XXIII.

[192] Die New-Yorker Staatszeitung vom 16. Oktober 1887 schreibt:


Das war gestern ein festlicher, bewegter Abend im Thalia-Theater. August Junkermann, der das erstemal eine Bühne in Amerika betrat, wurde nicht nur von seinen Landsleuten, sondern vom ganzen großen Publikum mit einem Jubel und einer Herzlichkeit empfangen, die den Künstler mit Stolz erfüllen konnten. Es liegt ein großmütiger Zug in dieser rückhaltslosen Anerkennungsfreudigkeit unserer deutschen Theaterbesucher, die den Ruf, der dem Künstler voranging, im vorhinein für Ruhm nehmen. Und wie hat Junkermann die hochgespannten Erwartungen, die dem geräuschvollen Beifallssturm doch eigentlich zu Grunde lagen, gerechtfertigt? Der Künstler spielte gestern den »immerietierten Entspekter«, diese Perle der Reuterschen Komik, die aus dem Roman »Ut mine Stromtid« für die Bühne gefaßt wurde und die wohl zu bekannt ist, um noch einmal besprochen zu werden. Wir haben in New-York schon wackere Bräsigs geschehen, von Schauspielern dargestellt, die es verstanden, uns mit dieser Prachtgestalt zu befreunden und sie hier einzubürgern. Der gefeierte Gast, der Apostel Reuters, wie er in den nieder- und hochdeutschen Gauen des deutschen Vaterlandes genannt wird, hatte also eigentlich einen schweren Standpunkt, denn er mußte ein Evangelium zweimal predigen. Es kann nun gleich gesagt werden, daß die frohe Botschaft, wie Junkermann sie brachte, hier noch nie gehört worden. Man ist die Klänge der Reklametrommel, die von lärmbedürftigen Unternehmern für überseeische Gäste gerührt wird, hier so gewöhnt, daß man dem Publikum ein bißchen Mißtrauen nicht verargen könnte. Aber von Junkermann kann man ruhig sagen: er ist noch besser als sein[193] Ruf. Endlich wieder ein ganzer Schauspieler, einer, der über die glänzendsten Eigenschaften, die Natur und Kunst verleihen können, so gebietet, daß »eine kritische Regung gar nicht aufkommen kann«. Daß er die natürlichen Gaben, die zu seinem Beruf gehören: eine prächtige Bühnengestalt und ein schmiegsames, einschmeichelndes Organ besitzt, ist eigentlich selbstverständlich. Er ist aber einer jener, auch im Leben seltenen Menschen, denen man beim ersten Zusammentreffen ansieht, daß sie Humor und Gemüt haben. Diese angenehme Eigenschaft wird natürlich auf der Bühne doppelt kostbar, denn wer sie dort wie im Leben zur Schau zu tragen weiß, der braucht nur halb zu spielen. Und das ist die Ursache der unwiderstehlihen, erwärmenden Wirkung, die Junkermann gestern auf das New-Yorker Publikum, das ihm doch ganz fremd war, als »Onkel Bräsig« ausübte. Als Schauspieler ist er zweifellos in New-York noch nie übertroffen und selten erreicht worden.


Die New-Yorker Zeitung schreibt:


August Junkermanns Debut als »Inspektor Bräsig« – Ein großer Erfolg. – New-York hat jetzt den Inspektor Bräsig mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört; im Privatleben nennt er sich Junkermann; wer aber keinen Blick auf den Theaterzettel that, der konnte sich, ohne seiner Phantasie irgendwie Zwang anzuthun, mit Leichtigkeit der Illusion hingeben, daß die klassische Figur des »Entspekters«, wie sie Reuter vorgeschwebt, zu Fleisch und Blut geworden und auf die Bühne herabgestiegen sei. Das total ausverkaufte Haus, in welchem das plattdeutsche Element zwar vorherrschte, aber auch andere Stämme, die das Plattdeutsche nicht mit der Muttermilch eingesogen haben, zahlreich vertreten waren, nahm die Leistung des Künstlers, der sich als ein Charakterkomiker ersten Ranges erwies, mit jubelndem Beifall auf. Junkermann war in allen Scenen brillant, ob er die Geschichte seiner Wasserkur oder die Historie von seinen »drei Brauten«, die er auf einmal gehabt, erzählt, ob er auf dem Kirschbaum sitzend die Liebespaare belauschte, ob er Herrn Pomuchelskopp auseinandersetzte, was er, Bräsig, unter Pomuchelskopp eigentlich versteht, ob der Humor oder Herz und Gemüt das Wort führten, in allen Situationen war er gleich vorzüglich, er ging so ganz auf in dem Charakter und beherrschte den Dialekt so vollkommen, daß seine Leistung einen ungetrübten Genuß bot. Der[194] künstlerische Erfolg des Gastspiels war mit dem gestrigen Abend über jeden Zweifel entschieden und es heißt, eine sehr geringe Meinung von dem Verständnis unseres Publikums hegen, wenn der materielle Erfolg nicht ebenso durchschlagend werden sollte.


