einer Folge von Abschnitten beschenkt, die jetzt zum Abschluß gelangt sind – sie bilden einen vollen stattlichen Band, ein fesselndes, anregendes Buch unter dem Titel: »Souvenirs littéraires par Maxime Du Camp, de l'Académie française.« Der Name des Buches (ich sage nicht des Autors) verspricht viel weniger, als es hält.
Die Freude, die diese »Erinnerungen« mir gemacht, möchte ich gern denjenigen verschaffen, die der französischen Literatur fernstehen, indem ich sie darauf hinweise, und dieser lobenswerthen Absicht entspringen die folgenden Mittheilungen. Leicht würde es gewesen sein, aus dem Capital-Buche ein glänzendes Capitel zusammenzustellen, aber das wäre, wie wenn man einem schönen Vogel einige seiner strahlendsten Federn ausrupfte, um zu zeigen, wie schön er sei. – Man mißhandelt das arme Geschöpf und gibt doch keine Anschauung desselben.
Lieber möchte ich versuchen, ein Bild des Verfassers zu entwerfen,[140] wie es in mir entstanden, aus seinen verschiedenen Schriften sich verkörpert hat – (leider hatte ich nie das Glück, ihm persönlich zu begegnen). Man mag sich dann vorstellen, was er alles zu sagen weiß, wenn er sich – auch nur in beschränktem Maße – seinen »Erinnerungen« hingibt, erzählend, beschreibend, lobend und tadelnd, plaudernd und betrachtend, aus guten und schlimmen Tagen.
Ein Stück polizeilicher Auskunft gehört unabweislich zu jeder Personalkenntniß. Maxime Du Camp, geboren am 8. Februar 1822 in Paris, verlor den Vater, einen bedeutenden Wundarzt, schon im dritten Jahre – keine nähern Familienbeziehungen griffen in sein Leben ein, als die zur Mutter und – zur Großmutter. In unabhängigen Vermögensverhältnissen, verwandt und befreundet mit bedeutenden Geschlechtern, trat er in die Welt mit jener Freiheit und Gleichheit, die so viel beneidet und so gefährlich sind. Kaum mündig, erwählte er das Schriftstellerthum als Lebensberuf; der Leidenschaft, mit der er es ergriff, ist die Liebe gefolgt, und dem Ende seiner Laufbahn sich nähernd, stellt er es mit trotziger Ueberzeugungstreue als das Beste und Höchste hin, was dem Menschen hienieden gegeben, – in guten Stunden zu doppelter Freude, in schlimmen zu beruhigendem Troste.
Er mag Recht haben, wenn man es so auffaßt, wie er es thut, auch abgesehen von den günstigen Lebensbedingungen, die ihm zu Theil geworden. Wer hat in gleichem Maße wie der Schriftsteller das Recht, die Welt anzupacken, wo es ihm gefällt, wo er glaubt, wirken zu können, wo er hoffen darf, Neues zu entdecken, wo er sich gedrungen fühlt, das auszusprechen, was er für das Rechte, das Wahre hält? Er vergräbt sich in die Einsamkeit, er durchfliegt Länder und Meere, vertieft sich in die Mysterien der Künste, in die Geheimnisse der Natur, er beobachtet die Menschen in der ungeheuren Mannigfaltigkeit ihrer Beschäftigungen, ihrer Existenzbedingungen, ihrer Leidenschaften; sich selbst beobachtend durchlebt er sein Leben und darf hoffen, Tausende zu erquicken durch die Erlebnisse, die ihm geworden, durch die Erfahrungen, die er gemacht und durchdacht hat.
Leider heißt es aber hier nicht: grau ist die Theorie! Nein, die[141] Theorie ist pracht- und prunkvoll, die Wirklichkeit jedoch ist allzuoft nicht grau, nein, dunkelschwarz, wenn die Freiheit der persönlichen Stellung den plumpen Erfordernissen des Lebens gegenüber nicht gewahrt ist. Das bedarf keiner weitern Ausführung, und Du Camp selbst bringt uns Beispiele genug solch unglückseliger Kämpfe gerade da, wo wir sie am wenigsten vermuthen. Er selbst freilich benutzte die ererbte Unabhängigkeit, um sie sich nach allen Seiten hin zu wahren, trachtete weder nach Stellen noch Ehren, gab sich keiner Gattung von Partei hin, und auch von den beglückenden und stählenden, immerhin fesselnden Banden der Familie blieb er frei, gleichviel ob es sich so machte, ob er es so wollte. Das Gewollteste und Ungewollteste entspricht gleichmäßig unserem Ich, mag dieses selbst sich so abhängig oder unabhängig vorstellen, als es wolle.
