II. Im Polizeigewahrsam.

[2] Wir waren angelangt. An der Seite des Kriminalbeamten schritt ich durch die Pforte, die sich hinter mir schloß, mein Leben gleichsam in zwei Hälften teilend. Noch immer aber ahnte ich nichts von dem verhängnisvollen Wendepunkt in meinem Dasein. Die langen düsteren Gänge des alten finsteren Gebäudes, durch das mich der Beamte jetzt führte, machten mir zwar einen höchst unsympathischen Eindruck, konnten mich jedoch schon deshalb nicht schrecken, weil ich den Aufenthalt hier nur für einen ganz vorübergehenden hielt. Man würde mich befragen und dann wieder in Freiheit setzen – so meinte ich. Eins freilich erregte meine Verwunderung. Warum hatte man mich gerade an einem Sonnabend zu so vorgeschrittener Abendstunde geholt, wo des Sonntags wegen das Verhör hinausgeschoben werden mußte? Bald sollte mir eine neue Aufklärung zuteil werden, ohne daß jedoch auch diesmal der Zweck vollkommen erreicht worden wäre.

Mein Begleiter führte mich zunächst in ein ebenerdiges[3] Zimmer, anscheinend eine Polizeiregistratur, wo einige ältere Beamte trotz der späten Stunde mit verdrossenen Mienen über Folianten gebeugt saßen. Einer derselben richtete ein paar Fragen an mich und nahm meine Personalien auf. Darauf erschien abermals mein Führer und brachte mich in einen separaten Raum, an den sich noch eine kleine Nebenabteilung anschloß, eine Art Geheimkabinett, mit dem ich später auch noch Bekanntschaft machen sollte. In dem Vorraum wurde mir die Kuriertasche abgenommen, die ich auf Reisen stets zu tragen pflegte. Sie enthielt Portemonnaie, Notizbuch und sonstige kleine Notwendigkeiten des täglichen Lebens, die sämtlich einer äußerst gründlichen Durchsicht unterzogen und dann, wie ich glaubte, nur vorläufig zurückbehalten wurden. Nachdem dies geschehen, eröffnete mir der Beamte, es sei hier üblich, mit den Ankommenden eine Leibesvisitation vorzunehmen, wobei er naiv beruhigend hinzufügte: »Die Visitation wird von einer Frau vorgenommen.«

Diese, eine ganz einfache alte Frau aus dem Volke, waltete in dem Geheimkabinett ihres Amtes zwar gewissenhaft, doch mit einer so zarten, fast möchte ich sagen feinsinnigen Schonung, wie ich sie bei höheren Beamtinnen später mitunter schmerzlich vermißt habe.

War somit mein Eintritt in den Polizeigewahrsam[4] noch immerhin erträglich zu nennen, so sollten sich mir bald die Schrecken eines solchen Aufenthalts in seiner vollen Abscheulichkeit enthüllen. Obschon mir die vorerwähnte Äußerung des Beamten trotz des Ernstes der Situation beinahe ein Lächeln entlockt hatte in der mir selbstverständlich erscheinenden Voraussetzung, daß ich als Weib zu meinen nächsten Vorgesetzten überhaupt nur weibliche Angestellte haben könne, so sollte ich nunmehr eines anderen belehrt werden. Ein weibliches Wesen bekam ich von jetzt ab nur noch zweimal zu Gesicht.

An dem einen Morgen kam eine Person zu mir herein, von der ich heute noch nicht weiß, ob sie eine Angestellte oder eine Gefangene war. Mit Rock und Jacke bekleidet, im Kopftuch, eine blaue Schürze vorgebunden – so trat sie an mein Lager und fragte mich, ob ich etwas von Ungeziefer bemerkt hätte. Das konnte ich zwar verneinen, beklagte mich aber gleichzeitig über mein elendes Lager, das fühlbar holprig, dabei wackelig und nahe am Zusammenbrechen war. Meine Beschwerde wurde nur mit einem Achselzucken beantwortet, das wohl heißen sollte, sie könne nichts daran ändern.

Das zweite Mal war es tatsächlich eine Gefangene, die vom Aufseher in barschem Ton angewiesen wurde, meine Zelle auszukehren, wobei die mürrische Person mit ihrem Handbesen so viel Staub aufwirbelte,[5] daß ich noch stundenlang unter atemraubenden Hustenanfällen zu leiden hatte.

Das waren während der drei Tage, die ich im Polizeigefängnis zubringen mußte, die einzigen Begegnungen mit weiblichen Personen. Dagegen wurde ich gleich am Abend meiner Ankunft von meinem Begleiter einem uniformierten Polizisten übergeben, und bald sollte ich inne werden, daß ich es hier lediglich mit männlichen Vorgesetzten zu tun haben würde, nämlich mit zwei Aufsehern, denen wie es schien sämtliche Gefangenen unterstellt waren.