New York Herald:


Herr August Junkermann, in »Inspector Bräsig«, is, as the Germans say, colossal. The actor, a comedian of the first rank, made his first appearance in this country at the Thalia Theatre last night in the title part of the five act comedy drama, from Fritz Reuter's »Stromtid«. There was an immense audience, which welcomed Herr Junkermann warmly on his first entrance, and then as the play progressed became more and more enthusiastic in its applause, bravos and recalls, both during and ad the end of the acts. Truly no more perfect comedy picture of its kind has been seen here than that furnished by Herr Junkermann. As the jolly good hearted, old retired Mecklenburg land stewards, with his love of fun and his friends, the actor won the hearts of all present. And his capital Platt-Deutsch dialect and lifelike and inimitably comical manner of speech and bearing caused almost incessant laughter. With his stalwart, rotund form, his fat, kindly, clean shaven face and partly bald head, and his peculiar costume, of which a cap with a huge peac was one of che most striking features, he looked like a figure out of a picture by Knaus. Herr Junkermann, bubbling over as he was most of the time with jollity and friendship for all the world except the bad people, also especially, in his scene with his disheartened friend Habermann, the steward of Pümpelhagen, struck the true notes of feeling. When he embraced Habermann he brought down the house. In looks and in manner, for he was made up for about the same age, and is about tlie same heigt an build, Herr Junkermann recalled at times our own John Gilbert in his delightful picture of Brisemouche in »A Scrap of Paper.«


Das New-Yorker Journal berichtet:


Thalia-Theater. (A. Ph.) Mit Ausnahme der beiden großen Centren plattdeutscher Bevölkerung, Hamburg und Bremen, hat vielleicht keine Stadt beider Hemisphären eine größere, eingefleischtere, auf jedes Wort ihrer Apostel schwörende Reuter-Gemeinde,[195] als New-York. Nicht nur in den plattdeutschen Schichten, die in ihm, mit Zurücksetzung seines Vorgängers Klaus Groth, den Messias ihres Idioms, den Prinzen, der das in jahrhundertlangem Schlaf befangene niederdeutsche Dornröschen wachgeküßt hat, erblicken und verehren, sondern auch bei allen, die bislang nur das geliebte Hochdeutsch als litteraturberechtigt angesehen haben, hat Fritz Reuter eine auch noch heute immer mehr anwachsende Anhängerschaft gewonnen. Er verdankt die beispiellose Popularität, die seine Werke fast zum Hausbuche jeder Familie, vom Strande der Ostsee bis zum Fuße der Alpen, machen, in erster Linie der außerordentlichen Lebenswahrheit der Charaktere, die er, ein treuer Sohn seiner heimischen Gauen, der jedem Flügelschlage der niederdeutschen Volksseele gelauscht hat, nun, aus dem Born dieser so reich sprudelnden typischen Eigentümlichkeiten schöpfend, gleichsam von der Natur abporträtiert. Es sind Menschen, die er schafft, keine von der poetischen Phantasie geborene Fabelwesen, Menschen wie sie nur in den norddeutschen Tiefebenen, im pommerischen und mecklenburgischen Flachlande gedeihen, mit dem ganzen konservativen Zuge, dem ganzen mit beiden Füßen fest auf dem Boden, dem sie entsprossen sind, stehen, dem ganzen schalkhaften, behäbigen, durch und durch gesunden Humor, dem ganzen das Leben wesentlich von der nüchternen, praktischen Seite betrachten, durch eine tiefinnerliche, gemütvolle Liebe zu Haus und Hof, Weib geadelt – mit einem Worte, es sind plattdeutsche Charaktere in jeder Faser ihres Wesens, die Reuter der Litteratur des deutschen Volkes geschenkt hat. Es ist eine im beste Sinne des Wortes erquickliche Lektüre, diese Stromtid, Franzosentid, Schurr Murr, kein Hüsung u.s.w., und wer nach all den verzwickten an den Haaren herbeigezogenen psychologischen Problemen, mit denen die meisten der heutigen Erzähler den Appetit ihrer Leser zu reizen suchen, zu Nüßlers, Bräsig, Havermann und den anderen Reuterschen Prachtfiguren zurückkehrt, der wird die Erneuerung dieser Bekanntschaft mit jenem Wohlbehagen empfinden, mit welchem uns ein frisches Bad am heißen Sommertage überströmt. Von allen Charakteren aber, die dieser deutsche Dickens, dieser unvergleichliche Maler des niederdeutschen kleinbürgerlichen Lebens, gezeichnet hat, ist der »leiwe, olle Entspekter Bräsig« uns am meisten an das Herz gewachsen. Die Schaffung dieser Prachtgestalt ist eine litterarische Großthat allerersten Ranges. Die Figur findet in ihrer Ursprünglichkeit,[196] in ihrer Lebensfrische, ihrem wundervollen Humor kein Pendant in der Litteratur aller Nationen.

