Siebentes Kapitel

Auf der Straße.

[44] Junge Damen haben auf der Straße, besonders wenn sie unbegleitet gehen, unauffällig und schnell ihren Weg zu verfolgen. Das Umdrehen auf der Straße ist taktlos, besonders wenn es zu dem Zwecke geschieht, die Kleidung eines Vorübergehenden genauer zu prüfen. Auch das längere Stehenbleiben auf der Straße, um jemand genau anzusehen, ist taktlos.

Zu mehreren nebeneinander eingehakt auf der Straße zu gehen ist unfein, besonders für Damen.

Es ist überhaupt gegen den guten Ton, in breiter Reihe auf der Straße nebeneinander zu gehen, da andere Fußgänger dadurch gehemmt werden.

Junge Mädchen haben älteren Damen auf der Straße Platz zu machen.

Herren haben Damen Platz zu machen.

Hat ein Herr eine Dame auf der Straße unversehens angestoßen, so hat er, den Hut lüftend,[44] sie um Entschuldigung zu bitten. Der Herr geht gewöhnlich links von der Dame. Im Auslande geht der Herr neben einer Dame stets auf der dem Straßendamm zugekehrten Seite, was wohl begründet ist.

Junge Mädchen gehen an der linken Seite älterer Damen respektiv an der Straßendamm-Seite.

Ist der Fußsteig schmal, so hat der Herr zurückzutreten.

Desgleichen haben junge Mädchen älteren Damen auf dem Fußsteig Platz zu machen.

Lautes Sprechen und Lachen auf der Straße ist gegen den guten Ton.

Besonders taktlos ist es, auf der Straße Namen laut zu nennen.

Schirm und Stock hat man so zu tragen, daß man keinen Vorübergehenden damit belästigt.

Wird eine junge Dame auf der Straße von einem Herrn belästigt, so hat sie ihn zu ignorieren, schlimmstenfalls einen Schutzmann oder eine andere Person um Schutz anzurufen.

Von einem Straßenauflaufe suche man sich fernzuhalten. Auch suche man einen solchen zu vermeiden.

Vor einem Schaufenster allzu lange zu verweilen, ist gegen den guten Ton, besonders von seiten junger Damen.[45]

Bemerkt eine vor einem Schaufenster stehende Dame, daß sie in auffallender Weise von einem Herrn fixiert wird, so hat sie sich sofort von dem Schaufenster zu entfernen.

Auf der Straße mit dem Kutscher eines Fuhrwerks zu unterhandeln, um welches sich bereits ein anderer bewirbt, ist gegen den guten Ton, selbst wenn Wagen zur betreffenden Zeit noch so begehrt sind.

Es ist gegen den guten Ton, zwei Nebeneinandergehende zum Zwecke des Durchganges zu trennen. Man hat in diesem Fall um die Betreffenden herumzugehen.

In einer Straße, die so eng ist, daß sie eigentlich nur einer Person Durchgangsraum bietet, sollen zwei nicht nebeneinander gehen, da ein dritter Passant in diesem Fall gewiß nicht bei zweien vorbeigehen kann und infolgedessen auf den Damm gedrängt wird.

Ein so langsames Gehen, daß folgende Fußgänger dadurch in der Fortsetzung ihres Weges gehemmt werden, ist nur dem Alter oder der Gebrechlichkeit gestattet. Es ist gegen den guten Ton.[46]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 44-47.
Lizenz:
Kategorien: