Vierundsiebenzigstes Kapitel

Erwachsene Kinder.

[229] So sehr sich Eltern auch oft den Zeitpunkt herbeiwünschen, ihre Kinder erwachsen zu sehen, um die Zeit der kleinlichen Sorgen und Mühe für geistiges und körperliches Wohl der Kinder überwunden zu haben, – so wenig gerechtfertigt ist dieser Wunsch nach der Richtung hin, denn der Umgang mit erwachsenen Kindern bietet oft mehr Schwierigkeiten, hat oft größere und tiefergehende Unruhen und Unbequemlichkeiten im Gefolge, als der mit kleinen Kindern. Kleinere Kinder erzieht man nach persönlicher Initiative, nach ihrer Individualität, man ist ihnen gegenüber sozusagen eine Macht, der sich zu fügen und zu unterwerfen man sie auf dem Wege der Erziehung zwingen muß, sei es nun durch Ermahnungen, sei es durch Strafen.

Bei erwachsenen Kindern ist es natürlich anders. Bei ihnen sollen Eltern eigentlich die Erziehung sozusagen für derart abgeschlossen[229] betrachten, daß sie gewisse Entscheidungen, ihr allgemeines Verhalten ihrer eigenen Einsicht, ihrer persönlichen Vernunft überlassen. Und diese Maßnahme ist nicht nur angemessen in Anbetracht der größeren Reise, die der junge Mensch, nachdem er die Kinderschuhe ausgezogen, erlangt haben muß, sondern auch im Interesse der Selbständigkeit, zu der die Kinder doch früher oder später gelangen müssen, geboten.

Hierbei nun mit richtigem Takt und einsichtsvollem Verständnis vorzugehen, erwachsenen Kindern nicht zu viel, nicht zu wenig Freiheit des Handelns und der Meinung zu gewähren, ist eine Aufgabe, die sorgsam durchdacht, verständig gelöst sein will. Das Verhalten erwachsener Kinder im Hause kann viel Sonne, viel Behagen und Gemütlichkeit darin verbreiten. Es kann eine reine Quelle der Freude für die Eltern, ein höchst ansprechendes harmonisches Bild für Fremde sein; es kann aber auch unter Umständen der Rubikon werden, an welchem der Hausfrieden zu scheitern Gefahr läuft, es kann einem bisher friedlichen, glücklichen Hauswesen einen unruhigen, ungemütlichen Anstrich verleihen und so gewissermaßen zeitweise sogar den guten Ton des Hauses stören.

Deshalb sollen Eltern gerade mit erwachsenen Kindern in sehr durchdachter Weise verkehren und[230] eher etwas übersehen, als zuviel rügen. Gerade heranwachsende junge Menschen, deren selbständige Ansichten noch im Entstehen begriffen sind, vor allen Dingen noch des Aufklärungsprozesses bedürfen, die im allgemeinen nur die Erfahrung, selten aber die Theorie bewirkt, halten gerade deshalb, weil sie durch eine praktische Erfahrung noch nicht vom Gegenteil ihrer oft höchst phantastischen und unhaltbaren Ansichten durchdrungen werden, mit desto eigensinnigerer Zähigkeit erster Jugendkraft daran fest und lassen sich schwer überzeugen. In diesem Fall aber lehrt nur die Erfahrung. Laßt daher ruhig eure erwachsenen Kinder Fragen, Angelegenheiten, bei denen nicht gerade ihr moralisches Seelenheil in Betracht kommt, selbständig entscheiden, streitet nicht allzu schroff mit ihnen, unterdrückt ihre Ansichten nicht durch gebietende Machtworte – sie könnten gerade hierdurch, verletzt in dem bei jedem normalbegabten Menschen zu einer bestimmten Zeit hervortretenden Selbständigkeitsdrang, im Eifer der Debatte die notwendige Pietät den Eltern gegenüber außer Augen setzen, was, wenn verschiedentlich sich wiederholend, dem Ton im Hause einen höchst unangenehmen Klang gibt, oder sie werden sich, scheinbar gehorsam nachgebend, zu sogenanten Duckmäusern und unselbständigen Menschen entwickeln.[231]

Wohl ist der Übergang aus naiver Kindlichkeit zu weiterer Weltanschauung, bis er sich zu ausgeprägten Charaktereigentümlichkeiten, zu festen Prinzipien und zielbewußten Ansichten abgeklärt hat, einem gewissen Gärungsprozeß, einer sogenannten Sturm- und Drangperiode unterworfen, sowohl beim weiblichen wie beim männlichen Geschlecht – bei ersterem in gemäßigterer, bei letzterem in aufschäumenderer Form sich äußernd.