Und wie hat August Junkermann, der Gast des Thalia-Theaters, ihn gespielt! Nein, nicht gespielt, denn alles eigentlich Schauspielerische, alles Gemachte trat in der Leistung des Künstlers so völlig hinter dem Eindrucke des vollen, echten Lebens zurück, wie er mit gleicher Frische zu den allerseltensten und weihevollsten Genüssen eines ständigen Theaterbesuchers gehört. August Junkermann ist ein Künstler von einer Natürlichkeit des Tons, des Mienenspiels, jeder Bewegung, welche Menschen von Fleisch und Blut schafft und keine Theaterpuppen, die den Zuschauer auch nicht einen Augenblick in die Illusion wiegen, ein Stück Leben vor sich zu haben. Den »Entspekter Bräsig« hat Junkermann mit einer solchen Einheitlichkeit, einer so echten aus dem eingehendsten Studium solcher rein plattdeutschen Charaktere strömenden Lebenswahrheit, einem so keuschen Verzicht auf alle Mätzchen des Bühnenroutiniers wiedergegeben, mit einer so realistischen Ausarbeitung jedes Details und doch den ganzen Mann als ein volles, abgeflossenes Charakterbild erscheinen lassend, wie es in gleicher künstlerischer Vollendung New-York in den letzten Jahren bei keinem der bedeutenden, deutschen Schauspieler, die den Weg zu uns gefunden haben, vereinigt gesehen hat. Der vorjährige Bräsig des Herrn Emil Thomas war eine gute schauspielerische Leistung, der diesjährige des Herrn August Junkermann ist mehr als das, er ist das Meisterwerk einer dem Reuterschen Charakter kongenialen künstlerischen Individualität. August Junkermann hat mit dieser einen Rolle gezeigt, daß er das ist, als was ihn sein Ruf ankündigte: ein Seelenmaler allerersten Ranges, der den Zuschauer das Theater vergessen läßt, in dem er ihm echte, leibhaftige Menschen vorführt. Sein Bräsig ist eine der erquicklichsten, wohlthuendsten Bekanntschaften, die ein mit allen Raffinements der Unnatur, der Schminke, des üblichen Bühnenpathos übersättigtes Publikum machen kann.

Das New-Yorker Publikum fühlte es mit dem ersten Augenblicke, daß das, was sich da vor seinen Augen auf der Bühne bewegte, doch etwas anderes als die althergebrachte, bei diesem etwas geschickter, bei jenem etwas ungeschickter verdeckter Schablone sei und anerkannte diesen seltenen Genuß durch stürmischen, spontanen Beifall. August Junkermann hatte bereits nach der ersten Scene auf[197] der ganzen Linie gesiegt und wird an jedem weiteren Abende seines Gastspiels durch seine bei ihm zur vollendetsten Kunst gewordene Naturgabe siegen.


The World, 16. Oktober 1887.


August Junkermann in »Stromtid«.


