21.

[259] Die liebe Sonne hatte es sich angelegen sein lassen, mir allüberall ein freundliches Plätzchen anzuweisen. Wie bescheiden, gut und billig wohnte man damals in der lieben Bayreuther Sonne! Außer dem Stammgast, Hauptmann von Schrenck, einem Freunde Wagners, der sich uns sogleich vorstellte, waren Mama und ich die einzigen Hotelgäste. Wirt und Wirtin nahmen teil an dem vortrefflichen Mahl, das aus Suppe, Rindfleisch mit Kren (Meerrettich) und einer Mehlspeise bestand und pro Person 60 Pfennige kostete.

Am Nachmittag gingen wir zu Wagner. Da standen wir nun vor »Wahnfried« und lasen die vielbewitzelte Inschrift des Hauses:


»Hier, wo mein Wähnen Frieden fand

Wahnfried sei dies Haus von mir genannt.«


ein Fremdes, in das man hineinzuwachsen hatte!

Wagner empfing uns wie alte, liebe Freunde, die er tatsächlich, in meiner Mutter wenigstens, vor sich hatte. Nachdem wir auch[259] Frau Cosima – von ihr aufs liebenswürdigste begrüßt – kennen gelernt, Wagner uns über seine Absichten etwas unterrichtet hatte, schlug er die Partitur von Rheingold auf, aus dem er uns die erste Szene spielte und sang. Kaum hatten wir einige Takte vernommen, als ich entzückt von dem melodischen Wohlklang der Harmonien, Woglindes Stimme vom Blatte zu singen mich hingerissen fühlte. Die ganze Heiterkeit, den Übermut der drei Mädchen erfassend, sah ich die Szene vor mir. Wie langersehntes Glück kam es über mich, wohl fühlend, daß ich Wagner etwas geben würde können, auf das er mit Recht hoffen durfte: Lust, Liebe und Verständnis zu seinem großen Werke. Gleich nach den ersten Takten hatte ich die Rollen im Kopfe besetzt und sagte zu Wagner, als wir die Szene geendet hatten: »Woglinde singe ich, Wellgunde meine Schwester, Floßhilde Fräulein Lammert; Sie brauchen sich um die Drei nun nicht mehr zu kümmern, lieber Herr Wagner.« Daß Hülsen uns den notwendigen Urlaub für die Proben 1875 und die Vorstellungen 1876 nicht weigern würde, setzte ich voraus.

Das große Bibliothek-, Empfang- und Schreibzimmer Wagners, in das man durch eine Halle – in welcher Büsten aufgestellt – gelangte, nahm mein regstes Interesse in Anspruch. Ein breites Viereck, von dessen rundausgebauter Breitwand gegenüber dem Eingang – eine Freitreppe in den schönen Garten führte, der, an den königlichen Garten stoßend, noch größer schien, als er eigentlich war, und zu dem Wagner Zutritt hatte. Rings an den Wänden Regale voll kostbarer Bücher in kostbaren Einbänden. Darüber Ölgemälde von König Ludwig und Gräfin d'Agoult, Frau Cosimas Mutter, unter dem Pseudonym »Daniel Stern« als Schriftstellerin bekannt. Links – vom Eingang gesehen – stand Schopenhauers Bild vor Wagners großem Schreibtisch, rechts der Flügel und Wilhelmine Schröder-Devrients Büste, die Wagner so hoch verehrte. Zwischen Bücherregalen und langen Tischen, auf denen viele Denkwürdigsten auf prächtigen Stoffen lagen, standen, wie im ganzen Raume, bequeme Stühle und Fauteuils aller Arten und Zeiten. Von der Freitreppe aus sah man über Rasen hinweg auf eine von Sträuchern beschattete Marmorplatte, der einstigen Ruhestätte Richard Wagners.[260]

