Zweites Kapitel

Haltung.

[19] Nach seiner Haltung kann man einen Menschen fast immer beurteilen.

In der Haltung kann man viel guten Ton an den Tag legen, während im Gegenteil die Haltung eines Menschen auch auf Unerzogenheit und Mangel an Takt schließen lassen kann. Junge Leute sollen an öffentlichen Plätzen nicht keck und dreist mit auffallenden Bewegungen einherschreiten; ebensowenig sollen sie nachlässig und linkisch nach vornüber gebeugt in langsamem Tempo einherschlendern.

Das Schlenkern mit den Armen ist sehr unschön. Eine gerade, einfache Haltung ist die beste.

Die Haltung soll auch nicht drahtpuppenartig geziert sein, dann wirkt sie abstoßend. Zwanglos, aber mit Anstand soll der Mensch einherschreiten.

Die anmutige, graziöse Haltung einer jungen Dame ist einer ihrer wirkungsvollsten Reize und fast entscheidender für den Erfolg ihrer äußeren Erscheinung als ein schönes Gesicht. Das schönste[19] Gesicht kann durch eine schlechte Körperhaltung beeinträchtigt werden.

Eine junge Dame soll keinen Sofaplatz einnehmen, wenn eine ältere im Zimmer ist.

Junge Leute sollen möglichst in gerader Haltung sitzen. Weder ein nachlässiges Zurücklehnen noch ein träges Übereinanderfallen ist guter Ton. Beim Gähnen, beim Husten soll man sich die Hand vorhalten.

Selbst wenn man sich in Gesellschaft langweilt, suche man um jeden Preis das Gähnen zu unterdrücken. Das Gähnen eines Gastes ist eine Beleidigung für die Gastgeber, desgleichen für denjenigen, der sich grade mit der betreffenden Person unterhält.

Lebhafte Bewegungen mit den Händen, während man spricht, sind sehr unschön.

Es ist durchaus gegen den guten Ton, alles, was man in einem Salon sieht, zu berühren.

Man soll sich vor der Angewohnheit hüten, die Hände in fortwährender krampfhafter Bewegung zu halten oder mit irgendeinem Gegenstand mechanisch zu spielen. Das ist durchaus gegen den guten Ton.

Man soll sowohl bei Knaben wie bei Mädchen, besonders in den Entwicklungs-, in den Reisejahren, auf eine grade, aufrechte Körperhaltung sehen. Grade in den Übergangsjahren wird der[20] jugendliche Körper durch überschnelles Wachstum leicht müde und lässig und dazu geneigt, sich gehen zu lassen.

Diese Neigung wird oft die Ursache einer schlechten, gedrückten, ungesunden Haltung. Hochgezogene Schultern, ein runder Rücken, schiefe, ungleiche Hüften und Schultern, eingedrückter Brustkasten, all diese teils recht unschönen, teils recht ungesunden körperlichen Mißstände können sich in diesem Alter entwickeln, wenn einer schlechten Haltung nicht gleich in ihren ersten Anfängen, im Entstehen, energisch entgegengearbeitet wird. Von klein auf soll man der Haltung der Kinder eine ganz besondere Aufmerksamkeit schenken und zur Vermeidung schlechter Körperhaltung, besonders beim Arbeiten, darauf achten, daß die Kinder in geeigneter Weise an zweckdienlichen Schreibpulten, die möglichst schräg ablaufen müssen, derartig sitzen, daß sie sich notwendig gerade halten müssen. Man achte auch darauf, daß sich die Kinder beim Arbeiten nicht zu sehr auf die Arbeit herabbeugen. Sollte wirklich angeborene Kurzsichtigkeit sie dazu veranlassen, so lasse man solche Kinder beim Arbeiten, Klavierspielen usw. eine Brille tragen. Diese muß, nach vorausgegangener Prüfung des Auges, aber jedenfalls von dem betreffenden Augenarzt verordnet werden. Sie darf nicht willkürlich ausgesucht werden.[21]

Kindern mit gesunden Augen soll man es besonders streng verbieten, sich beim Arbeiten allzu tief auf Hefte und Bücher herabzubeugen, weil Kurzsichtigkeit gerade durch solchen Mißbrauch der Augen hervorgerufen werden kann.

Wenn auch diese letzteren Verhaltungsmaßregeln mit hinübergreifen in das Gebiet der Hygiene, so sind sie nichtsdestoweniger doch auch in diesem Werkchen über guten Ton am Platz, denn eine gute Haltung gehört, wie gesagt, auch mit zum guten Ton eines Menschen und muß infolgedessen anerzogen werden.

Einem Vorgesetzten soll man in besonders guter Haltung gegenübertreten.

Eine Verbeugung soll man nicht zu tief, nicht zu nachlässig machen.

Junge Damen sollen sich nicht setzen, wenn ältere stehen.

Der Herr hat sich nicht eher zu Tisch zu setzen, als seine Dame.

Ein Herr erlaube nie, daß eine Dame in seiner Gegenwart einen Stuhl trägt. Er nehme ihn ihr ab.

Das Aufstützen der Ellenbogen, Auflegen der Arme ist höchst unpassend. Auch das Einstemmen der Arme in die Seiten ist unschön.

Es ist sehr unfein, wenn Herren die Hände in[22] die Rock- oder Hosentaschen stecken, indem sie sich mit jemand unterhalten.

Auch mit über den Rücken gekreuzten Armen einherzugehen, ist unschön. Die Füße setze man auswärts beim Gehen. Ein schlürfender Gang ist besonders häßlich.

Fest und sicher soll man auftreten.

Ein Herr, der eine Dame begleitet, soll seine Schritte möglichst ihrem Gangtempo anpassen.

Wenn ein Herr ein Besuchszimmer verläßt, in welchem er einer Dame oder einem Höhergestellten seine Aufwartung gemacht hatte, so muß er sich möglichst rückwärtsgehend zurückziehen.

Es ist unhöflich, auf eine Frage nur mit Kopfschütteln, Nicken oder Achselzucken zu antworten, in derselben Zeit hat man auch »ja« oder »nein« gesagt.

Beim Verlassen eines öffentlichen Sammelplatzes, wie Theater, Konzertsaal usw., ist es durchaus gegen den guten Ton, andere rücksichtslos beiseite zu drängen, um früher hinaus oder zur Garderobe zu gelangen. Vor allem hat ein Herr den Damen bei all solchen Gelegenheiten den Vortritt zu gewähren, auch an Garderobeplätzen höflich zurückzutreten, falls eine Dame hinter ihm sich vergeblich um ihre Sachen bemüht.

Eine junge Dame hat einem jungen Mann nie entgegenzugehen, wo sie ihn auch trifft.[23]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 19-24.
Lizenz:
Kategorien: