5.

[222] Eines Tages teilte mir Hülsen mit, daß mein Kontrakt im Hauptquartier Ferrières vom König unterzeichnet sei, worauf ich – gewiß ganz törichterweise – nicht wenig stolz war. Nach dem Einzug der Truppen, dem wir mit Freunden aus einem Hause unter den Linden beiwohnten, lernte ich auch unsern herrlichen Kaiser Wilhelm I. persönlich kennen. Er unterhielt sich oft mit mir in Hofkonzerten sowohl als in der Oper, die er fast allabendlich besuchte. Damals gab es für die am Abend beschäftigten Solomitglieder eine kleine Bühnenloge im ersten Stock, wo sie, ungesehen vom Publikum, der Vorstellung folgen konnten. Parallel mit der dahin führenden Treppe lief eine ebensolche von der Bühne in die kaiserliche Proszeniumsloge, nur durch eine Bretterwand[222] von der andern getrennt, die Se. Majestät auf die Bühne führte. Auf 3/4 Höhe befand sich ein kleines Schiebefenster, das der Kaiser und andere Mitglieder der Kaiserlichen Familie benutzten, um in den Zwischenakten mit den Künstlern zu sprechen. Hier sprach ich ihn fast allabendlich in den Opern, in denen ich beschäftigt war, und hier hat er mir manches Interessante erzählt. Warum habe ich nicht damals schon alles so genau aufgeschrieben, wie jetzt? Manch ein liebes Wort ist dadurch dem Gedächtnis verloren gegangen, das von seiner unendlichen Güte, Liebenswürdigkeit, Einfachheit und Würde ein Zeugnis gäbe. Doch bleibt genug noch übrig, um mich stets aufs Neue zu mahnen, wie dankbar ich ihm sein muß für alle mir erwiesene Güte.

Nach dem schrecklichen Attentat, wobei er verwundet ward, an dessen Folgen er lange zu leiden hatte, kam er einmal wieder an das Fensterchen auf der Bühne und reichte mir gütig, wie immer, die Hand. Als ich mich gerührt nach seinem Befinden erkundigte und ihm mein tiefinnerliches Beileid aussprach, sagte er: »Es geht noch immer nicht, wie es sein sollte, denn ich bin noch nicht imstande, mir die Stiefel allein anzuziehen.« Nun mußte ich lachen und meinte: »Das brauchen aber Ew. Majestät auch nicht!« »Ach ja«, erwiderte der Kaiser, »ich bin gewöhnt, alles alleine zu tun, es macht mich unglücklich, daran gehindert zu sein. Auf Reisen packe ich meine Sachen selbst, damit nichts von dem mir Notwendigen fehle, und in alle dem bin ich jetzt geniert.« Als wir einst von einer Kunstausstellung sprachen und ich frug, welches seiner Bilder der Kaiser für am gelungensten hielt, antwortete er mir: »das von Lenbach, da es Ihre Majestät am schönsten findet.« Immer galant, der erste Kavalier. Rührend war's, wie einst in einem Hofkonzert im runden Saale, wo wir Künstlerinnen mitten im Saale saßen, Frau Artôt ihr Taschentuch beim Aufstehen fallen ließ. Ich bückte mich sofort, um es aufzuheben, aber auch der Kaiser war schon aufgesprungen und herbeigeeilt um dasselbe zu tun.

Noch kurz ehe ich Berlin verließ, erzählte er mir, wie er sich sehr wohl meines ersten Auftretens erinnere und wie ihm in den Hugenotten beim Auf- und Absteigen vom Pferde mein »schöner schlanker Fuß« aufgefallen sei. Hier durfte ich Sr. Majestät gleich erzählen, daß ich bei meinem Gastspiel noch gar nicht reiten konnte,[223] sondern nach der Probe in den Kgl. Marstall geschickt worden war, um mir dort die Kunst des Auf- und Absteigens vom Pferde, das Halten der Zügel usw. anzueignen – da die Königin im III. Akt in Berlin zu Pferde kommt, auf der Bühne absteigen und nochmals um die Bühne herumreiten mußte. Daß ich in Leipzig es aber ordentlich gelernt hätte und dort sowohl als in Berlin öfter ausgeritten sei.

