Eine Episode.

[217] Die mir zudiktierte Strafe sollte ich im Landesgefängnis für weibliche Sträflinge abbüßen. Meine Einlieferung dahin kann ich übergehen, da solche sich in der Hauptsache gleichbleiben, und ich zum Schlusse noch eingehend darauf zurückkommen werde. Auch die kurze Episode meines Dortseins würde kaum der Erwähnung bedürfen, wenn sie nicht durch zwei Punkte Wichtigkeit erlangt hätte.

Nachdem ich kaum daselbst angekommen war, ließ der damals dort amtierende Pfarrer E. mich vorführen. Ziemlich inquisitorisch und gar nicht so mild gütig, wie ich es von dem jungen Geistlichen im Untersuchungsgefängnis gewöhnt war, empfing er mich gleich anfangs mit der Frage:

»Glauben Sie denn nun die Strafe verdient zu haben?«

»Ja und nein, Herr Pastor!« entgegnete ich mit ruhiger Bestimmtheit. »Wenn ich sie dafür erhalten habe, daß ich, mit genügenden Verstandeskräften ausgerüstet, verstandeslos gehandelt habe, so habe ich sie reichlich verdient. Insofern ich sie aber für bewußten und gewollten Betrug zuerteilt bekommen habe, dann erleide ich sie unschuldig.«

Augenscheinlich verwundert schaute mir der Pfarrer ins Gesicht, erwiderte aber nichts.[217]

Etwa acht Tage später war ich wieder bei ihm. Ohne Veranlassung meinerseits, unvermittelt, wie es seine Art war, sagte er hart und kalt:

»Sie haben keine Aussicht auf Berücksichtigung eines Gnadengesuchs, weil Sie die betrügerische Absicht nicht eingestehen.«

»Wie kann ich etwas eingestehen, was nicht auf Wahrheit beruht, Herr Pastor?« entgegnete ich innerlich empört.

Auch darauf erwiderte er nicht viel. Ich habe nie ergründen können, ob er in der Folge eine etwas bessere Meinung über mich gewonnen hatte, ob er die Möglichkeit gelten ließ, daß ich die Wahrheit gesprochen, wenn ich behauptete, daß ich, obschon zu Recht verurteilt, dennoch im höheren Sinne unschuldig sei.

Eines Tages trat der Pfarrer zu ungewohnter Zeit bei mir ein, um mir wieder völlig unvermittelt und mit wuchtiger Plötzlichkeit gleichgültigen Tones die erschreckende Kunde zu bringen, daß meine frühere Zellengenossin im Untersuchungsgefängnis, diejenige, für die ich mich geopfert, deretwegen ich mein Schicksal verschlimmert, mir die Meineidsverleitungsstrafsache zugezogen hatte, am heutigen Morgen daselbst beerdigt worden sei.

Diese Kunde war geeignet, mein durch alles Vorangegangene schon gewaltig irritiertes Nervensystem völlig zu erschüttern. Dies umsomehr, da sie ungeahnt[218] wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich herniederfuhr.

Anklageschrift und Eröffnungsbeschluß wurden mir zugestellt, worin man mich bezichtigte, zu ihren Gunsten, um sie vor Strafe zu retten, eine Zeugin zum Meineid verleitet zu haben. Nun war das Opfer umsonst gebracht. Nun war sie dahingegangen, für die es geschehen.

Das warf mich nieder. Ein Schlaganfall brachte mich auf's Krankenlager, von dem ich zwar nach Monatsfrist wieder aufstand, doch war ich aus einer gesunden, kräftigen älteren Person zur siechen, halbgelähmten Greisin geworden. – –

Nachdem ich vier Monate meiner Strafzeit im Landesgefängnis verbüßt hatte, brachte man mich am 8. Mai 1901 zu meiner zweiten, der Meineidsverteilungs-Verhandlung nach D. zurück.

Ich zog wieder in die Räume ein, die ich im Januar desselben Jahres gesund verlassen hatte, um nach dieser kurzen, aber ereignisreichen Episode abermals für ein paar Monate hier zu weilen.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 217-219.
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