Trotz der tröstlichen Zusicherung des Kriminalbeamten, daß er mir »die beste Zelle« ausgesucht habe, führte mich mein nunmehriger Vorgesetzter in einen Raum, der alles andere eher als eine menschenwürdige Aufenthaltsstätte war. Der ungeheure eiserne Etagenofen, der die eine Längswand des Gelasses fast ganz ausfüllte, wurde von außen geheizt und verbreitete eine solch erstickende Rauch- und Dunstatmosphäre daß das beständige Offenstehen des kleinen, vergitterten Fensters keinen auch nur einigermaßen genügenden Abzug zu schaffen vermochte. Die andere Längswand füllte die Bettstatt beinahe gänzlich aus, obwohl sie nur mäßig lang und für große Personen keineswegs berechnet war. Jedenfalls hatte das wurmstichige Holzgestell ein ehrwürdiges Alter aufzuweisen und stammte aus einer Zeit,[6] wo man von eisernen Bettstellen noch nichts wußte. Woraus die sogenannte Matratze eigentlich bestand, habe ich nie ergründen können. Sie war so uneben, hart und holperig, daß man sicher mit Schwielen bedeckt vom Lager aufgestanden wäre, falls man sich völlig entkleidet niedergelegt haben würde. Neben der Bettstatt stand noch ein äußerst primitiver hölzerner Abortkübel, der allmorgentlich von zwei dazu kommandierten männlichen Gefangenen entleert werden mußte. Zwischen Ofen und Fenster konnte als letztes Möbel im Raum gerade noch ein gleichfalls an Altersgebrechen leidender Tisch Platz finden, auf dem außer einer Sturzflasche, die mit Wasser gefüllt bereit stand, nur noch einige Traktätchen lagen.

Das berührte mich jedoch sehr wenig. Wäre auch die interessanteste Lektüre vorhanden gewesen, ich hätte sie hier nicht genießen können, weil meine Brille mitsamt den anderen mir gehörigen Habseligkeiten konfisziert worden war.

Stuhl oder Bank gab es in dem engen Gelaß überhaupt nicht. Mir blieb daher nichts anderes übrig, als mich auf die Bettkante zu setzen. In Ermangelung jeder Beschäftigung zog ich es aber vor, mich – natürlich angekleidet aufs Bett zu legen.

So verbrachte ich den größten Teil des Tages, was besonders dem einen Aufseher, einem höchst[7] unsympathischen, brutalen Menschen ersichtlich ein Greuel war.

»Das gibt's hier nicht, am Tage sich hinlegen,« fuhr er mich einmal barsch an. »Da legen wir Sie hinter ins Massenquartier, wo Alle auf einer Pritsche liegen. Da können Sie sich aalen!«

»Was soll man denn sonst hier anfangen, wenn man nichts zu tun, nicht einmal eine ordentliche Sitzgelegenheit hat?« entgegnete ich ziemlich respektlos, ohne mich zu erheben.

Dieser Beamte imponierte mir durchaus nicht. Die Gefangenen rechnete er augenscheinlich nicht zu den Menschen. Er selbst aber glaubte sich alles erlauben zu dürfen. Obgleich er uniformiert, also im Dienst war, pflegte er stets mit qualmender Pfeife bei mir einzutreten, die in der ohnehin dunstigen Zelle einen widerlichen Geruch verbreitete. Den ganzen Tag hörte man ihn wettern und fluchen, und die Gefangenen schienen ohne Ausnahme eine heillose Furcht vor ihm zu haben.

Bei mir war das allerdings nicht der Fall. Vielmehr setzte ich seinen Brutalitäten einen zwar passiven, aber desto zäheren Widerstand entgegen. Dafür bedachte er mich mit einem gewissen ingrimmigen Haß, den ich indessen vollständig ignorierte. Das brachte ihn noch mehr in Wut, so daß er fast niemals die Zelle verließ, ohne halbunterdrückte[8] Schimpfwörter oder Verwünschungen vor sich hinzumurmeln.

Hauptsächlich schien es den gestrengen Herrn Aufseher zu verdrießen, daß ich konsequent die Nahrungsaufnahme verweigerte.

