Die Höflichkeit.

Unter Höflichkeit versteht man im allgemeinen den Ausdruck feiner Gesittung und gesellschaftlicher Bildung durch äußere Zeichen. Sie soll in Wahrheit der Abglanz von Menschenfreundlichkeit und Herzensgüte, der Ausdruck des Gefühles der Achtung gegen andere und des Bestrebens sein, seine eigene Persönlichkeit anderen unterzuordnen. Die wahre ursprüngliche Höflichkeit ist daher Herzenssache und das Resultat einer gründlichen Durchbildung und Erziehung des Menschen. Und wo immer Heuchelei und Eigennutz in dem erborgten Gewande der Höflichkeit erscheinen, dem Menschenkenner bleiben sie nicht verborgen, denn er kennt bald in der Erfüllung der allgemein gültigen Schicklichkeitsregeln die Selbstgenügsamkeit heraus. Unmerklich mischt sich in die Höflichkeitsbezeugungen der individuelle Charakter des Menschen; man wähle daher nicht die Form statt des Wesens und verbinde Schein und Sein zu schöner Harmonie. Wie die Sprache der Ausdruck unserer Gedanken ist und diese ohne jene stets verborgen bleiben würden, so sei die Höflichkeit die Form, in welcher das Wohlwollen unseres Herzens, unser Denken und Empfinden seinen wahren Ausdruck finde; sie werde [3] zum bequemen alltäglichen Kleide und nicht zum Staatsgewande, das nur bei seltenen Gelegenheiten getragen wird.

Unsere Höflichkeit findet ihren Ausdruck durch Blick und Miene, durch die Sprache, durch Gefälligkeiten und freundliches Entgegenkommen. Aus dem Auge spricht die Seele; es ist der Spiegel derselben und wer es versteht, kann darin die geheimsten Gedanken der Menschen lesen. Hat jemand ein Unrecht begangen, etwas Unwahres gesagt, wie leicht wird es durch Blick und Gesichtsausdruck verraten, falls derselbe nicht ein vollendeter Heuchler ist. Sie reden eine stumme Sprache, vielsagender als der beredtste Mund. Wir können daher leicht durch Blick und Miene uns das Zutrauen und die Achtung anderer erwerben, herrscht nur Edelsinn, Wohlwollen und Reinheit in unsern Gedanken. Charakterfestigkeit, Selbstgefühl und Selbstachtung geben einen freien, offenen Blick, welcher nicht unverschämt und frech, sondern sanft, bescheiden und freundlich sein muß. Er ist das Werk eines natürlich schön geöffneten Auges, das weder starr noch beweglich, ohne Ängstlichkeit und Scheu, begleitet von einem zarten Lächeln und einnehmender Freundlichkeit seinem Partnerius Antlitz schaut. Zu erlangen ist derselbe aber nur durch wahre Bildung des Geistes und Veredlung des Herzens und durch Nachahmung derjenigen, welchen diese beglückende Miene eigen ist. – Der Gedanke, seinen Gesichtsausdruck nach den Erfordernissen der Umgebung einzurichten, enthält nach dem Gesagten etwas Widernatürliches, Heuchlerisches, [4] und doch ist es in der Gesellschaft geboten, nicht jede Seelenstimmung zur Schau zu tragen, denn ein Gesicht, das Trauer, Schmerz, Zorn, Verachtung, Eifersucht etc. ausdrückt, zieht nicht an, sondern stößt ab. Die Ausbildung des Blickes, die Herrschaft über Miene und Geberde sind bei eiserner Willenskraft und unermüdlichem Eifer wohl erreichbar. Wen die Natur mit einem weniger schönen Antlitz begabt hat, der hat alle Ursache, dasselbe durch einen freundlichen, offenen, freien und doch bescheidenen Blick, durch eine Miene, die Wohlwollen, Herzensgüte und wahre Humanität ausdrückt, zu verschönen. Die Sprache der Höflichkeit muß stets einnehmend und verbindlich sein und alles vermeiden, was irgend jemand unangenehm sein könnte. Der Ton der Rede sei durchaus anständig und gefällig, sanft und gelassen. Man bittet, wo man etwas wünscht, und dankt verbindlichst für das Empfangene, bedient sich überall des richtigen Ausdrucks der Hochachtung und fügt sich gewandt und geschmeidig in alle Umstände und persönlichen Verhältnisse. Die rechte Kunst zu gefallen, besteht nicht sowohl darin, daß wir andern, sondern daß andere sich mit uns gefallen. Deshalb stelle man in der Konversation nie egoistischer Weise sich selbst voran und werde sein eigener Lobredner. Wo es ohne Schmeichelei und Kriecherei geschehen kann, hebe man die Vorzüge anderer hervor und gründe diese auf Wahrheit, so daß sie weniger eine Lobpreisung als eine gerechte Anerkennung sind. Derartige Verbindlichkeiten müssen so gut eingekleidet und so geschickt vorgetragen werden, [5] daß auch der Bescheidene nicht Ursache hat, darüber zu erröten und sie gerne anhört. – So unhöflich es ist, sich mit den Meinungen anderer in schroffen Widerspruch zu setzen, so wenig ist aber das schmeichlerische Anschließen an die gegenteilige Meinung anderer mit Höflichkeit zu verwechseln. – Haben wir mit jemanden ein Gespräch angeknüpft und es fällt in unserer Nähe eine Lächerlichkeit vor, so lasse man sich im ernsthaften Zuhören nicht stören und nehme durchaus keine lächelnde Miene an, weil der Sprechende sonst an uns irre werden und glauben könnte, daß wir ihn oder sein Gespräch lächerlich finden. –