Ein kleines Abenteuer, das ich Sr. Majestät zum besten gab, machte ihm Spaß. Aus den Meistersingern war ich einmal allein nach Hause gegangen und unterwegs von einem Herrn angesprochen worden, den weder meine stolzen Blicke, noch mein beharrliches Schweigen abschrecken konnten. Kaum noch 200 Schritte vom Hause entfernt, entschloß ich mich, irgendeinen des Weges kommenden Herrn anzusprechen, der mich beschützen sollte. Der erste beste schien ein Bahnbeamter, auf den ich zueilte. Als ich ihn bat mir die wenigen Schritte bis zu meinem Hause das Geleit zu geben, was er zu tun sofort bereit war, stellte er sich mir als Leutnant der Artillerie v.S. vor, in dessen Schutz ich nun vor weiterer Verfolgung sicher war. Wie ich dem Kaiser die Galanterie seiner Offiziere lobte, erwiderte er mir rührend: »Das hätte ich auch getan, schade, daß ich es nicht gewesen bin.«

Manches Mal erzählte ich auch hübsche Anekdoten, die über ihn im Umlauf waren. Bei Geheimrat Henry traf ich sehr oft den Leibarzt des Kaisers, Dr. Lauer. Man erzählte sich, daß S.M. eines Abends Hummersalat aß und Lauer, der es ihm streng verboten hatte, ihn dabei überraschte. Lauer machte dem Kaiser ein vorwurfsvolles Gesicht, worauf dieser ihm heiter zugerufen hätte: »Lieber Lauer, seit ich versprochen habe, Sie zur Exzellenz zu machen, wenn ich 80 Jahre alt werde, gönnen Sie mir keinen guten Bissen mehr.« Der Kaiser lachte herzlich dazu und meinte: se non é vero e ben trovato. Exzellenz ist Dr. Lauer aber dann doch geworden.

Nicht selten sah man den Kaiser in den Zwischenakten im Vorzimmer seiner Loge arbeiten, wenn zufällig die Türe aufgemacht wurde. Er sagte mir, daß er sonst nicht fertig würde mit der Arbeit. In der kleinen Proszeniumsloge saß er immer ungesehen auf dem Rücksitz; nur wenn die Kaiserin oder die Frau Großherzogin[224] von Baden, seine Tochter, mit ihm im Theater waren, saß er bei den Damen auf dem Vordersitz zunächst der Bühne. Aber ich zweifle, daß er sich dann so behaglich fühlte. In späteren Jahren schlief er oft während der Musik – wenigstens glaubten wir es von unserer Theaterloge vis-à-vis zu bemerken.

Seine Lieblingsopern waren: »Die weiße Frau«, »Das goldene Kreuz«, »Der Barbier von Sevilla« und sonstige Spielopern und Ballets, in denen er nur aus besonders wichtigen Gründen fehlte. Wie oft traten mir Tränen tiefster Rührung in die Augen, wenn ich mit ihm sprach. Wie schön wußte er das Interesse für jeden so auszudrücken, daß man glauben mußte, es interessiere ihn wirklich, was man mache und denke, und stets wartete er die Antwort ab, was so wenig Große zu tun verstehen.

Wie merkwürdig verschieden war er darin von der Kaiserin. Eine der pflichttreusten und fleißigsten Frauen auf dem Throne, die es sicher nicht leicht hatte und es sich nicht leicht machte. Fast immer wurde ihre beste Absicht mißverstanden von denen, die sie ansprach, denen sie sich näherte. Man kannte sie nicht so genau wie den Kaiser, der die Offenheit selber war, der durch das Gefühl schönster Herzlichkeit erquickte und beglückte, was der Kaiserin in diesem Maße zu fehlen schien. Aber ich weiß, wie streng sie es mit ihren Pflichten, als Mutter des Volkes, nahm, wie treu sie die Ziele für dessen Wohlfahrt verfolgte, und wie weder Krankheit noch Alter sie daran verhinderten, sich ihnen ganz zu widmen.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 222-225.
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