Durchfliegen wir nun Du Camp's Leben, betrachten wir die Berührungen, in die es ihn brachte mit Land und Leuten, mit Individuen, Verhältnissen, Begebenheiten – die Ergebnisse werden sich dann leicht finden.
Schon in der Wiege knüpfte sich ein nie gelockertes Freundschaftsband mit Louis de Cormein, dem Sohn jenes Cormenin, der durch seine unter dem Namen Timon veröffentlichten Schriften eine so ernste, geachtete und gefürchtete Stellung errang. Die Julitage warfen ihre Schatten in Du Camp's Kinderjahre, während welcher Ernst Feydeau, ein gleichaltriger Knabe, sich schon in der Schule aufs eigenthümlichste bemerkbar machte. Während Maxime in den großen Pariser Collegien Jahre widerwärtigster Sklaverei zubringt, wüthet die Cholera und die Insurrectionen der dreißiger Jahre dringen durch die Pforten der Bildungsstätten. Seltene Besuche des Theaters, insbesondere die erste Aufführung von Alfred de Vigny's »Chatterton« bestärken seinen Enthusiasmus für das Wirken des Schriftstellers, des Dichters – die romantische Schule, mit Victor Hugo an der Spitze, vereint die jungen exaltirten Köpfe und befördert das Wachsthum tollster literarischer Projecte. Nach Absolvirung der Gymnasialstudien kommt eine Zeit ungeregelten geistigen Vagabundirens, dessen Kern aber doch stets das leidenschaftliche Interesse für allseitige Literatur bildet, bis[142] dann der Entschluß, nichts sein zu wollen, als Schriftsteller – nichts erlangen zu wollen, als was diesem erreichbar, sich trotz aller Widersprüche der Seinen bethätigt und so der Grund für alle Zukunft gefestet wird.
Unter den unbekannt Gebliebenen, halbbekannt oder berühmt Gewordenen, mit welchen Du Camp seine schriftstellerischen Neigungen zusammenbringen, befindet sich auch Gustav Flaubert, der später als Verfasser von »Madame Bovary«, »Salammbô« und andern weniger gelungenen Werken sich eine so große Stellung in der neuern französischen Literatur erwarb. Mit diesem außerordentlichen, ja, ungeheuerlichen Menschen befreundete sich Du Camp aufs engste, mit seinem Tode schließen auch die »Erinnerungen« ab, als deren Held er fast erscheint. Wie unendlich verschieden viele der genanntesten französischen Autoren und Künstler von den Bildern sind, die sich bei uns mit allem Französischen verknüpfen, springt in Du Camp's Schilderungen fortwährend in die Augen. Seltsame, originale, ja, bizarre Charaktere, wie sie sogar bei den Engländern, diesen Idealen der Absonderlichkeit, kaum vorkommen mögen. – Eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dem Orient, genährt durch Bücher und Persönlichkeiten, veranlaßte den unabhängigen Jüngling zu einer Reise in den Archipel, nach Konstantinopel – auf dem Rückwege machte er von Rom aus einen Abstecher nach Algier. Er lernt da die vornehmsten Orientalen kennen, lebt in der Villa Medici in Rom inmitten seiner vaterländischen Kunstgenossen, in Africa mit seinen Landsleuten, den französischen Officieren, wie mit den Arabern, mit welchen er auch später in freundlichen Verhältnissen bleibt.