Hier nun ist es Sache der Eltern, den richtigen Ton zu finden; bei solchen Übergängen sich nicht mehr als Vorgesetzte, sondern als gute, wohlmeinende Freunde ihrer Kinder zu zeigen. Sie sollen den Kindern, ohne daß diese sich dessen bewußt werden, ohne daß sie die bedrückende Empfindung haben, ihr erwachendes Selbstgefühl durch gebieterische Machtsprüche und Maßnahmen zurückdrängen zu müssen, freundliche, gütige Ratgeber, erfahrene und sie zur Vollkommenheit, zur Tüchtigkeit fördernde Stützen sein.

Wenn es Eltern verstehen, in dieser Weise mit ihren erwachsenen Kindern zu verkehren, vor allen Dingen, wenn sie selbst ihnen als Beispiel alles dessen vorleuchten, in ihrem Tun und Treiben, was sie gern bei ihren Kindern erzielen möchten an guten Eigenschaften und[232] persönlicher Tüchtigkeit, Sittlichkeit und Tugend, dann wird sicher der gute Ton im Hause nicht bloß gewahrt bleiben, sondern sich zu immer edlerer, beglückenderer Vollkommenheit gestalten und sich in diesem Sinne von Geschlecht zu Geschlecht übertragen.

In seiner anmutsvoller Art unterweise die Mutter den erwachsenen Sohn, der sich geneigt zeigt, den burschikosen, oftmals sogar rauhen, rücksichtslosen Ton der Außenwelt, die ungenierten Gewohnheiten und Ausdrücke des Sport- und Klublebens auf die bisher so friedliche, harmonische Häuslichkeit zu übertragen, auf das hin, was sich schickt, denn: »Willst genau du wissen, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an.«

Nachsichtsvoll und wohlwollend übersehe und dulde der Vater bei dem heranwachsenden Sohn kleine Jugendtorheiten, größere Freiheiten, selbständigere Gewohnheiten, Ansichten, die der Individualität des Sohnes entsprechend, mit den seinigen kollidieren. Er kann ihm dann bei anderen schwerwiegenden Veranlassungen desto vertrauensvoller aufgenommene Winke, Ratschläge, auch Maßnahmen angedeihen lassen, die den Versuchungen schädlichster Art ausgesetzten jungen Mann vor Exzessen bewahren, vor schädigenden Ausschreitungen behüten sollen.[233]

Auf gegenseitigem Vertrauen muß das Verhältnis zwischen Eltern und erwachsenen Kindern basieren. Es darf nichts Fremdes, Gewaltsames zwischen ihnen liegen, und dennoch soll bei der größten gegenseitigen Vertraulichkeit, bei der freundschaftlichsten Gemütlichkeit zwischen Eltern und erwachsenen Kindern der gute, pietätvolle Ton der Kinder gegen die Eltern niemals verletzt, verabsäumt werden. Der erwachsene Sohn befleißige sich der ausgezeichnetsten Höflichkeit gegen die Mutter, er vergesse es nie, ihr den Stuhl zum Tisch zu holen, ihr seinen Stuhl anzubieten, wenn sie steht, ihr bei gemeinschaftlichen Wegen Pakete, Tuch, Jackett zu tragen, ihr auf der Straße den Arm zu bieten, ihr des Morgens freundlich guten Morgen zu wünschen, ihr im Hause beizuspringen, wenn es gilt, Bilder, Uhren u.dgl.m. aufzuhängen, ihr hin und wieder eine Blume zu bringen oder sonst eine kleine anmutige Aufmerksamkeit zu erweisen. Er soll bei Tisch nicht lärmen, nichts stürmisch fordern von der Mutter, wenn sie leidend, sein lebhaftes Naturell rücksichtsvoll unterdrücken, keine zweideutigen Anspielungen, burschikose Ausdrücke sich ihr gegenüber erlauben, auf ihren diesbezüglichen Wunsch gehorsam die Zigarre aus dem Wohnzimmer verbannen. Dem Vater soll er mit[234] respektsvoller Höflichkeit begegnen, ihm gegenüber nicht etwa eine Überlegenheit an Kenntnissen geltend machen, ihm stets unter allen Umständen den obersten Rang im Hause einräumen, seine Ansichten in gemäßigter, respektvoller Form vertreten und stets einen ehrerbietigen Ton gegen den Vater anschlagen.

