Lektüre.

[119] Die Bibliothek der Gefangenanstalt enthielt eine reiche Auswahl guter und nützlicher Bücher. Es gab da die verschiedensten Zeitschriften in Jahrgänge gebunden. Man hatte alte und neue Romantiker, sowie Werke klassischer Literatur dort aufgespeichert. Daneben sorgten nicht nur die verschiedenen lehrreichen Rubriken der Zeitschriften, sondern auch viele andere wissenschaftliche Werke der mannigfaltigsten Arten und Gebiete für geistige Anregung.

Die Verwalter dieser Geistesschätze waren die beiden Geistlichen der Anstalt, die das Amt der Bibliothekare bekleideten und die Verteilung der Bücher und Schriften an die Gefangenen, sowie den Bücherwechsel zu besorgen hatten, der alle vierzehn Tage an einem bestimmten Wochentags-Vormittage stattzufinden pflegte. Die jedem Gefangenen zugeteilten Bücher – man bekam meist mehrere auf einmal – blieben entgegen den strengen Bestimmungen der Strafanstalt in der Zelle liegen. So war es den Untersuchungshäftlingen unverwehrt, gelegentlich vom Arbeiten auszuruhen und sich der Lektüre zuzuwenden.

Ich wurde von unserem Pastor ständig mit guter, passender Lektüre versorgt, habe nicht nur unterhaltende Bücher und Zeitschriften gelesen, sondern[119] auch aus verschiedenen gediegenen wissenschaftlichen Werken geistige Nahrung geschöpft. Welt- und völkergeschichtliche Studien, Religions- und Kulturgeschichte, geographische Werke, die Erlebnisse der Polarreisenden und andere interessante Themata beschäftigten mich abwechselnd. Das Förderndste aber war, daß der Pfarrer sich stets mit mir über meinen Lesestoff unterhielt. In solch nützlichem und anregendem Gedankenaustausch konnten wir Beide die Zeit und den Ort, wo wir uns befanden, vergessen. Auch mein Leid wurde stiller und schwieg zuzeiten gänzlich, um freilich später desto quälender aufzuwachen.

Oft fragte mich der Geistliche direkt nach meinen Wünschen bezüglich der Lektüre. Besonders nachdem ich durch seine Vermittelung zur literarischen Selbstbeschäftigung gekommen war, wurde der Eifrige nicht müde, mir alle möglichen Hilfsbücher aus der Bibliothek auf meine Bitte herbeizuholen, da ich mir Exzerpte zu machen wünschte.

Außer diesen vortrefflichen Büchern enthielt die Bibliothek allerdings auch weniger begehrenswerten Lesestoff. Es waren teils veraltete Schriftwerke aus früheren Zeiten, die in dem Inventarbestand verblieben waren, oder es fanden sich mitunter pietistisch gehaltene Bändchen von etwas neuerem Datum dazwischen, die hin und wieder einmal mit ausgegeben[120] wurden, bei den Empfängern jedoch begreiflicherweise keine Freude erregten.

Besonders beklagten sich die Katholiken unter den Gefangenen über Mangel an guter Lektüre. Ich habe aber nie genau erfahren können, ob ihr Lesematerial einer anderen Bibliothek entstammte. Jedenfalls erhielten sie die Bücher von dem katholischen Kaplan, der hier mit der Seelsorge und den sonstigen Amtshandlungen betraut war.

»Ich hab' wieder mal 'ne schöne Schwarte erwischt. So was lese ich doch nicht. Da brauchten sie ein'm doch garnichts erst zu geben!«

Diese halblaut hervorgestoßenen Worte hörte ich eines Tages im Gefängnishofe aus dem Munde einer Protestantin.

»Sie bekommen doch von Ihrem Pfarrer fast immer gute Bücher. Unser Kaplan aber, der bringt uns lauter so'n Zeugs!« erwiderte ihr eine Katholikin.

Solche Klagen konnte man öfter hören, denn es waren gerade zu jener Zeit in der Gefangenanstalt zu D. viele Ausländerinnen dieses Glaubensbekenntnisses, vorzugsweise aber Böhminnen in Untersuchungshaft.

Auch Zigeunerinnen waren nicht selten kürzere oder längere Zeit Gäste in dem Gefängnis. Sie stellten sich meist an, als seien sie der deutschen Sprache nicht mächtig. Dennoch konnte man wohl bemerken,[121] wie beredt sie wurden, sobald sie glaubten, eine gleichgesinnte Genossin gefunden zu haben.

Solche Leute bekamen natürlich keine Bücher. Sie hatten wohl auch kaum den Wunsch darnach. Dennoch befanden sich auch unter den ausländischen Katholikinnen viele, die nicht nur in der deutschen Sprache sich gut auszudrücken vermochten, sondern auch gern ein gutes deutsches Buch lasen. Allerdings nicht lediglich Andachtsbücher. Diese hatten sowohl Katholiken wie Protestanten in ihren Zellen. Außerdem diente zur Erbauung der Gottesdienst.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 119-122.
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