Nach der Rückkehr in die Vaterstadt treten neben Flaubert der Bildhauer Pradier, der berühmte Maler Millet, Chateaubriand und Andere in den Vordergrund. Ohne politischen Enthusiasmus, aber als Culturmensch betheiligt sich Du Camp, Officier in der Nationalgarde, an dem furchtbaren Junikampf des Jahres 1848 und erhält aus den Händen Cavaignac's selbst den Orden der Ehrenlegion. (Nicht er spricht von dieser Auszeichnung, sondern die trocken-sachliche »Biographie nationale des Contemporains«.) Nur langsam genas[143] er von einer bedeutenden Verwundung. Ein anderer literarischer Held, der gefeierte Theophile Gautier, erscheint auf der Pariser Scene. Dann geht er wieder, diesmal in Gesellschaft Flaubert's, über's Meer. Die Freunde halten sich in Alexandrien, Konstantinopel, Athen längere Zeit auf – sie bgegnen den tollsten Figuren, den fabelhaftesten Abenteurern, und Flaubert entwickelt Seltsamkeiten, die unglaublich scheinen. Napoleon's Staatsstreich erlebt Du Camp wieder in der Hauptstadt, wo er sich an der Gründung der »Revue de Paris« betheiligt. Seine zahlreichen, in Aegypten und Nubien, Kleinasien und Palästina gefertigten Clichés, die dem ersten Werke als Grundlage dienten, in welchem Photographie und Typographie sich verbanden, brachte ihn in vorübergehende Berührung mit dem künftigen Kaiser, dessen Regiment, namentlich durch die Knebelung der Presse, ihm zu schaffen machen sollte. »Madame de Bovary« erschien in der »Revue de Paris«, seinem literarischen Lieblingskinde, großer Aufruhr – und später Unterdrückung der beliebt gewordenen Rundschau.
Unterdessen befreundet sich Du Camp mit dem Chef der St. Simonisten, dem père Enfantin – er beobachtet die Verrücktheiten der Spiritisten in der Nähe. Der Krieg in Italien lockt ihn dorthin – er sieht Cavour – folgt den Zügen Garibaldi's und verlebt mit Alexander Dumas in Neapel die interessantesten Tage.
Wer tritt nicht in den Gesichtskreis unserer »Literaten«? Lamartine, Lanfrey, Mérimée – die epochemachenden oder gemacht habenden Maler Ingres, Vernet, De la Croix! Es kostet die größte Ueberwindung, nichts zu verrathen von allem, was da zur Sprache kommt von merkwürdigen Zügen, köstlichen Anekdoten – aber ich bescheide mich.
Ueber Lui et elle, elle et lui, nämlich Alfred de Musset und George Sand, liest man hier die Wahrheit. Die bedeutendsten Mitarbeiter der »Revue des deux mondes«, in welcher er jetzt seine Arbeiten veröffentlicht, im »Journal des Débats« u.s.w., die J. Janin, de Sacy, Paradol, treten uns vor's Auge, und man weiß kaum mehr, wo man hinzusehen hat. Die politischen Revolutionen seines Vaterlandes hatte Du Camp mit einer Art entsagender Indifferenz an[144] sich vorüberziehen lassen, ja, die Umkehr des Kaisers zum Liberalismus erfüllte ihn mit frohen Hoffnungen, als der Krieg vom Jahre 1870 eintrat, mit dem unerhörten Falle des Kaiserreichs, mit der darauf folgenden Belagerung und dem furchtbaren Finale der Commune, während welcher Bedrängnisse Du Camp seine Vaterstadt nicht verließ. Man begreift, wie diese Schicksalsschläge auf ihn wirken mußten. Schon vorher hatte er den Freund der Kindheit, Cormenin, verloren – im Jahre 1880 starb auch Flaubert. Tief gebeugt setzt er sich nun hin und läßt die Manen der Verblichenen, die Manen des Erlebten an sich – an uns vorüberziehen. Der Titel seines Buches ist vielleicht das einzige, was darin nicht richtig ist: nicht »Souvenirs littéraires« dürfte es heißen, sondern »Souvenir d'un littérateur«. Weit gehen die Erinnerungen hinaus über das, was man literarisch nennen darf, man müßte denn die ganze Welt mit diesem Worte umfassen wollen.