Herr August Junkermann, the famous character actor, made his first American appearance last night at the Thalia in the character of Inspector Braesig. He received an enthusiastic welcome, and though to at least one-half of his German audience the dialecte he spoke was not understood, and his best witticisms and sayings went for nothing, he yet made a magnificient succes. He moved those of the audience who understood him to laughter and to tears. Inspector Braesig is to all intents and purposes the one character of the play, and Junkermanns succeeds like Jefferson as Rip Van Winkle in holding his audience throughout. Fritz Reuter's stories–from one of which »Stromtid«, the play, is taken–do not lend themselves to dramatic art. But Inspector Braesig is styled simply a »life picture.« As such it is truthful, and in it Herr Junkermann proved himself a character actor of the very first rank–a German Joe Jefferson.


Ueber mein weiteres Auftreten im Thalia-Theater zu New-York schrieb die New-Yorker Staatszeitung vom 23. Oktober:


Die immer wachsenden Erfolge, die August Junkermann am Thalia-Theater erringt, sind des Publikums und des Künstlers wegen erfreulich. Die Schauspielkunst des gefeierten Gastes ist, wie die Schauspielkunst sein soll, wirklich eine Vereinigung aller schönen Künste. Junker mann malt die prächtigsten Figuren, die der Pinsel des besten Genremalers nicht realistischer zeichnen könnte. Als Bildhauer giebt er diesen Figuren Körper, als Tonkünstler Sprache, er ist alles in Einem und eines in Allem. Seine beste Gestalt, nicht sympathischer aber interessanter als der Bräsig, scheint uns der Müller Voß ut Gielow in dem Zeitbild »Ut de Franzosentid«. Es ist eigentlich ein Kunststück, uns diesen Müller schon im Anfang, als er beim Amtshauptmann erscheint, um »Pankerott tau speelen«, so bekannt zu machen, daß wir den gediegenen Kern gleich vermuten, der in dieser deutschen Natur steckt. Welch gründliches Studium[198] muß da vorausgegangen sein, um so zu ermessen, wie die Empfindungen in der Physiognomie und im Körper, in den Augen, in der Stellung, in allen Nerven und Muskeln gemalt wird. In dem verhältnismäßig kurzen Zwiegespräch mit dem Amtshauptmann, in dem der Müller vom »Pankerottspeelen« abgebracht wird, lernen wir diesen besser kennen, als wenn wir einen ganzen Romanband über ihn gelesen hätten. Die Scene mit dem Chasseur, der vom Müller auf höheren Befehl in Grund und Boden getrunken wird, ist eine jener reizenden, humoristischen Detailmalereien, in denen Junkermann excelliert – ein Grützner ins Leben übersetzt. Schwerbeladen wankt der Müller in den zweiten Akt, nachdem er den Franzosen und dessen Goldschatz auf dem Wagen heimgebracht hat. Dieser taumelnde Gang und die naturgetreuen Geberden, die deutlich den Rausch schildern, ohne deswegen unschön zu sein, wie es der Originalmüller in seinem Rausch gewiß war, beweisen, daß Junkermann wohl weiß, wo die Natur aufhören und die Kunst anfangen darf. Ebenso ist der Zorn beim Erscheinen des jungen Voß, der den erbitterten Prozeß gegen ihn führt und durch seine Neigung zu der Tochter des Müllers besiegt wird, wunderschön wiedergegeben. Den Müller Voß halten zwei Dinge ab, auf seinen jungen Gegner zu springen und ihn zu erwürgen: erstens der kleine Weindusel, der ihn umfangen hält, und zweitens die Liebe zu seinem Töchterchen, zu »Fiken«, die in dem rauhen mecklenburgschen Bauer das stärkste Gefühl ist. Das erkennt man in der unenergischen Weise, mit der der Müller vorstürzt, um dann in den Anblick Fikens versunken stehen zu bleiben. Die Kinderliebe ist überhaupt der rührendste Zug in dem Wesen des Müllers. Durch sie wird er bewogen, den Schatz des Chasseurs, den er behalten und zum Schuldenzahlen verwenden will, wieder auszuliefern. Die Gründe, die er anfänglich dafür anführt, den Kram zu behalten, sind für das bäuerliche Rechtlichkeitsgefühl in hohem Grade charakteristisch: »Verflucht is de Schilling oder dat Kurn Weiten oder Roggen, wat ick in meinem Leben veruntrüht hew, ick bin ümmer ihrlich west – un darüm beholl ick't un bethal mien Schulden, damit ick 'n ihrlichen Kirl bliewen dauh bet an mien selig End.