[95] Der Regisseur Gerstel erkrankte und erhob sich nicht wieder von seinem Krankenlager, auf das ihn der Zahn der Zeit geworfen. Ueber 30 Jahre hatte er dem Verbande des Hoftheaters angehört. In seiner Rüstigkeit war er ein vorzüglicher Baßbuffo, ich habe ihn noch als Bartolo im »Barbier von Sevilla« gehört, und mir wird diese Leistung unvergeßlich bleiben. Das Alter freilich hatte ihn später stumpf gemacht, Stuttgart hat ihn aber in seiner glänzendsten Zeit, im Vollbesitz seiner Künstlerschaft kennen gelernt. Ich hatte ja durch ihn vielen Aerger, wozu auch manches Mißverstehen meinerseits beitragen mochte, ich wurde durch ihn künstlerisch gedrückt – aber doch blutete mir bei seinem Hinscheiden das Herz, als ich sah, wie ein Mann begraben wurde, der zu Stuttgarts Lieblingen gezählt hatte. Kaum zwölf Personen folgten dem Sarge; sang- und klanglos wurde ein Mitglied eingescharrt, das über drei Dezennien dem dortigen Hoftheater sein Bestes gegeben.
Wie anders ist es in anderen Städten, Wien, Berlin etc. Stirbt dort dem Publikum einer seiner beliebten Künstler, trauert die ganze Stadt, der Kirchhof vermag die Zahl der Leidtragenden nicht zu fassen, und in kürzester Frist ist eine genügende Summe zusammengebracht, um den Toten durch ein Denkmal zu ehren!
Nach Gerstels Tode fiel die Regie des Schauspiels fast ausschließlich an Herrn Pauli. Zwar war ja noch von alter Zeit her Herr Dr. Löwe als Regisseur engagiert, den man wegen seiner Machtstellung, die er unter früherem Regime innehatte, »den[96] allvermögenden Lord Leicester« nannte, und der, wie man sagt, in seiner Glanzzeit sich einen Kontrakt zu verschaffen gewußt hat, welcher ihn der Intendanz ganz souverain gegenüberstellt. Aber der Dr. Löwe ist ein außerordentlich kluger Mann, er sitzt auf seinem festen Kontrakt, den nur er, wie man sich wenigstens erzählt, und nicht die Intendanz, in Pension auflösen kann. Er ließ andere Leute sich ärgern. Sein Motto war: Leben und leben lassen; er intriguierte gegen niemand und gönnte jedem das, was er erreichen konnte. Auch im Rollenfach kränkte er niemand, er spielte vielleicht 8–10 mal im Jahre und ließ im übrigen den lieben Gott einen guten Mann sein und Andere die Regie führen. Dr. Löwe ist ein seiner, hochgebildeter Mann, als welcher er sich die Liebe Aller erworben. Er versteht auch Regie zu führen, aber man redete ihm höheren Orts zu viel drein, und es gibt Regisseure, die das nicht ertragen können. Sein Amtskollege vom Schauspiel war weit toleranter seinem jeweiligen Chef gegenüber, er saß ruhig auf dem Regiestuhle und war froh, wenn die Schauspieler ihre Stellungen, Arrangements u. dgl. unter sich abmachten; wenn ihn aber einer durch Fragen ärgerte, wußte er bei Meinungsverschiedenheiten durch sein kraftvolles Sprechorgan, das er nie schonte, die Würde der Regie stets aufrecht zu halten; gab aber der Herr Intendant dem Schauspieler recht, so war er wieder der treue Beamte, der sich genau das Arrangement so gedacht, wie es der Herr Geheime Hofrat wünschte.
Hin und wieder, namentlich bei meinen Reuter'schen Stücken, führte auch ich wohl die Regie, d.h. wie früher bei »Knecht Ruprecht«, »Pechschulze«, »Robert und Bertram« u.s.w., ich hatte die erste Arbeit davon, lenkte die ersten Proben und hinterher nach gethaner Arbeit – übernahm der offizielle Regisseur wieder die »Regie«.
