Krank sein.

[84] Wie? Auch Schicklichkeitsregeln beim Kranksein? so höre ich den Leser unwillkürlich fragen. Gewiß zum eignen Wohl des Kranken und zu dem seiner Umgebung darf er nicht alles außer Acht lassen, was die gute Sitte fordert.

Es ist schon häufig darauf hingewiesen, wie Selbstbeherrschung, Besiegung des Egoismus die Grundlage bilden für alle Regeln des Wohlstandes.

Wem es gelingt, auch während er sich krank fühlt, vielleicht von Schmerzen heimgesucht da liegt, geduldig, liebenswürdig und freundlich zu bleiben, hat viel gewonnen und erleichtert seine Leiden, indem er Andern seine Pflege nicht zur Qual, sondern zu einer lieben Aufgabe macht, indem er fühlt, daß das was ihm geschieht aus Liebe und nicht nur aus kaltem Pflichtgefühl ihm zu Theil wird.

Wie rührend ist der Dankesblick eines Kranken, wie freuen wir uns, wenn ein gutes Wort unsere Anstrengungen lohnt, wie möchten wir immer mehr für ihn[84] thun, wie bemühen wir uns ihm Linderung zu verschaffen für seine Schmerzen.

Wie anders dagegen ein Kranker, der alles mürrisch von sich weißt oder mit kaltem Trotz, mit dumpfem Schweigen oder lauten Klagen und Schelten unsere Pflege annimmt, der es duldet, daß Tage und Nächte lang Jemand ohne Ruhe, ohne Schlaf um ihn ist, der nie daran denkt, daß sein Pfleger auch der Erholung, der frischen Luft, des Schlafes bedarf. Der ihn, der eben nach langem Wachen eingeschlafen, um einer geringfügigen Sache willen weckt, der, wenn sein Pfleger gegangen ihn zurückruft um etwas zu thun, das recht gut einen Aufschub duldet, der, wenn er nicht drei bis vier Menschen fortwährend um sich sieht, über Verlassensein klagt, der auch selbst wenn es ihm besser geht, uns dieses in eigensinniger Verstimmung verschweigt, der mit beständigem Nörgeln die Speisen von sich weist und uns für seine Appetitlosigkeit verantwortlich macht.

Wie unleidlich der Kranke, der nicht auf Reinlichkeit sieht, der es nicht zugiebt, daß man ihm reine Wäsche unterlegt, daß man von ihm ein tägliches feuchtes Abreiben des Gesichtes, der Hände verlangt (ich stelle meine Forderungen an das Waschen mit Absicht nicht höher, weil ich nur von dem rede, was auch einem Schwerkranken möglich ist). Der sich den Mund nicht ausspült, ehe er den Caffee oder Thee zu sich nimmt, den man ihm reicht, der mit seinen ungewaschenen Händen Speisen berührt, die wir essen sollen, oder uns zumuthet, aus demselben Glase, derselben Tasse mit ihm zu trinken.

Es giebt auch Kranke, die eine förmliche Speisekammer auf dem Tischchen an ihrem Bette errichten, von allen Gerichten kosten, darin herumrühren und, wie sie sich vorher sagen konnten, dann doch nicht davon essen mögen. Daß ein Kranker oft glaubt besonderen Appetit auf Dieses und Jenes zu haben ist ja nur natürlich, aber dann soll er erst mit wenigem den Versuch machen und nicht die ganze Portion auf den Teller nehmen und so für Andere ungenießbar machen.

So wenig wie möglich spreche der Kranke über sein Leiden, wenn er Besuch bekommt, denn es bringt ihm[85] keine Erleichterung und verscheucht oft Diejenigen, die sonst gern zu seiner Unterhaltung ein Stündchen bei ihm zugebracht hätten. Es würde ebenfalls aber Unrecht sein, auf theilnehmende und directe Fragen keine Auskunft zu geben.

Wunden oder ekelerregende Leiden sind nur dem Arzte und dem verbindenden Pfleger zu zeigen, unter keiner Bedingung soll man aber darauf bestehen, auch Dritte mit der Vorführung solch' trauriger Dinge zu belästigen.

Hat der Kranke Vertrauen zu seinem Arzt, so muß er auch den Anordnungen desselben pünktlich Folge leisten. Am meisten wird gesündigt im Punkte der vorgeschriebenen Diät und entsteht manchmal sogar ein Kampf zwischen dem gewissenhaften Pfleger und dem eigensinnigen Kranken, der darauf besteht, daß man ihm etwas giebt, was der Doctor verboten. Ein solches Benehmen kann man doch nicht anders als kindisch bezeichnen. Auch wer sich weigert eine bittere Medizin zu nehmen, sich nicht gurgeln will, oder nicht inhaliren, oder sich nicht einreiben, nicht baden will, wenn der Arzt solches angeordnet, oder alles doch nicht regelmäßig ausführt, verdient wie ein Kind behandelt zu werden.

Entweder ich nehme einen Arzt und handle nach seinen Vorschriften, oder ich nehme keinen.

Bisher habe ich nur bettlägerige Kranke im Auge gehabt und doch giebt es ein Heer von Leiden, die uns wohl nicht auf's Krankenlager bringen, uns aber doch recht quälen können.

Zahn-, Kopfschmerzen, Rheumatismus und wie die traurigen Dinge alle heißen, die uns überfallen können.

Da trage man möglichst still seine Schmerzen und erfülle nicht mit seinem Wehgeschrei das Haus oder gehe gar »wie ein brüllender Löwe einher, der sieht wen er verschlinge.«

»Papa hat den Schnupfen,« hieß es seufzend in jener Familie, und Groß und Klein verkroch sich vor seiner schlechten Laune, seinem Poltern und Schelten.[86]

Ja, den Schnupfen! Zu dessen Bewältigung ist man vieler Taschentücher benöthigt, oft sogar mehrerer auf einmal. Beim Ordnen der Stube habe ich schon gebeten, die Taschentücher nicht umher liegen zu lassen, ich wiederhole hier also das einmal Gesagte, weil es hier durchaus am Platze ist.

»Papa hat den Schnupfen!« – Wie mancher Kranke ist geneigt, sich zum Haustyrannen aufzuwerfen, jede Rücksicht für sich zu verlangen, die er Andern doch nicht gewährt. Er beansprucht, daß seinetwegen die Fenster geschlossen werden, während er nur den Platz zu wechseln hätte oder in sein eignes Zimmer zu gehen, wenn es ihm im Wohnzimmer zu warm oder zu kalt ist. Er verlangt sogar, daß Frau und Kinder an seiner Krankenkost Theil nehmen, damit er nicht allein das ißt, was ihm vielleicht nicht mundet, aber zuträglich ist.

Mit der Erwähnung dieser schönen Blüthe des höheren Egoismus schließe ich dieses Capitel, um mich der Krankenpflege zuzuwenden.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 84-87.
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