Einleitung

Etwas über guten Ton im allgemeinen.

Ein guter Ton – im Reich der Harmonie

Ist er vor allen Dingen unentbehrlich –

Drum soll harmonisch, Mensch, dein Tun berühren,

Dann laß vom guten Ton es dir diktieren.


Wir leben sozusagen im Zeitalter des guten Tons. Das Barbarentum ist abgeschüttelt. Jeder Mensch strebt danach, sich zu den Gebildeten zählen zu dürfen, sich in allen Kreisen formvollendet bewegen zu können. –

Sich durch seine Sitten und edlen Anstand auszuzeichnen, ist heutzutage durchaus nicht mehr ein Privilegium des Adels und der Höchstgestellten – nein, von jedem einigermaßen Gebildeten wird in unserer Zeit guter Ton, seine Umgangsformen gefordert.

Der gute Ton, anständige Umgangsformen soll und muß heutzutage in die breitesten Schichten eindringen als äußeres Merkzeichen eines großen kulturellen Fortschritts.[8]

Wer diesem Zuge nach äußerer Vollendung nicht folgt, wer in bezug auf guten Ton und angenehme Formen zurückbleibt hinter der Strömung, der wird sich nicht allein sein Fortkommen erschweren, denn zuvörderst ist die gute äußere Umgangsform der erste Empfehlungsbrief eines Menschen, er wird sich auch persönlich nicht heimisch fühlen in Kreisen, denen er in dieser Hinsicht nachsteht.

Was aber ist der gute Ton? Wer bestimmt ihn? Was sind gute Formen? Wer hat sie zu Gesetzen gemacht?

Guter Ton und äußere liebenswürdige Formen sind keinesfalls willkürlich erfundene Maßregeln.

Sie sind in ihrer Wirkung stets zurückzuführen auf die Ursache irgendeiner Situation, in der ein besonders feinfühlender, taktvoller Mensch sie geschaffen hat.

Sie sind ihm entweder vom Herzen oder vom ästhetischen Gefühl diktiert worden und wurden auf diese Weise, durch Nachahmung verbreitet, als Gesetze des guten Tons eingeführt.

Natürlich dehnen sich von Dezennium zu Dezennium mit den Fortschritten unserer Zeitperiode auf den verschiedensten Gebieten die Begriffe des guten Tons, die Ansprüche an seine Umgangsformen immer mehr und mehr aus, so daß man die hierauf bezüglichen Gesetze eigentlich niemals für[9] abgeschlossen betrachten darf, indem neue fremde Situationen auch immer wieder neue Maßnahmen ergeben; hieraus folgert die Notwendigkeit, von Zeit zu Zeit mal wieder neuere Gesetze des guten Tones zur Veröffentlichung zu bringen, sowie ältere, bereits bestehende, dem Zeitgeist angemessen zu erweitern – sozusagen zu modernisieren.

Diesen Zweck, die neuesten Gesetze des guten Tones den weitesten Kreisen zugänglich zu machen, ältere in entsprechender Weise zu erweitern, hat nachstehendes Büchlein. Es wird ein jeder – welcher Gesellschaftsklasse er auch angehören mag, etwas ihm Neues, Beherzigenswertes darin finden. Vor allem sei dies Büchlein jenen empfohlen, die, in untergeordneten Kreisen aufgewachsen, vermöge eines rastlosen Strebens und bahnbrechender Begabung einen Platz in besserer Sphäre einzunehmen berechtigt sind.

Ein jeder bedarf, wenn er sich auf dem ihm nach Begabung zukömmlichen Platz behaupten will, immer noch des Rahmens äußerer Formvollendung, des sogenannten guten Tons im Umgange mit Menschen.

»Ein ungeschliffener Diamant!« Wie oft hört man achselzuckend einen Menschen so nennen und verächtlich bekritteln, und wie schmerzlich und peinlich muß es für ihn sein, den seine innerste Individualität zur Höhe drängt, sich durch kleine Unebenheiten[10] in seinem Verhalten, durch schlechte äußere Gewohnheiten und Mangel an Anstand in seinem geistigen Fluge gehemmt zu sehen, sich durch Verstöße gegen den guten Ton vielleicht gar in Kreise festgebannt zu sehen, über die hinaus er doch so gerne sich erheben möchte.

Und doch, wie leicht ist es, solche Mängel schlechter Erziehung abzustreifen – die Gesetze des guten Tons sich einzuprägen, wenn man sich das mehrmalige Durchlesen eines Werkchens wie das nachstehende der Mühe verlohnen läßt.

Niemand halte sich für zu alt, niemand zu weit abgeirrt vom Wege des Schicklichen, um sich nicht die darin enthaltenen guten Umgangsformen, den sogenannten guten Ton, noch einprägen zu können.

Die in dem Werk enthaltenen Ratschläge und gesellschaftlichen Fingerzeige sind leicht und faßlich dargestellt. –

Natürlich ist ja der sicherste und einfachste Weg, einem Menschen den sogenannten guten Ton und seine Umgangsformen beizubringen, der Weg der Erziehung und Gewöhnung von Jugend auf. Am eindruckfähigsten ist die Jugend, und von diesem Gesichtspunkte aus dürfte nachstehendes Büchlein auch besonders Eltern und allen denen, die zur Erziehung der Jugend berufen sind, als nützlichster Ratgeber empfohlen sein.[11]

Im zartesten Lebensalter bereits, sowie der Verstand zutage tritt, soll ein Kind Schritt für Schritt, immer Hand in Hand gehend mit seiner Entwicklung, auf das, was sich schickt, hingewiesen werden.

Wir brauchen deshalb keineswegs unsere Kinder zu Zierpflanzen heranzubilden, die jeden ihrer Schritte ängstlich beobachtend, dadurch in freier Entwicklung gehemmt werden.

Im Gegenteil: Gerade durch gute Gewohnheiten veredelt und vom echten Sittlichkeitsgefühl von Jugend auf geleitet, werden sich unsere Kinder desto ungezwungener und natürlicher zu liebenswürdigen, taktvollen Menschen heranbilden, desto zwangloser werden sie sich später nach den verschiedensten Richtungen hin zu bewegen wissen.

Das Kapital aber, das wir unsern Kindern, unserer Jugend mit persönlicher Liebenswürdigkeit, mit seinem Anstand und Herzensbildung mitgeben, ist mehr wert als materielle Besitztümer. Letztere können verloren gehen – ersteres kann ihnen in allen Lebenslagen nützen.

So übergebe ich denn dieses Büchlein der Öffentlichkeit mit dem Wunsche, daß es vielen ein Ratgeber und Wegweiser sein möge auf den verschiedensten Lebenswegen, daß der darin enthaltene gute Ton weit hinausklingen möge in alle Kreise.[12]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 8-13.
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