Die heranwachsende Tochter soll der Mutter eine Stütze – die Mutter soll ihr eine Freundin sein, mit der sie alles, was ihr junges Herz bewegt, besprechen kann. Die herangewachsene Tochter darf für die Welt erzogen sein – das ist heutzutage unter allen Verhältnissen unbedingt nötig – aber sie darf nicht nur für die Welt erzogen sein – sie muß auch eine Quelle des Segens und der Freude dem Hause und den Eltern werden.

Sie soll in der Welt durch natürliche Anmut, durch persönliche, ungekünstelte Liebenswürdigkeit, Bescheidenheit und angenehme Manieren für sich einnehmen. Ein junges Mädchen hat die Verpflichtung, sich zu bemühen, Augen und Herzen anderer harmonisch zu berühren. Sie soll aber auch im Hause eine Atmosphäre von Glückseligkeit um sich verbreiten. Sie soll stets freundlich sein, sie soll keine Nachlässigkeit in ihrer äußeren Erscheinung sich zuschulden kommen lassen, soll sich keine Mühe für das[235] Wohl jüngerer Geschwister verdrießen lassen, zu allen häuslichen Vorkommnissen von der Mutter in liebevoller, freundschaftlicher Art angeleitet und zugezogen werden, so daß sie gebotenen Falles auch mal für die Mutter eine längere Zeit eintreten kann. So freundlich soll die Mutter mit ihr verkehren, sie leiten, kleine Unebenheiten ihres Charakters in so gütiger, vertrauenerweckender Weise abzuschleifen suchen, daß sie nicht der Notwendigkeit sich fügend, sondern aus wahrer Überzeugung, aus freudiger Erkenntnis der mütterlichen Einsicht und achtunggebietenden Tüchtigkeit derselben alles zuliebe tut – ihr nacheifernd, in guten Manieren und edlen Formen zum guten Ton des Hauses wesentlich mit beiträgt.

Auch der Vater soll der jungen Tochter gegenüber nicht nur den trockenen Geschäftsmann, den prinzipienstrengen Familienvorstand, den pedantischen Bureaumenschen herauskehren. Er soll mit seinen Kindern den süßen Zauberhauch verflossener Tage, unvergeßlicher holder Jugendstunden erinnerungs- und pietätvoll noch einmal über sich ergehen lassen, die berechtigten Wünsche der jungen Tochter nicht durchaus abweisen, über ihre fröhlichen, jugendfrischen, von der Illusion noch nicht zersetzten Lebensanschauungen nicht spötteln und verdrießlich begegnen,[236] und gern imstande sein, um ihretwillen einem unschuldigen Vergnügen der Jugend ein paar Stunden der Ruhe und der Bequemlichkeit zu opfern.

Hingegen soll die erwachsene Tochter für den Vater der Sonnenstrahl des Hauses sein, ihm kleine häusliche Lieblingswünsche von der Stirn ablesen, mit emsiger Geschäftigkeit sorgen für seine Bequemlichkeit, wenn er müde und abgespannt heimkehrt von des Tages Last und Mühen, die kleinen Geschwister dann besonders ruhig halten, ihm Hut, Stock und Überzieher abnehmen und ihm dafür die Hausschuhe, die im Winter gewärmt sein müssen, und den Hausrock eintauschen. Sie soll sein Pfeifchen vorbereiten, wenn er gewohnt ist, ein solches zu rauchen, sie soll es sorgfältig säubern und vor dem Zerbrechen behüten, Aschenbecher und Streichhölzer zur Zeit zurechtstellen und persönlich alles in der Art ordnen, wie es dem Vater am bequemsten ist. Sie soll ihn freundlich mit einem selbstzubereiteten Lieblingsgericht überraschen, soll, wenn er Gesellschaftstoilette zu machen sich veranlaßt sieht, alles ihm so zurecht legen, daß er nur zuzugreifen hat. Sie soll durch fröhliches, harmloses Plaudern und Lachen ihm die Sorgen von der Stirn scheuchen und nie eine unzufriedene Miene den Ihren zeigen, auch wenn sie einmal[237] von häuslichen Anforderungen so überlastet ist, daß sie kaum zu Atem kommt, oder wenn sie ihrem Dafürhalten nach ein ihrer Jugend wenig angemessenes, zu einsames, abwechslungsarmes Dasein führt.[238]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 229-239.
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