[191] Die Sonne! Ihre zackigen, in Blech geschnitzten, altgoldglänzenden Strahlen zierten den Giebel eines uralten, viereckigen, gänzlich freistehenden Hauses, an dessen einer Seite die Pleiße lustig eine Mühle trieb. Einstöckig, mit Mansardenräumen darüber, stand es am Ranstädter Steinweg in Klein-Paris, das seine Leute bildet. Eben dazu war auch ich hingegangen; ich wollte lernen. In der Mansardenwohnung hielt eine in Künstlerkreisen berühmte Familie Berl, halb aus künstlerischen, halb aus ökonomischen Interessen, eine Pension für Künstler, die sich bei den viellieben Menschen ungemein wohl fühlten. Merkwürdigerweise hatte meine Mutter ihrerzeit im selben Hause gewohnt, wenn auch nicht bei Berls; Richard Kahle und Mutter wohnten dort, und nun kam auch ich dahin und hätte es nicht besser treten können. Die älteste Tochter, Toni, war Heroine in Darmstadt; die zweite, Anna, lebte bei ihr, und die dritte, Angeli, war die gute Fee des Hauses. Sie konnte alles: vor allen Dingen mit Menschen umgehen. Mutter Berl, eine noch hübsche, wenn auch schon ein bißchen wacklige Dame, hielt in ihren Speiseschränken Fläschchen, aus denen sie zuweilen selber gerne naschte, mit der scherzhaften Etikette: »Gift für Kinder!« Vater Berl war nicht von Asbest und war nicht reinlich, aber gleich seiner Gattin eine gemütliche alte Seele, der Vater vom Ganzen. Man hatte mir zwei Puppenzimmer, d.h. Wohn- und Schlafstübchen, eingeräumt mit tafelförmigem Klavier und altmodischen Möbeln, was ich sehr gemütlich fand. Puppenfenster und Gardinen vervollständigten die Behaglichkeit, und ein eiserner schmaler Ofen heizte beide Räume gleichzeitig. Sobald er glühte – was er immer tat, sobald man heizte –, wurde es unerträglich warm; sobald das Feuer aus war, fror das Wasser auf dem Waschtisch. Dafür hatte die Wohnung noch den Vorteil, daß man im Sommer die Wirkung der Bleidächer unentgeltlich kennen lernte, ohne nach[191] Venedig reisen zu müssen, was nicht leichter zu ertragen war als die Rheumatismus erzeugende Kälte des Winters, wo es in den Dachräumen unbändig zog. Mit prächtigen Blumen und Pflanzen war alles ausgeschmückt worden durch meiner Schwester Verlobten, Herrn Fritz Helbig, den ich jetzt kennen lernte, und war nun vorbereitet auf alles, was da kommen konnte.
Schnell hatte ich mich – von allen Seiten aufs freudigste begrüßt – in die Leipziger Theaterverhältnisse hineingelebt. Schon den Wechsel des uralten, unheizbaren Danziger Theaters mit dem prachtvollen bequemen großen Opernhaus empfand ich als unendliche Wohltat. Eine »große Zeit« war es aber – wenn ich darauf zurückblicke – nicht zu nennen. Zwar wurde viel Ausgezeichnetes mit Umsicht und Verständnis vorbereitet und ausgeführt, aber nichts von all den Einzelleistungen ist mir als etwas besonders Wertvolles in der Erinnerung haften geblieben, was ich mir daraus erkläre, daß keiner der Sangeskünstler eine interessante oder künstlerische Persönlichkeit gewesen sein kann. Nur die als Mignon gastierende Frau Bertha Ehnn von der Wiener Hofoper blieb mir unvergeßlich.
