[103] Auf liebenswürdige Weise etwas Geschenktes annehmen ist gar nicht so leicht, wie es scheint und doch haben wir uns dieser Kunst besonders zu befleißigen.
Es kann nichts ungezogeneres geben, als wenn wir das, was uns freundlich geboten wird, schnöde ablehnen, nichtachtend bei Seite legen, oder vielleicht ganz unbeachtet lassen, keines Dankes werth. Wir sollen nicht allein nicht verlegen sein um ein Dankeswort, sondern wir sind auch verpflichtet, unserer Freude Ausdruck zu geben. Dieses darf selbst dann nicht unterbleiben, wenn das Geschenk nicht unsern Wünschen, unsern Erwartungen entspricht, oder ein unbedeutendes, werthloses ist. Zu heucheln brauchen wir dabei nicht, denn wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Schenkende uns eine Freude hat bereiten wollen, wird uns diese freundliche Absicht gewiß schon helfen irgend etwas Gutes an der Gabe herauszufinden. Wer aber gar etwas ihm Geschenktes verspottet und den Geber damit tief verletzt, sollte sich vor sich selber schämen. Allerdings können wir dabei aber auch wiederum erwarten, daß man unserer Freundlichkeit nicht zu viel zumuthet und Geschenke, die uns Unberufene aufdrängen wollen oder mit denen sie uns ein Aequivalent an Geld abfordern, Dinge, von denen der Schenkende weiß, daß wir sie durchaus nicht gebrauchen[103] können, darf man energisch zurückweisen ohne irgend wie gegen die gute Sitte zu verstoßen.
Aber ebenso wie jener Arzt die Gabe des alten Mütterchens gütig aufnahm, die ihm als einziges Honorar für seine langen Bemühungen ein Paar selbstgestrickte Socken brachte, die so groß gerathen waren, daß er jeden einzelnen als Fußsack verwenden konnte, ebenso werden auch wir ein dankbares Lächeln finden für das arme Kind, welches durch den Vergißmeinnichtkranz oder ein Körbchen Tannenzapfen, um Feuer anzuzünden, uns erfreuen will, nachdem wir ihm im Winter ein warmes Kleid geschenkt. Sehen wir, daß Jemand uns seine Dankbarkeit für ihm geleistete Dienste gern beweisen will, dürfen wir ihm die Gelegenheit dazu nicht nehmen, es sei denn, daß eine seine Kräfte übersteigende Gabe für uns in Aussicht steht.
Nehmen ist viel schwerer als geben. Das findet auch Anwendung auf die vielerlei Gefälligkeiten, die großen und kleinen Dienste, die unsere Nebenmenschen uns erweisen. Dafür freundlich zu danken müssen wir nie vergessen oder gar aus falscher Scham das Dankeswort nicht sprechen. Dazu sind wir auch dann verpflichtet, wenn dasjenige, was der Andere für uns erstrebt nicht gelungen ist, oder die Erkundigungen, die Wege, die Fürsprache, die er für uns übernommen nicht nach Wunsch ausgefallen ist.
Es giebt Menschen, die ihren Aerger über einen mißlungenen Plan unter einer ablehnenden Gleichgültigkeit zu verstecken suchen auch demjenigen gegenüber, der sich ihrer angenommen hat. Solch ein Benehmen ist nicht zu rechtfertigen und es ist Gefahr, daß gute Freunde uns dadurch entfremdet werden.
Gefälligkeiten annehmen ist schwerer als sie erweisen, dennoch dürfen wir nicht stolz und ablehnend sein ohne uns selbst zu schaden. Im Leben ist es einmal so eingerichtet, daß Einer dem Andern helfen muß, aber man darf dabei nicht rechnen. »Auge um Auge, Zahn um Zahn« – heißt es dabei nicht.
Es gleicht sich doch mehr oder weniger alles aus und die Dienste, die ich einem Menschen erweise, der1[104]
1 Anmerkung der Redaktion: In allen recherchierbaren Exemplaren des Werkes fehlt die letzte Seite (S. 105). Aufgrund der besonderen Bedeutung des Werkes haben sich Verlag und Herausgeber der Ausgabe »Gutes Benehmen« aber entschieden, dem Nutzer den Text nicht vorzuenthalten.