[156] Obgleich von eigentlichen Strafen im Untersuchungsgefängnis nicht die Rede sein sollte, so können wir bei einer Beschreibung nicht ganz daran vorbeigehen, denn es hängt in jeder Zelle ein Verhaltungsplakat,[156] in welchem bei Zuwiderhandlungen strenge Strafen angedroht sind. Allerdings werden sehr selten die Strafen wirklich verhängt. Dennoch sind die Plakate mit ihrer eisernen Strafhaus-Disziplin sehr geeignet – zwar nicht Gehorsam, wohl aber Angst und Schrecken bei erstmaligen Untersuchungshäftlingen zu erzeugen. Die beabsichtigte Wirkung wird jedenfalls nicht dadurch erreicht, weil Leute, die sich vielleicht von selbst anständig betragen und nicht daran denken würden, den Vorgesetzten unehrerbietig zu begegnen, vielfach dadurch gereizt werden. Man fühlt sich eben noch nicht als Verurteilte. Im Gegenteil hoffen wohl die meisten auf Freisprechung. Und nun diese kategorische Verordnung, wie sie in der Strafanstalt nicht strenger und härter sein kann.
»Das ist ja gerade, als wäre man schon im Zuchthause. – Da könnte man den Verstand verlieren.« – »Es ist empörend, wie man hier vielfach ganz Unschuldige behandelt.« – »Wer da noch nicht schlecht ist, der muß es werden!«
Solche und ähnliche Ausrufe konnte man fast täglich hören.
Andere wieder, sehr ängstliche Gemüter ließen sich durch diese Strafandrohungen, durch die stete Furcht, gegen die strengen Gefängnisvorschriften zu verstoßen, so sehr in Aufregung versetzen, daß sie beinahe unzurechnungsfähig, ja tobsüchtig wurden.[157]
Die soviel gehaßten und geschmähten Plakate, wie sie in jeder Gefangenzelle am Schränkchenregal groß und weithin sichtbar aufgehangen waren, bestanden aus einer dicken quadratischen Papptafel, der die gedruckte Vorschrift aufgeklebt war. Auf ihr stand zunächst in starkem, fettem Druck die Ueberschrift:
Verhaltungs-Vorschriften für Gefangene.
Dann folgten in langer Reihe diese selbst. Sie erheischten nicht nur Ehrerbietung und Gehorsam gegen Vorgesetzte, auch die schon erwähnte Reinhaltung der Zelle war bis ins kleinste Detail vorgeschrieben. Den Geboten folgten dann die Verbote des Verkehrs der Gefangenen unter einander, der weder als Sprechen, Schreiben oder Klopfen gestattet wurde. Das Klopfen war noch besonders zugleich mit Pfeifen, Singen, Schreien und Rufen, lautem Sprechen und Lärmen untersagt. Auch das mißbräuchliche Klingeln unterlag dem Verbot. Die Vorschriften waren sämtlich in einer Weise gehalten, die in dem Untersuchungshäftling das Gefühl der Unfreiheit wach erhalten und unbedingt einen strafhausmäßigen Eindruck hervorrufen mußte.
Ich erinnere mich noch sehr genau, daß ich empört war über diese Art, Leute, die oftmals später als unschuldig entweder entlassen, oder in der Verhandlung freigesprochen wurden, in jeder Hinsicht[158] schon als Strafgefangene zu behandeln. Was müssen solche Menschen für einen Eindruck in die Freiheit mitnehmen von ihrer unschuldig erduldeten Haftzeit, für die niemand sie entschädigt.
Was den Vorschriften etwa an Schärfe und Strenge noch fehlte, das ersetzten reichlich die Strafandrohungen, die dem Plakat beigefügt waren.
Darnach sollten Zuwiderhandlungen mit sechserlei Strafen geahndet werden. Sie hießen:
1. Schmälerung der Kost.
2. Entziehung der Arbeit.
3. Entziehung der Arbeitsbelohnung.
4. Entziehung des Bettlagers.
5. Einsame Einsperrung.
6. Körperliche Züchtigung und Anschließen an die Kette.
Dies ist die wortgetreue Wiedergabe der mittelalterlichen Disziplinarstrafgesetze eines Untersuchungsgefängnisses.
Ich wiederhole, daß es in den allerseltensten Fällen zu Bestrafungen kam. Immerhin ist schon die Aushängung derartiger Gesetzesregeln beschämend für unser humanitäres Zeitalter. Die Wirkung aber auf die so oft unschuldig der Freiheit Beraubten kann nur eine entschieden schädliche sein.
Noch ein kurzes Wort der Erklärung der letztgenannten Strafen. Die ersten vier erklären sich selbst.[159]
Ich habe nie gehört, daß man sie angewandt hätte. Ebenso halte ich auch die tatsächliche Anwendung der sechsten für ausgeschlossen. Sie stehen eben nur auf dem Papier. Am ehesten kommt noch die »einsame Einsperrung« zur Betätigung.
Diese geschieht auf zweierlei Weise und wird nur in Fällen schlimmster Renitenz, beim sogenannten »Wilden Mann spielen« oder sonstigen groben Täuschungen der Behörde verhängt, sonst aber auch dann, wenn das Verhalten des Häftlings seine Gesundheit oder gar sein Leben gefährdet. Das eine führt ihn in die Polster- oder Gummizelle, das andere in die Dunkelzelle, die sogenannte »schwarze Zelle.«
Gilt letztere schon als der Schrecken aller Exzedenten, die erstere ist es noch mehr. Sie trägt ihren Namen mit Recht, denn man hat sie durchweg mit Gummi ausgepolstert, und ihre Bestimmung ist es, jene unglücklichen Tobsüchtigen aufzunehmen, bis sie sich von ihrer schadenbringenden Aufregung wieder erholt haben.
Man kann darum auch die Unterbringung in dieser Zelle nicht eigentlich eine Strafe nennen. Dennoch wird sie meist für eine größere Qual betrachtet als selbst die schwarze Zelle. Besitzt doch die Gummizelle gar keine Fenster, weil auch dadurch eine Verletzung stattfinden könnte. Sie ist also ebenso finster[160] und voll Stickluft wie die schwarze Zelle, deren Fenster wie im Dunkelarrest der Strafanstalt mit einem Laden verschlossen wird.
»Zehnmal lieber möcht' ich noch in die schwarze Zelle, wenn's sein muß; nur nicht in die Gummizelle. Da muß man doch erst verrückt werden!« sagte mir einst eine Schicksalsgenossin beim Spaziergang im Gefängnishofe.
»Waren Sie denn schon drin?« fragte ich dagegen.
»Ach nein! glücklicherweise nicht,« fiel sie hastig ein. »Ich sah nur mal im Vorübergehen hinein, wie die Tür offen stand«, schloß die Frau ihren Bericht.
Natürlich kann ich die Beschreibung solcher Räume nicht aus eigener Erfahrung geben, denn ich selbst habe keinerlei Bestrafung im Untersuchungsgefängnis erlitten.