Wie die Höflichkeit geeignet ist, uns in Achtung und Respekt zu setzen, so bietet sie auch dem klugen Menschen die beste Waffe, um sich derjenigen Personen zu erwehren, die ihm unbequem und unsympathisch sind. Widerwärtige Menschen unfreundlich, rauh und gar grob behandeln, verstößt selbstverständlich gegen die gute Lebensart.

Es ist unbestreitbare Thatsache, daß ein artiges und zugleich ausgezeichnet höfliches und doch selbstbewußtes Benehmen weit sicherer die Menschen, mit denen wir nichts zu thun haben wollen, in einer respektvollen Entfernung von uns hält, als Unart und Grobheit. Nicht mit Unrecht bezeichnet man eine derartige Höflichkeit als eine »unnahbare«. Unnahbar sein durch seine Höflichkeit, aalglatt und völlig unfaßbar sich jeder rauhen Berührung entwinden können und selbst dem Uebelwollenden niemals als eine Handhabe für seine schlimmen Anschläge bieten, das ist eiue hohe Kunst, deren Aneignung [6] und Ausübung sich jeder sollte angelegen sein lassen. Es wird durch dieselbe vieles Unheil vermieden, mancher Keim zu schlimmen Verwicklungen schon in seinen Anfängen zerstört und die vielfach gefährdete gute Lebensart vor jeder Verletzung behütet.

Wenn sich dem Höflichen eine schickliche Gelegenheit bietet, jemanden aus der Gesellschaft eine Gefälligkeit, einen Liebesdienst erweisen zu können, bedenkt er sich keinen Augenblick, dieses zu thun. Die Gefälligkeit ist eine moralische Vollkommenheit, ohne welche andere gesellschaftlichen Tugenden kaum bestehen, sich äußern und liebenswürdig sein können. Wenn der Ausspruch eines alten Weltweisen wahr ist, daß die Eintracht und Freundschaft die Ursachen des fortdauernden Daseins der Welt sind: so ist gewiß, daß sie es nicht sein können, wenn sie nicht gefällig sind. Eine Freigebigkeit ohne Gefälligkeit verdient ein kleines Lob, und so verhält es sich mit allen andern Tugenden, welche zur Glückseligkeit des Menschen unter einander nötig sind. Die Gefälligkeit ist die Seele des Umganges, und das Vergnügen aller Gesellschaften lebt mit ihr und stirbt mit ihr. Es giebt unzählige Gelegenheiten, sich gefällig zu erzeigen und sich dadurch die Gunst der Damen wie das Wohlwollen der Herren zu erwerben. Den für seine Gefälligkeit eingeernteten Dank nimmt man wohl mit bescheidener Miene an, erklärt ihn aber für ein unverdientes Geschenk und setzt hinzu, daß man nichts weiter gethan habe, als seine Schuldigkeit. So versteht der Artige und Höfliche [7] die Kunst, jeder noch so kleinen Kundgebung von Seiten eines andern eine Wichtigkeit und einen gewissen Wert beizulegen, und sich in allen Dingen so geschickt zu benehmen, daß er sich bei allen, mit denen er in nähere Berührung kommt, geschätzt und beliebt zu machen weiß. Gegen hochgestellte Persönlichkeiten und solche von besonderer Distinktion, wie auch gegen unsere Vorgesetzten nehme unsere Höflichkeit und Artigkeit etwas mehr Ernst und feierlichen Anstrich an und erweise sich in ihren Äußerungen weniger ungebunden, als sie es sonst gewohnt ist. Wo wir anderwärts durch unser Benehmen nur Achtung zeigen, haben wir hier Ehrfurcht, Ehrerbietung und Hochachtung zum Ausdruck zu bringen, nur seien wir streng auf der Hut, auch hier durch Zuviel das richtige Maß nicht zu überschreiten.

Quelle:
Junker, Franz: Das feine Benehmen in Gesellschaften. Styrum, vorm. Oberhausen [1887], S. 3-8.
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