Wir sahen auch die vier Töchter und den kleinen stillen, kaum vier Jahre alten Siegfried, der in seinem Gärtchen grub und pflanzte. Jedes der Kinder hatte sein Plätzchen, wo es der Gärtnerei obliegen durfte. Zwei große Bernhardinerhunde, Marke und Brangäne, und mehrere Teckel liefen im Hofe herum; Wagner war ein großer Tierfreund. Wir aßen noch bei Wagners, wobei er viel über Vegetarismus sprach, den er so gerne ganz und gar angenommen hätte, dem sein Arzt aber entgegen war. Nach dem, was ich heute davon aus eigener Erfahrung kenne, bin ich sicher, daß Wagner – ohne in extremen Vegetarismus umzuschlagen – dem Leben dadurch länger erhalten geblieben wäre.

Andern Tags fuhren wir nach Berlin zurück, die Ferien waren zu Ende.

Nun galt es, meine Schwester sowohl als unsere jüngste Altistin, Minna Lammert, für die Rheintöchter zu gewinnen, die beide, überglücklich, annahmen. Minna Lammert war, gleich meiner Schwester, urmusikalisch, hatte eine sammetweiche Stimme, die einen schönen Hintergrund für unser beider hellen Sopranstimmen zu geben versprach – und ein außerordentlich heiteres Temperament, dem sie zeitweilig übermütig die Zügel schießen ließ. Das war's, was ich für die Rheintöchter brauchte. An Ordnung gewöhnt, alle Eventualitäten bedenkend, erwirkte ich uns für die Proben 1875 sowohl als für Proben und Vorstellung 1876 den Urlaub bei Hülsen, den er bereitwilligst zusagte, obwohl er damals noch durchaus nicht »Wagnerianer« war. Sehr bald darauf kamen unsere Rheingoldstimmen aus der »Nibelungenkanzlei«, wie man die Arbeits- und Wohnräume der Kapellmeisterjünger Anton Seidl, Felix Mottl und Franz Fischer usw. in Bayreuth nannte. Und da meine Schwester sich eben für längere Zeit bei mir aufhielt, konnten wir mit dem Studium sofort beginnen.

Das Rheingold hatten wir uns schnell zu eigen gemacht, es klang schon prächtig und löste in uns allen ein Glücksgefühl aus, dessen wir uns gar bald bewußt wurden. Anders war's mit der Götterdämmerung, deren Stimmen viel später erst in meine Hände gelangten, sehr klein geschrieben, schwer zu entziffern waren und mir viel Kopfzerbrechen verursachten. Wenn ich noch bedenke, wie ich darüber brütete und immer wieder zu dem Schlusse kam: es müsse[261] falsch abgeschrieben sein! Als mir dann aber die gedruckten Stimmen die Harmonien deutlich machten und bewiesen, daß es so klingen müsse, da mußte es eben klingen und klang auch. Mit der Klarheit kamen Freude und Genuß an den Schönheiten des Werkes, die sich uns täglich, stündlich gewaltiger offenbarten und uns langsam zu den Gestalten emporwachsen ließen, die wir sein mußten.

Zu Rheingold und Götterdämmerung kam noch die Walküre, in der ich die Helmwiege, meine Schwester die Ortlinde, Minna Lammert die Roßweiße singen sollten, und für mich der Waldvogel im Siegfried. Alles, so wollte ich's, sollte bis zum Frühling 1875 fix und fertig studiert sein. – Trotz Wagners lebhaftem Wunsch gelang es mir leider nicht, seine Nichte, Frau Johanna Jachmann-Wagner, unserem Walküren-Studium anzugliedern. Sie war oft leidend oder auch anderweitig in Anspruch genommen, wir mußten das Studium eben auf uns drei beschränken. Was aber waren alle Schwierigkeiten dieser Rollen gegen die einzige Stelle in der Götterdämmerung:


»so weise und stark verwähnt sich der Held

als gebunden und blind er doch ist!«


Unüberwindlich schien damals, was überwunden werden mußte und überwunden ward. –

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 259-262.
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