Du Camp hat viele Bände geschrieben, die, wenigstens außerhalb seines Vaterlandes, nicht zu großer Verbreitung gelangt sind, in Versen und in Prosa: Reisen im Norden und im Süden – Kunstkritiken – Novellistisches – didaktische Gedichte und was nicht alles mehr. Das Werk aber, welches jedenfalls den Schwerpunct seiner Leistungen bildet, wenn ihm auch nicht der populäre Reiz der »Erinnerungen« innewohnt, heißt: »Paris, ses organes, ses fonctions et sa vie« (1869). Wir haben es in der »Revue des deux mondes« nach und nach in seinen einzelnen Theilen kennen gelernt und bewundert. Ich kann mich nicht enthalten, aus den »Erinnerungen« etwas ausführlicher mitzutheilen, wie das Werk entstanden ist; auch hier, wie so oft, weiß man nicht, ob eine Art von Zufall, ob eine plötzliche innere Erleuchtung das zu Tage gefördert hat, was dann später als ein Unausbleibliches, Nothwendig-Geborenes erscheint.
»Um's Jahr 1865 litt ich« – erzählt Du Camp – »an meinen sonst vortrefflichen Augen. Man schickte mich zu einem bekannten Optiker in der Nähe des Pont-Neuf – er legte mir ein Buch vor, in normaler Entfernung, und ich warf den Kopf zurück. ›Ach,‹ rief der brave Mann aus, ›Sie blasen Posaune! – da[145] hilft nur die Brille.‹ – Ich fügte mich und ging, um ihm Zeit zu lassen, zur Brücke, wo ich mich, es war ein schöner Mai-Abend, auf eine Bank setzte. Auf der Seine ruderte man die Pontons einer Schwimmschule zusammen; die ›Münze‹ jagte ihre Rauchwolken gegen den Himmel; Droschken waren aufgestellt und Omnibusse rasselten vorüber; Stadtsergeanten, aus der Polizeipräfectur kommend, vertheilten sich gruppenweis, nach verschiedenen Richtungen ziehend; der Wagen eines Zellengefängnisses drängte sich durch die Volksmenge; Händler und Krämer suchten mit ihren Karren durchzukommen. Wie oft hatte ich alles das vor Augen gehabt? Warum bewegte mich dies Schauspiel an jenem Abend auf eigene Weise? Warum erblickte ich in all dem Treiben die Offenbarung einer höhern Vorsicht? Ich weiß es nicht zu sagen, – aber Paris erschien mir plötzlich wie ein ungeheueres Geschöpf, seine Functionen durch die eigensten Organe mit bewundernswerthester Sicherheit und Genauigkeit vollendend. Ich verfiel in tiefes Sinnen – unbeweglich blieb ich sitzen – durch die Gedanken, die sich meiner bemächtigt, allem äußern Treiben entzogen; als die Dämmerung eintrat, erwachte ich – längst hatte ich vergessen, daß der Brillenmann seit zwei Stunden mich erwartete – aber fest entschlossen stand ich auf, das Räderwerk, das Paris in Bewegung setzt, bis ins Einzelnste zu ergründen.«
Ich verlasse die weitere Ausführung und füge nur noch hinzu, daß sich Du Camp mit jener Energie seiner Arbeit hingab – welche sie erforderte und die ihn freilich zwang, sich allen möglichen und unmöglichen Beschäftigungen hinzugeben. »Ich lebte auf der Briefpost«, erzählt er uns, »war wie angestellt an der Staatsbank – ich habe mit den Metzgern Ochsen geschlachtet, mich den verschiedenen Gattungen von Polizei-Agenten auf ihren Expeditionen gesellt, – in den Zellen der Gefangenen hielt ich mich auf und begleitete zum Tode Verurtheilte bis auf die Bretter der Anatomie, – die Stätten des Elends habe ich aufgesucht, in Betten der Spitäler geschlafen, die Schmuggler mit den Zollbeamten belauscht. Auf den Locomotiven der Schnellzüge bin ich gereist, habe mich in Häusern der Geisteskranken einsperren lassen, um die armen Narren zu beobachten.[146] Von keiner Ermüdung, von keiner Untersuchung, von keinem Ekel habe ich mich zurückschrecken lassen; aber das sind keine literarischen Erinnerungen – ich muß zu diesen zurückkehren und darf nicht von persönlichen Dingen sprechen, die den Leser nicht interessiren können.«
Wer jene Studien gelesen, weiß, daß noch viel mehr in ihnen enthalten, als angedeutet ist. Die Erziehungsanstalten defecter Menschenkinder wie die höchsten Bildungsstätten treten uns vor die Augen, und je mehr, je Genaueres man erfährt, desto höher wächst das Interesse. Kein Roman ist fesselnder, kein Schauspiel anregender, als die Darlegung aller jener Institutionen, in welchen sich die ungeheure Macht unserer heutigen Culturverhältnisse aufs großartigste offenbart. Mit gleicher Gewissenhaftigkeit gab Du Camp in der »Revue« seine Erfahrungen und seine Untersuchungen, die Herrschaft der Commune betreffend, wieder – neben der ganzen Fülle sittlicher Entrüstung doch auch keinen Menschen, keinen Zug vorübergehen lassend, die versöhnend aus jener Nacht hervorleuchteten.
