[56] Zum ersten Male sah ich ihn beim Diner im Londoner Piccadilly-Club. Er stand in der Tür des vor dem Speisesaale gelegenen Vorraumes und begrüßte die Gäste. Mit einer leisen und doch devoten Neigung des Kopfes und einer fast unmerklichen Handbewegung zur Seite. Durch die hohen Fenster fiel das letzte Licht des Tages in den spärlich erleuchteten Raum, der durch die strahlende Helle des Speiseraumes nur noch dunkler erschien. Zwischen den tiefen, schwarzen Sesseln plätscherte ein von unten schwach beleuchteter Springbrunnen, und nur einige mühselig unter gelben Windschirmchen versteckte Kerzen spiegelten sich in den Glasplatten der Rauchtische, in den gläsernen Untersätzen der Sesselfüße, in den geschliffenen Kristallschalen der beiden Teetische.
Dies war der richtige Rahmen für Jimmy Gardner, den ersten Kammerdiener und Hausmeister des Piccadilly-Clubs. Da stand dieser Mann, der ein so hohes Ansehen und eine solche Popularität besaß, mit seinem undurchdringlichen, überlegenen, unnahbaren Gesicht mit den diskretunterwürfigen Falten um den glattrasierten Mund, in seiner schwarzbraunen Fracklivree mit den goldenen Schultertressen – dem Zeichen seiner Würde – den seidenen Escarpins, den Halbschuhen mit den breiten Schnallen, den manikürten Händen – ein Bild zum Malen! Dieser Mann ist wirklich eine Perle, nebenbei nicht für Tausende von Pfund feil. Er ist der Typ des englischen Kammerdieners.
[56] Ein Gedicht! Eine Sinfonie! Ein in sich abgeschlossenes Etwas! Der Typ eines englischen Kammerdieners. Ein Typ, wie ihn nur dieses Land hervorbringen, wie ihn nur dieses Land schätzen kann. Denn in keinem Lande der Welt spielt der Diener die Rolle, die er in England spielt. Ja, in vielen Ländern kennt man ihn gar nicht. In Berlin würde man wohl ein Exemplar dieser Gattung im Glaskasten ausstellen. Gewiß, auch in Deutschland gib es »Diener«. Aber an was denkt man da. An Offiziersburschen mit ungepflegten Händen, an Bauernsöhne vom Lande, die ihren Beruf verfehlten und die Kunst des Servierens im Gasthaus ihres Heimatsortes erlernten. In Frankreich ist es besser. In Paris wenigstens findet man häufig gut geschulte Diener, die aber meistens – auch abends – keine Livree tragen. In den ganz großen Häusern sind nicht selten englische Diener in Stellung, da die Söhne des Landes ihrer Lebhaftigkeit, ihrer Eigenwilligkeit und ihrer nicht gerade moralischen Lebensweise halber zu diesem Berufe ziemlich untauglich sind. Außerhalb von Paris ist in Frankreich das Bedürfnis nach gut geschulten Dienern kein so ausgeprägtes. In gewissen Ländern, z.B. in den Vereinigten Staaten, wo viele Farbige zum Dienst herangezogen werden, sind sie – abgesehen von New York – sogar in gewissem Grade unbeliebt.
Der englische Kammerdiener legt seine Livree erst gegen Abend an, zur gleichen Zeit, in der sein Herr in den Frack schlüpft. Vormittags trägt er einen einfachen, meist schwarzen Sakko. Der erste Kammerdiener ist der Souverän des gesamten Personals, das in manchen englischen Häusern bedeutend größer ist, als man gemeiniglich annimmt. Er ist die oberste Instanz. Seine eigenen Funktionen betreffen lediglich die Person seines Herrn. Diskrete Besuche, Inempfangnahme von Briefen, wichtige Gänge, die Personalfragen sind seine Domäne.
Von der Stunde an, wo er dem Herrn[57] den Tee serviert, d.h. ihn dem Diener, der ihn von der Küche bringt, aus der Hand nimmt, bis zur Stunde, wo er im Hause das Licht abdreht, steht er zur ausschließlichen Verfügung seines Gebieters. Mit einigen wenigen Griffen hilft er ihm beim Ankleiden; er kontrolliert die Wärme des Badewassers, unterrichtet ihn über die Tagesneuigkeiten, legt ihm die wichtigsten Zeitungsausschnitte, die Wirtschaftsfragen, die Unterschriften, den Küchenzettel auf den Schreibtisch. Er verkörpert das Ideal eines Dieners: stets unsichtbar und immer zur Hand, wenn man ihn braucht. Niemals nimmt der englische Kammerdiener Trinkgelder an und genießt vor dem anderen Personal das Vorrecht, daß man nicht nach ihm läutet, sondern ihn rufen läßt.
In der Literatur und auf der Bühne spielen die Diener seit jeher eine nicht unbedeutende Rolle. Welche Wichtigkeit man ihren Figuren auf der britischen Bühne beimißt, sieht man leicht daraus, daß die Besetzung der größeren Dienerrollen an ihr stets durch erste Kräfte vorgenommen wird, während man diese Rollen in Deutschland als nebensächlich den Chargenspielern überläßt. Ein Schriftsteller, der uns die feinsten Zeichnungen englischer Kammerdiener bringt, ist Oscar Wilde. Ich erinnere an »Dorian Gray« und den »Idealen Gatten«. Sein Phipps, sein Francis sind köstliche Exemplare und merkwürdig lebendige Gestalten, ziseliert bis ins kleinste. Stets, wenn Wilde die Eigenart einer Person besonders anschaulich schildern will, benutzt er zu diesem Zwecke die Nebenfiguren der Diener. Er liefert eine Charakteristik des Herrn, indem er den Diener beschreibt. So gibt er im »Dorian Gray« eine treffende Charakteristik eines Mannes, von dem er sagt: »Sein Kammerdiener überschrie ihn und er überschrie die andern.«
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