« Die Logik, an und für sich schon komisch, wirkt durch die drastische Illustrierung der Gesten erst recht heiter. Der anheimelnde Humor der Reuter'schen Gestalten kann nicht behäbiger und natürlicher zum Ausdruck gebracht werden, als durch[199] Junkermann. Wie die ruhigsten und trockensten Anekdotenerzähler die besten sind, so ist Junkermann einer der besten Komiker, weil er sich aller unnötigen Mätzchen und Possenkünste enthält und dem Humor des Dichters vor seinem eigenen den Vorrang giebt. Nur wer so verständnisvoll die Intentionen des Dichters erfaßt, kann die etwas unvermittelten Uebergänge in der Stimmung des Müllers so veranschaulichen, daß sie uns natürlich erscheinen. Der Müller, der sich eben noch die Freuden, die er durch den unrechtlich erworbenen Schatz genießen könnte, ausmalt, gerät durch das Zureden seiner Tochter in Wut – immer die letzte Zuflucht des besiegten Unverstandes – und holt zum Schlage gegen das Mädchen aus. Die Mutter fährt dazwischen und die Hand, die züchtigen wollte, fällt herab. Alle folgenden Bewegungen verraten ein jahrelanges psychologisches Studium. Der Müller ist nicht gleich gerührt, er fährt erst mit der flachen Hand über das liebliche Antlitz der Tochter, als wollte er sagen: »Fleisch von meinem Fleische, ich hab' das Recht, dich zu strafen.« Das ist der Mecklenburger. Dann erst wendet er sich ab und in dem wettergebräunten Antlitz kämpft eine unsägliche Rührung, das ist der Mensch. Und als Mutter und Tochter den Vater wecken, indem sie das Andenken an die verstorbenen Söhne heraufbeschwören, da wird der harte Müller so weich wie ein Kind. Wie er den Blick mit echter Sentimentalität zum Himmel hebt und sagt: »Ja, ick will allens rechtschaffen wedder good maken. Ja! und Ji Jungens dar baben in 'n hogen Hewen, Ji Schwerenöters, ja kiekt man runner upp jugen ollen Vatter, Ji söllt doch seggen – de oll Möller Voß is doch 'n ihrlichen Kirl blewen,« da fühlt man es an die Saiten seiner eigenen Seele greifen. Der Müller läßt anspannen und führt den Schatz nach dem Rathaus, wo die Franzosen hausen. Sein Knecht Friedrich, der von Fiken verschmäht wird, beschuldigt ihn dort, den Chasseur ermordet und die Leiche verborgen zu haben. Vor diesem französischen Kriegsgericht, das aus Renegaten besteht, taut auch in dem alten Müller sein Nationalgefühl wieder auf. Junkermann trägt das zähe, deutsche Wesen, das erst durch die Opposition zum Farbenbekennen gereizt wird, prächtig zur Schau. Die untheatralische, aus dem Innern quellende Ueberzeugung, mit der er seiner nationalen Gesinnung Ausdruck giebt, wirkt mächtiger, als es die schönste deklamatorische Leistung könnte. Ein Sturm der Begeisterung im Publikum folgt[200] immer den Worten: »Do hebben Sei Recht, Herr französcher Oberst, äwer disse dütsche Freiheitsidee, de ward uns Dütschen angeburen, de hür'n wi all im Liede, wat Mutting uns an de Wiege singt, se speelt mit uns de Kinnerspeele un ward mit uns grot. Hebben Sei uns ook Allens nohmen, un sünd wie utgeplünnert, so arm un elend as ick för Ju stah, disse Idee, de hebben Sei uns nich nahmen un de könnens uns ook nich nehmen – un wenn man uns martert un von Dör to Dör jagt, von Land tau Land, sei wannert furt mit uns furt un ümmerfurt, un disse Idee des Dütschen sien Leben, sine ganz Leiw, sien däglich Gebet is sien Vaterland!« Ganz zum Schlusse des Stückes, als der Müller gedrängt wird, seinem Vetter Heinrich, der durch das Auffinden des Chasseurs die Unschuld des Müllers an den Tag bringt, die Hand seiner Tochter zu geben, liefert der gefeierte Reuterdarsteller noch durch die Darstellung der widerstreitenden Hartnäckigkeit und Nachgiebigkeit ein kleines Kabinetsstück.