Es gab in diesem Polizeigefängnis früh, mittags und abends ein großes Stück trockenes Schwarzbrot, das ebenso wie die Mittagsmahlzeit von männlichen Gefangenen unter Kontrolle des Aufsehers hereingebracht wurde. Das Mittagsmahl bestand aus einem wässerigen Gemengsel, das in einer braunen irdenen Schüssel nebst Blechlöffel serviert wurde und keineswegs verheißungsvoll duftete. Als Getränk diente natürlich nur Wasser, das mir von allem noch das liebste war und während der drei Tage meine einzige Nahrung bildete. Aber selbst das konnte ich nicht völlig ohne Ekel genießen, weil die beiden dienenden Gefangenen, denen die Flasche zu füllen oblag, einen recht wenig appetitlichen Eindruck machten.

Die mir vorgesetzte Mittagsschüssel wies ich stets mit einem Dankesworte zurück, zum größten Ärger des Aufsehers. Eines Tages gedachte er mir vielleicht eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir mit der kurzen Bemerkung: »Hier – einmal Essen –« die Schüssel eigenhändig präsentierte. Umso aufgebrachter wurde er aber, als ich trotzdem höflich dankend ablehnte. Lauter und deutlicher als[9] sonst schimpfend, verließ er die Zelle, während einer der dienenden Sträflinge auf sein Geheiß die verschmähte Mahlzeit hinaustrug.

Diese Polizeisträflinge, die als eine Art männlicher Ältesten in diesem Gefängnis alle nötigen Dienste verrichten mußten, tragen sämtlich grauleinenen Kittel, dazu die auch bei anderen Gefangenen übliche Mütze ohne Schirm.

Die beiden bei mir aufwartenden Männer waren ein paar entschieden gutmütig veranlagte Menschen. Wenig intelligent, und noch weniger sauber, umsomehr aber höflich, vergaßen sie nie, auf mein freundliches Dankeswort für geleistete Dienste mit einem artigen: »Bitte!« zu quittieren. Besonders der kleinere und zugleich ältere der Beiden schien eine gewisse Zuneigung zu mir gefaßt zu haben. Einer der gewohnheitsmäßigen Vielesser, hatte er schon immer mit sehnsüchtig verlangenden Blicken die Brotstücken hinausgetragen, die ich nie anrührte, die er aber doch im Beisein des Aufsehers nicht verschwinden lassen durfte. Endlich faßte er Mut und Vertrauen.

»Sie! – Frau –!« raunte er mir eines Tages durch die Tür zu. »Wenn Se Ihr Brot nich essen, da sein Se doch so gut und schmeißen Se 's 'raus! Da is hier Eener, der werd nich satt.«

Mitleidig und amüsiert zugleich tat ich ihm den[10] Gefallen und warf die Brotstücken von jetzt ab stets durch die Luke, die hier die Stelle des Guckfensters vertrat, hinaus in den Korridor, wo sie von dem Nichtsattwerdenden, der natürlich der Bittsteller selbst war, erfreut und dankbar entgegengenommen wurden.

Es ist wohl selbstverständlich, daß die beschriebenen, einer Großstadt völlig unwürdigen Verhältnisse den Aufenthalt in dieser mittelalterlichen Fronfeste zur Qual machen mußten. Als willkommene Abwechselungen wurden die Besuche des Kriminalbeamten in meiner Zelle, mehr noch die täglichen Vorführungen begrüßt, die mich für kurze Zeit aus dem greulichen Verließ erlösten. Zwar waren die finsteren Gänge, durch die man mich führte, die kahlen, niedrigen und verräucherten Zimmer, in denen Messungen und Verhöre mit mir vorgenommen wurden, keineswegs Annehmlichkeiten, gegen das Vegetieren in einer derartigen Gefängniszelle jedoch konnten sie immerhin als Erholung gelten. Auch wurde ich von den Beamten daselbst stets durchaus anständig behandelt.

All die geschilderten Zustände sollen, wie ich höre, in der Stadt D. jetzt nicht mehr existieren. Ein neuer imposanter Bau erhebt sich unweit jener unwirtlichen Stätte, an welcher ich einst so schreckliche Tage verlebte. In dem neuen stattlichen Polizeigebäude soll auch das Gefängnis den neuzeitlichen Anforderungen[11] entsprechende Zelleneinrichtungen aufweisen. Hoffentlich hat man gleichzeitig die Verfügung getroffen, daß weibliche Häftlinge sowohl zur Beaufsichtigung wie zur nötigsten Bedienung lediglich mit weiblichen Personen zu tun haben.

Nur drei Tage dauerte der Aufenthalt an diesem mehr als unfreundlichen Orte. Sie wurden dennoch zur Ewigkeit. Endlich aber schlug auch hier die Stunde des Abschieds, die ich qualvoll herbeisehnte, obgleich sie mich nicht zur Freiheit führen sollte, wie ich anfangs geglaubt hatte.[12]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 2-13.
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