Welch ein reiches, beneidenswerthes Leben liegt hier vor uns ausgebreitet – welcher Gaben bedurfte es aber auch, um es durchleben zu können! Welcher Anlagen, welcher Kräfte!
Du Camp ist offenbar eine jener elastischen Naturen, wie sie bei den Männern des Südens, speciell bei den Franzosen, nicht selten angetroffen werden, körperlich und geistig gewandt, körperlicher und geistiger Anstrengungen spottend. Sein Gedächtniß, die Grundlage für jede höhere Leistung, scheint staunenswerth – die kleinsten Einzelheiten aus den fernsten Zeiten stehen ihm vor den Augen; und er gibt sie wieder, wie wenn er sie im Moment abzeichnete. In Sprachen und Literaturen muß er sich gewaltig umgethan haben – er versteht den Occident und den Orient. Seine eigene Sprache behandelt er mit jener Leichtigkeit, Lebendigkeit, Durchsichtigkeit und Anmuth, wie sie das unbestreitbare Vorrecht unserer gallischen Nachbarn sind. Was er erzählt, hören wir nicht an – wir erleben es. Die Resultate, zu welchen er gelangt, haben wir selbst gefunden. Geistreich, witzig zu sein, liegt außerhalb seines Wollens, vielleicht fehlen ihm die[147] nöthigen Ingredienzien zu dem, was man oft darunter versteht. Aber allem, was er sieht, hört, erfährt, beobachtet, weiß er die charakteristische Seite abzugewinnen, weiß es ergötzlich, komisch, – ernst, ja, tragisch hinzustellen. Jede Uebertreibung liegt ihm fern – höchstens könnte man ihm vorwerfen, daß seine Bescheidenheit allzu sehr hervortritt, denn man kann unmöglich weniger von eigenen Leistungen sprechen, wenn man die eigenen Erinnerungen niederschreibt. Die Bescheidenheit zeigt sich jedoch hauptsächlich in dem, was er verschweigt oder nur kurz berührt – der Ton des Sprechenden hat eine eigenthümlich schneidige Vibration und Manches ist so gesagt, als ob ein Widerspruch wie eine Herausforderung aufgenommen werden würde. Es bedurfte dessen nicht, um jeden Zweifel an der Wahrheitstreue des Erzählers zu beseitigen. Auch das Wesen seiner liebsten Freunde schildert er ohne jede Uebertreibung, ohne Bemäntelung ihrer Schwächen, ohne Entschuldigung ihrer Fehlgriffe. – Wir sind nun einmal gar sehr unvollkommene Geschöpfe! Das ist bei ihm, wie immer und überall, das Ende vom Liede. Diese allgemeine Erfahrung aber legt seiner Entrüstung dem Schlechten gegenüber keine Schranke auf, und es ist unmöglich, das, was seine Landsleute verbrochen, mit schärfern Worten zu beurtheilen, als Du Camp es thut. Es gibt freilich Dinge, über welche Freunde und Feinde zu demselben Ergebniß gelangen müssen – wenn sie nämlich die Kraft haben, der Wahrheit ins Antlitz zu schauen. Dieser Kraft ermangelt unser Autor nie, wo ihm das sittlich Schlechte entgegentritt. In seiner Würdigung derjenigen Dinge aber, wo es sich, wie in Kunst und Literatur, um verschiedene Richtungen handelt, die sich freilich oft genug diametral gegenüber stehen, sucht er einen möglichst unparteiischen Standpunct einzunehmen, das Interessante, Geistreiche, Bedeutende, Schöne zu erkennen, unter welcher Form es sich finde. Sowohl in seiner Würdigung der plastischen Künste als der Erzeugnisse der Literatur tritt dies fortwährend zu Tage. Es ist der richtige Standpunct des Kritikers! Unsere Tonkunst wird leider selten berührt – mir scheint jedoch der Verfasser hier einseitiger zu sein, wofür ich ihm dankbar bin, denn die echte Liebe ist nicht objectiv.[148]
