Das Leumundszeugnis.

[198] Ein sehr wunder Punkt in unseren strafrechtlichen Verhältnissen ist die Einholung des Leumundszeugnisses über die Inhaftierten. Um ein solches besonders über noch nicht Vorbestrafte, über solche, die noch keine »Akten« haben, zu erlangen, wird ein Kriminalbeamter beauftragt, der dann überall herumfragt bei Bekannten, Haus- und Nachbarsleuten des Angeschuldigten, wahllos, ja oft genug planlos; der sich dabei häufig von Übelgesinnten beliebige Lügen, Entstellungen und Verdrehungen, nicht selten sogar direkt böswillige Verleumdungen beibringen läßt. Diese trägt er dann in der Hauptverhandlung als Leumundszeugnis des Angeschuldigten vor, der gegen solche Vorwürfe völlig machtlos ist. Will er sich dagegen auflehnen und Gegenzeugen beantragen, verlangt er auch nur, daß ihm die Verleumder selbst Auge in Auge gegenübergestellt werden, so wird das abgelehnt[198] mit dem Bemerken, das sei unnötig, da es mit der Strafsache selbst nichts zu tun habe. Dennoch werden die Richter meist durch derartig falsche Leumundszeugnisse ungünstig gegen den Angeschuldigten gestimmt. Sie glauben ihm nichts mehr, was nicht durch Tatsachen oder durch einwandfreie Zeugen nachgewiesen ist. Er erscheint im vorhinein gebrandmarkt und verächtlich gemacht als erbärmlicher Lügner, während die für unbescholten geltenden Verleumder, die in den meisten Fällen seelisch tief unter ihrem Opfer stehen, ihr lichtscheues Werk ungestraft treiben können. Trifft sie doch keine Verantwortung für das Unheil, das sie anrichten, denn sie brauchen für ihre falsche Aussage nicht selbst einzutreten, sie nicht zu beschwören.

Ein Beispiel möge die Wahrheit des Gesagten beweisen.

Es handelt sich um eine ältere Frau aus den gebildeten Ständen, die alleinstehend in einer Großstadt bei einer jener professionellen Vermieterinnen wohnte, welche vorzugsweise gern Leute aufnehmen, die zeitweilig in Zahlungsschwierigkeiten stecken, aber gutmütig, oder auch leichtsinnig genug sind, um sich später der hilf- und nachsichtsreichen Wirtin in doppelter Weise dankbar zu bezeigen.

So hat auch unsere Untersuchungsgefangene die Vermieterin stets reichlich entschädigt, wenn sie auf die Monatsmiete einmal längere Zeit warten mußte,[199] ihr auch sonst namhafte Geschenke gemacht. Durch ihre auf der Reise erfolgte Verhaftung ist das alles mit einem Schlage anders geworden. Die Vermieterin hat nicht nur keinen Gewinn mehr von der Inhaftierten, sondern im Gegenteil sogar einige Unannehmlichkeiten. Sofort läßt sie die Gesunkene gänzlich fallen und entwirft dem befragenden Beamten ein möglichst abstoßendes Bild der unglücklichen Geächteten. Sie tut dies einesteils aus gedankenloser Klatschsucht, aus dem Drange, sich wichtig zu machen, Sensation zu erregen; zum andern, um sich selbst der armen Sünderin gegenüber in ein möglichst helles Licht zu rücken; endlich auch wohl bewußt oder unbewußt direkt aus Feindschaft, aus der Wut des berechnenden Egoismus, wenn er merkt, daß ihm seine Beute entzogen ist.

In diesem Falle handelt es sich aber nicht nur um Entstellungen und Verdrehungen an sich wahrer Tatsachen, nicht nur um verschlimmernde Zusätze, nein, um willkürliche Erfindungen, um aus der Luft gegriffene böswillige Verleumdungen.

Die Angeschuldigte sollte unter anderem von öffentlichen Behörden auf demütigendste Weise fortgewiesen worden sein. Ferner sollte sie sich in staatsfeindliche Umtriebe eingelassen und sich in diesem Sinne vielfach betätigt haben.

Der Staatsanwalt hatte bei diesem Bericht des[200] Kriminalbeamten höchst bedenklich die Stirn kraus gezogen und sich eifrig Notizen gemacht.

Nun wird man vielleicht fragen: »Kann denn das Zeugnis einer einzigen Person, noch dazu durch einen Dritten vermittelt genügen, einem bisher unbescholtenen Menschen den Garaus zu machen?« – Das ist allerdings nicht der Fall, selbst wenn der Berichterstatter von allgemein anerkannter Tugendhaftigkeit wäre. Es werden immer die Aussagen mehrerer Personen in Frage kommen. Aber auch das dient dem Angeschuldigten mehr zum Schaden als zum Nutzen, denn es wird dem ersten Verleumder jederzeit leicht werden, dem inquirierenden Beamten, der vielleicht am Orte ganz fremd ist, weitere falsche Zeugen vorzuschlagen. Jener wird sich freuen, daß ihm die Sache derart erleichtert wird, und die Zeugen anhören, ohne sie selbst auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen.

Auf solche Weise kommen Leumundszeugnisse zustande, die dem Angeschuldigten zwar in seinem Strafverfahren nicht direkt Schaden bringen, ihm aber dennoch durch Verminderung oder gänzliche Vernichtung seiner Glaubwürdigkeit die gute Meinung seiner Richter rauben und seine Position ganz erheblich verschlimmern.

Das trifft auch in unserem Falle zu. Die unglückliche Frau, deren Seelenleben man ja nicht mit Röntgen-Strahlen durchleuchten kann, wird zu schwerer[201] Gefängnisstrafe verurteilt, worüber man sich nicht wundern darf. Denn was der Angeschuldigte nicht selbst eingesteht, was ihm nicht durch Zeugen oder Indizien bewiesen werden kann, das dient trotzdem zur Verschlimmerung seiner Strafsache, sobald man es ihm nach dem Ermessen der Richter »zutrauen« kann. Dieses »Zutrauenkönnen« aber resultiert aus dem Leumundszeugnis, das ihm zur Seite steht.

Sollte es nicht möglich sein, auf diese durch Kriminalschutzleute eingeholten Leumundszeugnisse gänzlich zu verzichten, die doch in keinem Falle einen durchaus sicheren Maßstab über die Qualitäten des Angefragten geben können, selbst wenn nicht durch Oberflächlichkeit auf der einen, durch Leichtsinn oder Böswilligkeit auf der anderen Seite dem Verdächtigten unberechenbarer Schaden zugefügt wird. Eine vom Gericht selbst bei der Behörde des Heimatortes eingezogene Erkundigung nach dem Vorleben des Angeklagten würde für sich allein genügen und jedenfalls ein wahrheitsgetreueres Gesamtbild von seinem Charakter geben.

Wie jener Frau ergeht es noch sehr vielen Untersuchungsgefangenen, denen das Leumundszeugnis zum Unglück gereichte, denn Fälle wie der oben geschilderte gehören leider nicht zu den Ausnahmen.[202]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 198-203.
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