Undank ist der Welt Lohn. Bei aller Tüchtigkeit Paulis engagierte die Intendanz doch bald darauf in Herrn v. Jendersky einen Oberregisseur, den Wehl in der ersten Zeit selbständig handeln ließ.[97]
Mit Jendersky kam neues Leben in die Mitglieder und in das Repertoir; er wußte, was er wollte, und seine mise en scéne, worauf er großen Wert legte, war außerordentlich geschmackvoll. –
Zur großen Freude aller Theatermitglieder besuchte der König häufiger das Theater und zeichnete mich in so wohlwollender Weise aus, daß ich mir wohl ohne Ueberhebung damals einbilden durfte, zu seinen Lieblingen zu gehören.
Mit welcher Begeisterung wurde gespielt, wenn der König im Theater war! – –
Nach und nach waren nun auch die andern Reuterschen Sachen in Stuttgart zur Aufführung gekommen, wie »Ut de Franzosentid«, »Hanne Nüte«, »Dörchläuchting«, »Du drögst de Pann weg« und »Jochen Päsel«.
Jendersky's Bearbeitung von »Ut de Franzosentid«, in welcher er mir den Ratsherr Herse zu einer dankbaren Rolle hergerichtet hatte, erlebte aber in Stuttgart, wie in Wien, ein offenbares Fiasko. Ich gab auch den Herse als dramatische Figur ganz auf und verlegte mich auf die mir besser liegende Rolle des Müller Voß, mit welcher ich an auswärtigen Bühnen hinfort eines durchschlagenden Erfolges immer gewiß war. In Stuttgart habe ich diese Rolle nur als Bruchstück in einem Akt gespielt. »Ut de Franzosentid« war einmal auf der Hofbühne durchgefallen, ich konnte meine Intendanz nicht dazu bewegen, die neue Bearbeitung vorzuführen. »Hanne Nüte« brachte ich zur Aufführung, aber ich mußte die Vogelkostüme auf meine Kosten herstellen lassen. Als Honorar für die Aufführung meiner Bearbeitung erhielt ich 200 Mark, welche ich dem hochverdienten Kapellmeister Max Seifriz überließ, der die entzückende Musik dazu geschrieben. – –
Auf Befehl des hochseligen Kaisers Wilhelm wurde ich nach Wiesbaden berufen, um ihm meine Reuterschen Rollen vorzuspielen. »Hanne Nüte«, »Ut de Franzosentid«, »Jochen Päsel«, »Du drögst de Pann weg«, »Onkel Bräsig« sah sich der greise Monarch jedesmal bis zu Ende an, letzteren sogar zwei Abende hintereinander. – Im letzten Aktevon »Onkel Bräsig«, sagt Axel v. Rambow, ein wegen Schulden abgegangener Offizier, der infolge seiner Mißwirtschaft auf seinem vom Vater übernommenem Gute sich erschießen will: »Ich will wieder in die Armee eintreten.« Kaiser Wilhelm, der vorn in der Prosceniumsloge saß, legte sich entrüstet über die Logenbrüstung und sagte: »Ja, ich nehme ihn aber nicht wieder!«
Am andern Morgen kam ein Adjutant des Kaisers auf die Bühne, und meldete, Seine Majestät würde abends nochmals dieselbe Vorstellung besuchen, wir möchten aber die Worte, die ihn vielleicht verletzt hätten, fortlassen oder umändern.
Und als nun am Abend der Darsteller des Axel v. Rambow statt »ich werde wieder in die Armee eintreten« sagte: »Ich werde mir einen tüchtigen Inspektor wieder nehmen, und hoffe es dann doch noch in der Landwirtschaft zu Etwas zu brin gen«, da nickte der alte hohe Herr recht freundlich mit dem Kopfe und sagte vernehmlich: »Ah ja – so lasse ich mirs gefallen!«
Kaiser Wilhelm war der dankbarste Theaterbesucher; er verließ als der Letzte das Theater, und so lange noch irgend ein Theaterenthusiast im Parterre oder auf der Galerie seinem Beifall Ausdruck gab, applaudierte auch der Kaiser mit. Ich sehe ihn heute noch, wie er die eine Hand in der Binde (es war kurze Zeit nach dem ruchlosen Nobilingschen Attentate), mit der gesunden Hand die zerschossene berührend, seinem Gefallen Ausdruck gab. Ein seliger, unvergeßlicher Augenblick für mich, den alten hohen Herrn so herzlich zum Lachen gebracht zu haben!