Thalia-Theater. Die gestern Abend im Thalia-Theater zur Aufführung gebrachte Novität »Dörchläuchting« nach der gleichnamigen Erzählung von Fritz Reuter (Olle Kamellen VI) wird auf dem Theaterzettel sehr richtig als Kulturbild bezeichnet. Noch richtiger wäre allerdings Kulturbilder, denn es ist thatsächlich eine ganze Reihe von scenischen Gemälden, die da mit Mühe und Not, wenn auch nicht ohne Geschick, zu einem dramatischen Ganzen zusammengefaßt sind. Damit ist aber auch der ganze Tadel über das Bühnenwerk gesagt. Den Mittelpunkt des Stückes bildet der Herzog Adolf Friedrich IV, den August Junkermann gestern Abend prächtig charakterisierte. Er brachte den sonderbaren Hofdünkel, der den im Grunde wackeren Landesherrn beherrscht, und den Ausbruch der rein menschlichen Gefühle, die in der Brust des alten Fürsten eingesargt schlummern, vorzüglich zur Darstellung. Der Höhepunkt der Leistung war die große Scene im dritten Akt. Der alte Herzog erkennt da in der blutjungen Stining, die ihn nach einem Unfalle pflegt, seine natürliche Tochter, deren Mutter die einzige Liebe seines Lebens war. Eine Kabale, die damals gegen ihn eingefädelt wurde und ihn an die Untreue seiner Geliebten glauben ließ, hat ihn zeitlebens zum Weiberfeind und Misanthrop gemacht. Der Schmerz um das verlorene Liebesglück und das Erwachen eines neuen Gefühles, der Vaterliebe, waren ergreifend und vor allem mit künstlerischer Mäßigung[201] gezeichnet. Daß die komischen Seiten des Landesherrn auf die Lachmuskeln der Zuhörer ihre Wirkung nicht verfehlten, ist selbstverständlich. »Dorchläuchting«, das mit besserer Sorgfalt, als man es seit langem gewohnt ist, insceniert war, wird allen Theaterfreunden ein paar genußreiche Standen gewähren.

17. November. Thalia-Theater. August Junkermann hat sich gestern im Thalia-Theater als der Vater in »Hasemanns Töchter« vorgestellt und damit seinen hiesigen Erfolgen einen neuen Triumph beigefügt. Der Künstler, den man bei jeder neuen Partie neu schätzen und bewundern lernt, hob seine Rolle von dem Niveau der Posse auf das der feineren Komödie, ohne deswegen an eminent komischer Wirkung einzubüßen. Papa Hasemann gehört bereits zu den typischen, deutschen Lustspielfiguren. Jedermann kennt seine einzige Passion, das platonische Reisen und das unglaubliche Pech des braven Mannes, der sein Kursbuch auswendig kennt, bereits vier Stunden vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof ist und doch den Zug versäumt, weil er sich in einen Güterwagen setzt und einschläft. Aber Junkermann verzichtet auf die bühnenberechtigte Komik des Dichters, um seinen eigenen, warmblütigen Humor zur Geltung zu bringen, und wirkt weniger durch das Stück, als durch sich selbst. Man hat vielleicht schon ebensoviel gelacht über die Reisewut Hasemanns, man war aber gewiß nie sympathischer gestimmt für den komischen Kauz, der nebenbei ein so kreuzbraver Vater und Gatte ist. In den ersteren Scenen kam man aus dem Lachen ins Weinen, gerade wie der Schauspieler wollte. Das plötzliche Erwachen des väterlichen Gefühles in dem lebenslustigen alten Mann während der ehelichen Zwistigkeiten der Tochter war an sich eine schauspielerische Leistung, die für einen Abend genügte. Die Scene mit der Mutter, in der Hasemann seinen Entschluß kund giebt, nun die Zügel des Haushalts allein in die Hand zu nehmen und die Unterredung mit dem erzürnten Schwiegersohn, den er umsonst zu versöhnen suchte, waren unvergleichliche, sein ausgearbeitete Detailmalereien. Die ganze Rolle war so wahr und natürlich, so künstlerisch abgerundet wiedergegeben, daß die Behauptung, Junkermann sei nur in seinen plattdeutschen Partien ein großer Schauspieler, ruhig in das Reich der Fabel gewiesen werden kann. Er ist einer der natürlichsten und sympathischsten Volksschauspieler, den die deutsche Bühne besitzt.

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 192-202.
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