2.

[216] Generalintendant von Hülsen hatte mich – gleichviel ob ich meines Kontraktes in Leipzig enthoben würde oder nicht – für die Partie der Vielka in Meyerbeers Oper »Ein Feldlager in Schlesien« fest engagiert, die am 4. August zur Enthüllungsfeier des Reiterstandbildes Friedrich Wilhelms III. im Lustgarten stattfinden sollte. Die Oper ist für Berlin direkt komponiert, während sie unter dem Titel »Der Nordstern«, mit Veränderung von Personen und einzelner Musikstücke, viel über andere Bühnen gegangen war. Mir war sie unbekannt. Man hatte mir seinerzeit nur eine geschriebene, mit Baß unterlegte Partie der Vielka nach Leipzig geschickt, woraus ich – unbekannt alles anderen – die Oper lernen mußte. Eine merkwürdige Zumutung. Wirklich schwierig war die große Arie im letzten Akt, die mit abwechselnder Begleitung zweier Flöten eine einzige große Kadenz bildet, und sehr oft als Bravourstück von Koloratursängerinnen in Konzerten gesungen wurde. Der Ausbruch des Krieges hatte dem Plan der Enthüllungsfeier natürlich ein Ende gemacht.[216]

Noch ehe die Spielzeit an der Kgl. Oper begann, bereitete ich alles zum Antritt meiner neuen Stellung vor. In Leipzig war ich bei keinem Kritiker gewesen, konnte mich nicht dazu entschließen, weil ich selbst diesen Akt der Courtoisie als eine Art von Bettelei ansah, welche ich unter der Würde der Kunst und des Kunstkritikers hielt. Zu meinem eigenen Schaden, wie ich gleich hinzufügen will, denn andere sehen es von einer andern Seite an. An Prof. Gust. Engel, der Danziger war, hatte ich von Danzig aus Empfehlungen, die ich abgeben mußte. Prof. Heinrich Dorn war ein uralter Bekannter meiner Mutter aus Königsberg und Riga, zu dem mußte ich gehen. Blieb noch Prof. Würst, den ich erst gelegentlich der Proben zu seiner Oper »A-ing-fo-hi« kennen lernte, in welcher Betz und ich sehr reizende Rollen sangen. Als ich einmal mit ihm über eine Sängerin plauderte, die er stets in den Himmel hob, die aber einen furchtbaren »Knödel« hatte, über den sich jeder mokierte, und ich ihn frug, warum er solche Unart niemals rüge, antwortete er mir: »Das höre ich gar nicht.« Keiner der drei Herren, denen ich vor meinem Gastspiel Besuche abstattete, interessierte sich auch nur im allergeringsten für mich.

Für Ausbeutung von Vorteilen im Interesse des »Gelobtwerdens«, wie es so vielen Künstlern eigen, hatte ich weder Talent noch Verlogenheit. Wer mein Streben und Können verstand, sollte mich gerecht beurteilen, das war alles, was ich als Künstlerin von der Kritik beanspruchte. Mich mit Nichtskönnern zusammen gelobt zu finden, ekelte mich an.

Nein! Gebettelt habe ich nie, bin nie gekrochen vor Kritik und Protektion. Stolz bin ich meinen eigenen Weg gegangen, den Weg des Wollens, Wissens und Könnens im Einklang mit meinem Streben und meinen Kräften. Dank meiner Erziehung, meinem Talent und Fleiß konnte ich ihn mit wachsender Autorität beschreiten. Schnell erfaßte ich, was der Kunst frommte, lernte gern von allen mit dem festen Vorsatz, die größtmöglichste Vollkommenheit der Künstlerschaft zu erreichen.

Hier, vielleicht nur an dieser Stelle darf ich das spätere Urteil eines uns teueren Mannes setzen, das erst gegen das Ende meiner Barriere von ihm gefällt ward. – Mag es hier zur Rechtfertigung meiner frühesten Empfindungen dienen und zur Bekräftigung des[217] Urteils aller derjenigen beitragen, die mich lieb haben, mein künstlerisches Wachstum freudig, ja oft mit Genugtuung begrüßten. Eitel wird es nur solchen erscheinen, die mich nicht kennen, nicht lieben; und diesen werde ich ohnehin nichts zu sagen haben.


Dr. Ernst von Wildenbruch.

Berlin W. 10. 17. März 1905

Hohenzollernstraße 14 (abends).


Herrliche Frau


aus dem Carmen Sylva-Abend nach Haus zurückgekehrt, empfinde ich es als Bedürfnis und Pflicht, Ihnen, hohe Künstlerin, die ich Jahre und Jahre nicht mehr gehört hatte (ich gehe nur selten noch des Abends aus) zu sagen, wie groß, wie ganz wundervoll Ihr Gesang, Ihr Vortrag, Ihre ganze Persönlichkeit, Ihr alles auf mich gewirkt hat! »Da kommt endlich mal wieder Eine,« sagte ich mir, als Sie an den Flügel traten, »die nicht beim Publikum bettelt, sondern ihm gebietet! Da kommt Eine,« sagte ich mir, als Sie zu singen anhuben, »die mit ihrer letzten Seelenfaser mit ihrer Aufgabe verwachsen ist.« »Da habe ich endlich wieder mal,« sagte ich mir, als Sie geendigt hatten, »den aus einer Rasse-Persönlichkeit heraustönenden großen Stil genossen.«

Immer, so lange Sie singen, haben Sie uns viel gegeben – jetzt, da Sie wie die marmorne Verkörperung der klassischen Tradition unter den kleinen Gestalten der modernen Zeit stehen, geben Sie uns noch mehr, geben Sie uns Ihr Höchstes.

Daß ich Ihnen danke für das, was Sie mir heute gegeben haben, das erlauben Sie, herrliche Frau, Ihrem

Ernst von Wildenbruch.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 216-218.
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