10.

[233] Als ich das erstemal zu diesen Donnerstagskonzerten zugezogen wurde – wir Künstler waren im Nebenzimmer des Saales, dessen große Flügeltüren offenstanden, wo wir von jedermann gesehen werden konnten – trat nach einem Musikstück Prinz Karl auf mich zu, den ich bereits vom Theater her kannte, und gleich darauf eine junge sehr einfach frisierte Frau mit wundervollen blauen Augen. Sie sprach mich sehr liebenswürdig an, so einfach, natürlich, wie sie aussah, wendete sich dann zum Prinzen und bat ihn, sie zu entschuldigen, wenn sie ginge, sie hätte furchtbare Kopfschmerzen. Hülsen belehrte mich, daß es die Kronprinzessin gewesen, die mit mir gesprochen. Ihre herrlichen blauen Augen hat Angeli so wundervoll wiedergegeben und uns erhalten. Doch kann sich nur derjenige einen annähernden Begriff von ihrem Ausdruck machen, der sie wirklich kannte. Dreimal sprach ich sie bei besonderen Gelegenheiten. Einmal im kronprinzlichen Palais, gleich nach Bayreuth, wo wir die Rheintöchterszene mit Siegfried – Ernst – sangen; ein zweitesmal bei Lord und Lady Russell-Amphtill, dem englischen Botschafter, und zuletzt als Kaiserin-Witwe im Grunewald, wo sie auf mich zukam, mir die Hand reichte und mir denkwürdige Worte sagte: »Sie machen sich von meinem Martyrium keinen Begriff!«

Ach ja, ich konnte mir wohl einen Begriff davon machen. So wenig ich auch von den innern Kämpfen dieser unglücklichen Frau wußte, brachte ich ihrem Martyrium doch mein volles Herz entgegen. Ohne zu ahnen, wie weit ihr Leiden vorgeschritten, versuchte ich kurz vor ihrem Tode ihr meine Dienste als Künstlerin anzubieten, um ihr vielleicht eine Freude zu bereiten, doch wurde mir von lieber Seite ihr ablehnender Dank mitgeteilt. Leider war sie nicht mehr imstande, jemand zu sehen, und bald darauf erlöste sie der Tod von ihrem seelischen und körperlichen Martyrium.[233]

Schönheit, Männlichkeit und strahlende Heiterkeit waren des Kronprinzen Attribute. Eines jeden Antlitz erhellte sich und strahlte wieder vom Glanze dieser Persönlichkeit, die einem so entsetzlichen Schicksale verfallen sollte. Noch höre ich die Menge jubeln, wenn er daherschritt, und höre, wie beim 50jährigen Jubiläum der Königin Viktoria in London ihm ganz England zujauchzte, als sei er der Britten König, und sehe ihn in seiner ganzen großen Schönheit, in der im Sonnenglanz blendenden Uniform der Königin-Kürassiere dahersprengen, ahnungslos vom unerbittlichen Schicksal bereits im Innersten gezeichnet!

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 233-234.
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