Das Benehmen bei Tische.

[39] Auch das Essen ist, wenn nicht eine Kunst, doch eine Kunstfertigkeit, die mit Anstand und Grazie ausgeübt sein will. Die Art, wie jemand ißt, wird häufig charakteristisch, und an der table d'hôte des Hotels können wir den Bildungsgrad unserer Tischgenossen schon an den Manieren erkennen, mit denen sie essen.

Pünktlichkeit ist eine absolute Notwendigkeit, wenn man zur Tafel geladen ist. Ein verspätetes Erscheinen zu einem Mahle setzt Wirt und Wirtin in die unangenehme Lage, die ganze Gesellschaft entweder warten zu lassen, oder ohne den verspäteten Gast zu Tische zu gehen. Abgesehen davon, daß es auch eine Geringschätzung der ganzen Gesellschaft involviert, könnte auch leicht die gute Laune der Wirtin verdorben werden, die ja befürchten muß, daß das eine oder andere Gericht an Geschmack verliere. – Sobald der Hausfrau angezeigt wird, daß angerichtet ist, erhebt sich dieselbe, verbeugt sich gegen einen Herrn aus der Gesellschaft, dem sie ihren Arm reicht, um sich von ihm zum Tische führen zu lassen. Dann folgt der Hausherr, welcher eine durch Alter oder Rang ausgezeichnete Dame führt. Wirt und Wirtin nehmen in der Mitte der Tafel gegenübersitzend [40] Platz und sorgen von dort aus für die Bewirtung und Unterhaltung der Gäste. Sind mehrere Personen von gleich hohem Range anwesend, so setzt man sie, wenn thunlich, neben einander, und die Hausfrau nimmt ihren Platz zwischen zwei Herren, deren Gemahlinnen nicht neben dem Hausherrn sitzen konnten, damit die Ehren gleichmäßig verteilt werden.

Beim Herumreichen der Speisen lasse man den neben uns sitzenden Damen die Ehre, sich mit den dargereichten Speisen zuerst zu versorgen; wird aber eine Reihenfolge beliebt, so soll man diese nicht stören. Wird uns vom Nachbar eine Schüssel präsentiert, so nehme man sie ihm gleich ab. Es wäre aber höchst unanständig, wollte man sich das beste Stück auswählen. Man nehme, was gerade zur Hand liegt, und lege nie ein angestochenes Stück zurück, um ein anderes zu wählen. Schalen mit Saucen, Brühen etc. reicht man so herum, daß der Henkel oder der in der Flüssigkeit ligende Löffel dem Nachbar bequem zur Hand liegt. Niemals zeige man ein auffallendes Verlangen nach einem Lieblingsgericht oder nehme davon über das schickliche Maß. Dagegen sei man auch nicht allzu schüchtern und lehne nicht zu viel von dem ab, was geboten wird, kurz, man stille sattsam seinen Hunger und Durst. Man fange nicht zuerst zu essen an und richte sich auch so ein, daß man nicht der letzte ist. – Kommen Speisen zur Tafel, mit deren Handhabung man beim Essen nicht vertraut ist, z.B. Artischoken, Krebse, Austern etc. so sehe man möglichst unbemerkt erst [41] auf andere, wie sie es anstellen, und ahme ihrem Beispiele nach.

Es ist sehr gut, wenn man bei Tische die linke Hand eben so gut zu gebrauchen weiß, wie die rechte. Ja, es gehört zum guten Tone, alle Speisen, welche mit Messer und Gabel zerlegt werden, mit der linken Hand zum Munde zu führen, wobei man sich jeden Bissen der Speise besonders abschneidet. Personen, welche für gewöhnlich die Gabel in die rechte Hand nehmen, und dann, wenn sie dieses nicht thun, Gemüse oder dergleichen mit dem Messer zum Munde führen, ist man geneigt, als solche zu betrachten, die nicht zur guten Gesellschaft gehören. Nur beim Verspeisen von Fisch nimmt man die Gabel in die rechte Hand und versieht die linke mit einem Stückchen Brot. Mit letzterem hält man den Fisch fest, um mittelst der Gabel das Fleisch von den Gräten loszublättern. Ist dies geschehen, so schiebt man mit Hilfe des Brotstückchens den Bissen auf die Gabel und führt diese zum Munde. Sich geradezu der Finger beim Essen zu bedienen, ist nur bei kleinem Geflügel, als Krammetsvögeln, Lerchen etc., so wie bei Krebsen gestattet. Auch schreibt die feinere Sitte das Brechen des Brotes mittelst derselben vor. – Wo Wein in Flaschen auf dem Tische steht, übernimmt der zunächst sitzende Herr das Einschenken, selbst wenn er vom Wirte hierzu nicht aufgefordert wäre. Damen werden natürlich zuerst bedient, wobei zu fragen ist, welche Sorte beliebt wird. Aus vollen Flaschen gießt man zunächst den Teil, welcher Korkstückchen enthalten könnte, [42] in sein eigenes Glas, und füllt dann die übrigen Gläser, jedoch niemals bis zum Rande, höchstens drei Vierteile voll.

Das Aufheben der Tafel steht der Dame des Hauses, oder derjenigen, welche den Ehrensitz einnimmt, zu. Sie erhebt sich zu diesem Zwecke etwas geräuschvoll, schiebt ihren Stuhl zurück und macht ihren beiden Nachbaren eine Verbeugung. Früher war es üblich, daß sich die Frau vom Hause mit den Worten »gesegnete Mahlzeit« verabschiedete, doch gilt dies jetzt für veraltet. Nach aufgehobener Tafel geleitet jeder Herr seine Tischnachbarin wieder in den Empfangssaal und bemüht sich in die Nähe der Hausfrau zu kommen, um derselben eine Verbeugung zu machen und etwas Verbindliches zu sagen.

Quelle:
Junker, Franz: Das feine Benehmen in Gesellschaften. Styrum, vorm. Oberhausen [1887], S. 39-43.
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