Frau Peschka-Leutner, eine ausgezeichnete Koloratursängerin, wenig hervorragend als Schauspielerin, wurde mit Recht von Publikum und Presse auf den Händen getragen; für sie war ich engagiert worden, weil sie nach Dresden wollte, sich dann aber eines besseren besann. Eine ganze Weile waren wir einander unbequem, da sie alle Koloraturpartien innehatte, und ich als junge Kraft auch wieder Eigenschaften ins Ensemble brachte, die ihr mangelten. Die Spannung löste sich aber später in Hochachtung und herzlichster Kollegialität glücklich auf. Das Ensemble war immer gut, Chor und Orchester ausgezeichnet. Kapellmeister Schmidt, wie bereits berichtet, erst sehr eklig, dann äußerst liebenswürdig. Er hielt täglich von 9 Uhr ab Klavierproben, zu denen er regelmäßig eine halbe Stunde zu spät kam. Von den abgespieltesten Opern hielt er sie, übersprang keinen Takt, und nachträglich hörte ich, daß er sich selbst vor jeder Oper geängstigt hätte. Vorbilder fand ich in Leipzig nicht, wohl aber Zucht und Ordnung und außer Gustav Schmidt in Heinrich Seidl einen ganz ausgezeichneten Regisseur, der sich in feinster Weise meines Talents annahm und dem ich viel verdanke.[192] Ging er doch alle Rollen mit mir durch, die ihm nicht ausgearbeitet genug schienen, was mir einen weiten Blick auf das Arbeitsfeld meines Berufes gewährte.
Als ich in Leipzig festem Fuß gefaßt hatte, wurde ich auch zu vielen Gewandhauskonzerten herangezogen, was damals zu den höchsten musikalischen Ehren rechnete. Meister David, der als erster Geiger die Konzerte spielte, schenkte mir nach Aufführung der Athalia von Mendelssohn den Klavierauszug mit Widmung. Dr. Carl Reinecke leitete die Konzerte. Ich stand mich gut mit ihm, und er kam mir wirklich lieb und gütig entgegen; auch später noch, wenn ich von Berlin aus zu Gewandhauskonzerten geladen war. Nur einmal hatte er, als ich Robert Franz-Lieder sang – dem er nicht grün war und die er begleiten sollte –, »einen schlimmen Finger«, und Professor Reinhold Hermann, mein steter Begleiter, mußte darum von Berlin geholt werden. Um so besser, da mir nichts fataler sein konnte als das einmalige Herunterleiern von Gesängen. War ich doch gewöhnt, durch langes Vorstudium eins zu sein mit dem Begleiter, um dem Publikum ein Ganzes zu geben; und das wäre bei aller Kunst Reineckes mit einer Probe unmöglich gewesen.
Schon in Prag sangen wir Robert Franzsche Lieder, die uns Riezl aus Leipzig gesandt. Ihr Verlobter, Fritz Helbig, war mit R. Franz intim befreundet, trug viel dazu bei, dem Ehrenfonds, der R. Franz 1873 überreicht wurde, weit möglichste Ausdehnung zu verschaffen, und verwaltete sein Vermögen bis zu seinem Tode oder auch noch darüber hinaus für dessen Kinder. Helbig hinterließ mehrere Kisten voll R. Franzscher Briefe, die freilich meist geschäftlichen Charakters sind, wohl aber auch manches Interessante enthalten, das hoffentlich einmal das Licht der Welt erblickt. Fritz Helbig war sehr musikalisch, sang ausgezeichnet und war sowohl mit dem bekannten Konzertsänger Robert Wiedemann – der heute im 84. Lebensjahr steht – als auch mit allen andern Leipziger Künstlern eng befreundet. Kein Wunder, daß in Helbigs Haus unaufhörlich Propaganda für R. Franzsche Musik gemacht wurde, und so kamen auch wir dazu, mehr als sonst jemand, seine Lieder zu singen. Daß ich mich heute noch, nach 43 Jahren, für seine Lieder so mit voller Seele einzusetzen vermag, daran ist das innige[193] Gefühl wohl schuld, das ich seinen kostbaren Liederperlen, nachdem ich sie zu meinem Eigentum gemacht habe, unverändert entgegenbringe; und die ich so gerne in eine neue Generation für Künstler hinüberretten möchte aus dem Bombast von Unnatur und unmusikalischem Durcheinander, das ich, ohne mich zu empören, gar nicht anzuhören vermag.
Leider kannte ich Robert Franz nicht persönlich. Was ich von seinen englischen Liedern sage, daß sie mit Originaltext gesungen fast noch besser mit der Musik zusammenpassen als mit den deutschen Worten, das hat er, wie ich später las, selber ausgesprochen. Ihrem Schöpfer konnte ich meine Dankbarkeit nicht mehr in Tönen darbringen; nur meinen Zuhörern und seinen Kindern darin auszusprechen, was ich für seine Werke empfinde, ist mir zu meiner größten Freude noch vergönnt.