Einige Tage später gab der Regierungspräsident v. Wurmb in seinem Hause in Wiesbaden dem Kaiser eine Matinee, in welcher ein Festspiel aufgeführt wurde, wobei die aristokratische Gesellschaft Wiesbadens mitwirkte. Ich hatte das Festspiel in Scene gesetzt und viele Proben davon abgehalten. Nach der Aufführung stellte mich Herr v. Wurmb dem Kaiser vor. Als letzterer mich sah, rief er: »Ah, das ist Junkermann!« – Der[100] Kaiser hatte mich bisher nur immer in einer Perrücke auf der Bühne gesehen. – »Nun sagen Sie mal,« redete er mich weiter an, als ich in gebeugter Stellung vor ihm stand und dadurch meinen damals schon ziemlich kahlen Kopf ihm präsentieren mußte, »ist das nun auch eine Perücke, was Sie da tragen?«
»Nein, Majestät,« antwortete ich kläglich, »das bischen ist nun leider Wahrheit.«[101]
»Na, na,« tröstete er mich, »wenn ich auch noch mehr Haare habe wie Sie, so sind Sie doch noch ein Jüngling gegen mich!«
»Majestät,« sagte ich, »ich wünsche mir nur um eines lange Zeit die Jugend, um Ew. Majestät noch oft über mich lachen sehen zu können.«
»Ja,« sagte er, »ich habe herzlich gelacht, und ich danke Ihnen für die schönen Abende. Ich bin auch wieder mit jung gewesen, als ich ›Ut de Franzosentid‹ sah. Die Zeiten sind damals so gewesen, ich kenne sie, so war's, so war's. Und Sie haben es trefflich veranschaulicht!« – –
Der Kaiser wandte sich einer andern Gruppe zu, ich stand hochbeglückt da im Anschauen dieses leutseligsten aller Fürsten. Nach einer Weile kam der Kaiser abermals zu mir und sagte: »Ich höre, Sie haben auch das Festspiel hier in Scene gesetzt, ich habe gleich gemerkt, daß da eine Künstlerhand im Spiele war!«
Als der Kaiser mit freundlichem Kopfnicken verschwand, trat Geheimerat v.B. zu mir und raunte mir humoristisch ins Ohr: »Junkermann, Hohenzollern-Orden!« Meine Freude war grenzenlos, ich telegraphierte meine Erlebnisse und meine Aussichten sofort nach Stuttgart.
Der Orden aber blieb aus. Der Kaiser hatte sich die Sache lange überlegt, da er ja überhaupt an aktive Schauspieler niemals Orden verlieh. Herr v. Hülsen sagte mir später in Wiesbaden, der Kaiser hätte auf den Vorschlag, mich zu dekorieren, nach langem Bedenken geäußert: »Mein Sohn mag's thun, ich bleibe meinem Prinzipe treu!« und als Herr v. Hülsen dann vorschlug, eine Lyra oder einen eigenen Orden für Schauspieler zu stiften, meinte der Kaiser: »Ich überlasse das später meinem Sohne!«
Um mich für den entgangenen Orden zu entschädigen, erhielt ich bald darauf im Auftrage des Kaisers eine kostbare Perlen-Garnitur, und Herr v. Jendersky machte den schnöden[102] Witz, ich hätte eine Dekoration erwartet, hätte aber bloß ein Versatzstück erhalten!
Ob der Witz alt oder neu, gut oder schlecht, er vermochte mir das Andenken vom Kaiser Wilhelm nicht zu verkleinern. Heute erst, wo der gute Kaiser tot, ist es mein höchstes Kleinod, und kein Orden der ganzen Welt könnte mir dies Kleinod in den Schatten stellen.
Nach Jahren kam Kaiser Wilhelm nach Stuttgart zur Truppenschau. Abends mußte ich ihm im Hoftheater wieder den »Jochen Päsel« vorspielen, über den er stets so herzlich lachen konnte.
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