[46] Der Abendshawl – dernier cri – ist ein Tuch aus weicher, weißer Seide – sehr lang und breit – an den Enden baumeln Fransen. Er ist sehr weiß und sehr schön und sehr teuer. Aber kein Gentleman kommt ohne ihn aus. Die Zeiten, in denen die Ballherren ein Taschentuch zwischen Paletot und Hemdenbrust schoben, sind nun einmal für den größten Teil der Kulturmenschen vorüber. Bunte Shawls erzeugten auf dem tadellos gebügelten Oberhemde neckische Arabesken, zum seidenglänzenden Abenddress konnte man fürderhin keine Kaschmirwolle mehr nehmen, und so entstand der oben geschilderte Abendshawl. Jede Nation – besser die prononcierten Gents (was nicht mit Dandies identisch ist) jeder Nation – erfanden andere Möglichkeiten zur Verwendung des Abendshawls, andere Arten, ihn zu tragen. Die Pariser Boulevardiers erhöhten seine an sich schon dekorative Wirkung, indem sie ihn – wie die Apachen – über die Schulter schlugen. Der Yankee erfand eine besonders schützende Schleife, zog einen halben Krawattenknoten durch und ließ das eine Ende herunterbaumeln. Der Deutsche konnte sich lange nicht von einigen »verzierenden« Streifchen trennen. Er legte den Shawl sorgfältig links und rechts in gleich langen Teilen fallend um den Hals. Der Tagesshawl unterscheidet sich vom Abendshawl in Form, Stoff und Farbe. Erstens ist er gestrickt. Dann ist er kürzer, bunter und – im Winter – auch aus Wolle gearbeitet. Früher einmal, da gefiel man sich in gewaltigen Mustern, in sattesten Farbenzusammenstellungen.
Eine Sezession wandelte die ganz[47] ursprüngliche Bedeutung des Shawls in die der Krawatte. Bunte Shawltücher dienten biedermeierisch als Kragen um den Hals geschlungen, als Schlips!
Einen Shawl zu legen ist nicht leichter, als eine Frack-Krawatte einwandfrei zu binden. Einige beginnen das Legen des Shawls, indem sie ihn über den Wäschekragen ziehen und, fächerartig nach allen Seiten herunterfallend, in den Paletot stecken. Andere begnügen sich mit dem Schutze des Wäschekragens vor dem schmutzenden Rand des Paletots. Wieder andere bergen ängstlich die weißen Falten unter dem Mantel und verwenden die ganze Stoffülle zum Schutze der Hemdenbrust.
Unter modischen Koryphäen ist es eine Streitfrage, ob man von außen den Shawl sehen darf oder nicht. Der richtige Frackmantel, der Havelock, verbirgt, ebenso wie der hochschließende Pelz, allerdings jede Spur eines Shawls. Die Krawatte soll schon aus praktischen Gründen vom Shawl bedeckt werden. – Das alles ist ja nicht so sehr wichtig. Wichtig ist, daß der Trousseau des eleganten Herrn ein fast weibliches Requisit beherbergt, das an Schönheit durch keine noch so seidene Weste, durch keine noch so schöne Krawatte übertrumpft werden kann. Die weibliche Eigenschaft des Shawls ist ja nichts Schlechtes. Wie angenehm ist die Gelegenheit, im kalten Auto das Prachtstück um einen schönen, weißgepuderten Nacken legen zu können. – Londoner Dandys, überdrüssig der schlichten Weißheit des Shawls, lancierten in den Schaufenstern des Savoy-Magazin indische Jacquard Shawls – ohne Dauer und Wert für die Entwicklung der Shawlmode.
Das Kapitel über Shawls ist nicht zu schließen, ohne ihre Aufbewahrung zu streifen. Trotz seiner unbestrittenen dekorativen Wirkung bleibt der Shawl doch nur ein nebensächliches Attribut und darf nicht in der Garderobe wichtig über den Haken gehängt oder sorgfältig zusammengelegt aufbewahrt werden. Die einzig richtige Möglichkeit der Aufbewahrung ist es, ihn, ohne Rücksicht auf die bürgerlich plättenden Augen der Hausfrau, in die Manteltasche zu stecken, einerlei, ob ein langes Ende dabei herausschaut. Daß man ihn dann nach zwei- oder dreimaligem Gebrauch bügeln lassen muß, spielt ja keine Rolle, wenn man berücksichtigt, daß der Frack dasselbe verlangt.[48]
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