Ich glaube schon erwähnt zu haben, daß Du Camp in Dingen der Politik eine eigenthümliche Ruhe bewahrt, wahrscheinlich, weil er für das, warum es ihm zu thun ist, Freiheit und Gerechtigkeit für sich und Andere, keine besondere politische Partei findet und weil unter allen Regierungsformen fast gleichmäßig dagegen gesündigt wird. Politischer Ehrgeiz liegt ihm fern! Wir haben es, Alles in Allem, mit einem unabhängigen Geiste und Charakter zu thun, dem nichts so sehr am Herzen zu liegen scheint, als Wahrheit im Fühlen und Denken, im Leben und Handeln. Daß daneben die Liebe, die echteste Liebe sehr wohl bestehen kann, zeigt seine hingebende Treue den Freunden gegenüber – nie macht sie ihn wankend in seinen Ueberzeugungen, aber er bewahrt sie auch da, wo er mit seinem Urtheil nicht beistimmen kann. Wie er es Freundinnen gegenüber gehalten? – das scheint nicht in literarische Erinnerungen zu gehören – wir können aber versichert sein, daß der Mann von Ehre sich nie verleugnet haben wird.
Fast fürchte ich schon zu viel gesagt zu haben, sowohl für die, die mir Glauben schenken, als vollends für solche, die dazu keine Neigung verspüren; aber es ist schwer zu enden, wenn die Ueberzeugung die Feder führt. Zum Schluß erlaube man mir die Worte herzusetzen, mit welchen der Autor seine Erinnerungen zusammenfaßt, das Glaubensbekenntniß des Schriftstellers und des Mannes:
»Was ich diesen traurigen Seiten zuzufügen habe, ist schnell ausgesprochen. Man behauptet, Villemain habe gesagt: ›Das Schriftstellerthum führt zu Allem, wenn man aus ihm heraustritt‹ – ich behaupte dagegen, es bringt Trost für Alles, wenn man ihm treu bleibt, wenn man sich ihm ganz hingibt und ihm nie die höchste Achtung verweigert. Die literarische Thätigkeit ist in guten und schlechten Stunden das Beste, was man finden mag; um den, der sie liebt, bildet sie einen Wall gegen alles Ephemere, sie zieht einen Kreis um uns, der keine Freude ausschließt, aber dem Gemeinen den Eintritt verbietet. Ich kenne keine schönere Wirksamkeit, als die des unabhängigen Schriftstellers. Wenn er mit der Liebe zur Arbeit und zur Wahrheit ein wenig Bescheidenheit verbindet; wenn er, unbekümmert[149] um vorübergehende politische Formen, nach der Gerechtigkeit und Wahrheit strebt; wenn er keinen andern Ehrgeiz kennt, als sein Bestes zu thun; wenn er, trotz aller Täuschungen, die das Leben bringt, die Größe seiner Zeit erkennt und bewundert; wenn er das Glück hat, Freunde besessen zu haben und zu besitzen, wie die, die ich verloren und die, welche mir geblieben, – so mag er seinem Schicksal danken, es war ein glückliches.«
Sein Bestes kann man freilich überall thun, Freunde haben wir hoffentlich Alle, und Vieles vom Schönsten, was Du Camp zu dem Glück des Schriftstellers zählt, kann man auch in andern Sphären erreichen. Hoch erfreulich ist es aber, einem hervorragenden Manne zu begegnen, der am Ende seines Lebens seinem Berufe gerecht bleibt, wenn er in demselben auch nicht alles gefunden, was er zu erreichen getrachtet und gehofft haben mag. Allzu oft schreibt der Wanderer es dem Wege zu, wenn er nicht kräftig genug auszuschreiten wußte, um ans Ziel der Reise zu gelangen.[150]
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