Etwas sehr Merkwürdiges leistete sich David im »Fidelio«, den er ebenfalls in der Oper mitspielte, indem er zu den Violinpassagen der großen Leonorenouverture – die, wie immer gegen mein besseres Gefühl, auch hier im Zwischenakt gemacht wurde – aufstand, um die Violinen anzuführen, worauf das ganze Publikum seine Aufmerksamkeit vom Tonstück ab- und auf Herrn David lenkte. Es war unerhört und scheint mir heute fast unglaublich, daß es in Klein-Paris geduldet wurde.
Weniger lehrreich waren meine Konzertausflüge, nach Pegau z.B., wo ich fürs Konzert nur 25 Taler erhielt und mir davon auch noch den Wagen, der mich dorthin fuhr, bezahlen mußte, der 5 Taler alleine kostete. Besser und viel einträglicher dagegen diejenigen nach Cöthen, Zwickau, Plauen Reichenbach usw., wo ich aber im Winter, in großer Toilette sehr oft im offenen Schlitten zum Konzert und aus demselben zu fahren gezwungen war, wenn der Schnee so hoch lag, daß Wagen unmöglich bergab und -auf verkehren konnten. – In dem Verein Euterpe wurden Werke von Nils-Gade, Schumanns Mignon, Requiem und Faust mit mir und Max Stägemann gemacht, der damals in schönster Blüte Konzert- und Theaterpublikum entzückte. Leider sang Stägemann nicht lang. Als ich ihn um die Ursache frug, meinte er: er habe über die ewigen Katarrhe nicht hinwegkommen können und darum dem Sängerberuf Valet gesagt. Hier haben wir einen jener vielen[194] traurigen Fälle, wie ein als Sänger und Schauspieler gleich bedeutend großer Künstler durch Unkenntnis der technischen Mittel, Störungen der Organtätigkeit zu beheben, gezwungen wird, seiner Kunst zu entsagen. Wie schädigen solche Künstler diese weihevolle Kunst dadurch, die doch einzig auf große Talente angewiesen ist, und deren höchstes Bestreben gerade darin gipfeln müßte, sich ihr so lange als möglich zu erhalten, um andere zu lehren und dem Publikum sowohl als der Kritik einen Maßstab für Kunstleistungen zu bieten, der ja leider nicht anders erhalten werden kann. Katarrhalischen Perioden sind alle Menschen, und Sänger besonders, ausgesetzt, weil sie ihre Sprech- und Atmungsorgane, die durch vielen Gebrauch subtiler, empfindsamer sind, mehr erhitzen als andere Menschen und darum auch leichter zu Erkältungen geneigt sind. Man kann aber die Kunst, ihrer Herr zu werden, Gott sei Dank durch bewußte Technik erlernen, wenn man sich die Mühe nicht verdrießen läßt und genügend Geduld zum unermüdlichen Studium mitbringt.
Mit Heinrich Laube stand ich mich vorzüglich, wie ich mich denn von je mit allen ernst arbeitenden Geistern stand, sie mochten noch so rauhe Schalen haben. In ihrer Rauheit sah ich nichts weiter als die richtige Erkenntnis der unumgänglich notwendigen allerersten Bedingung der Kunst gegenüber, die sie von jedem, der mit oder unter ihnen schaffen wollte oder sollte, verlangen mußten: den heiligsten Ernst und vollständige Hingabe aller ihrer Kräfte. Alles andere ist Zeit- und unnütze Kraftverschwendung, deren sich so viele schuldig machen. Laube nahm großes Interesse an meinem Talent, belobte mich gar oft in neuen oder alten Rollen und war von meiner schauspielerischen Arbeit besonders befriedigt, in der ich mich ernstlich zu vervollkommnen trachtete und worin mir Operndirektor Heinrich Behr und Regisseur Seidl hilfreich zur Seite standen. Ich darf hierbei Frau Günther-Bachmann nicht vergessen, die einst zu Mamachens Leipziger Zeiten eine berühmte Soubrette gewesen und nun als komische Alte wahre Kabinettstücke feinster Charakteristik lieferte. Reizend war auch, daß eine alte Garderobiere, die meine Mutter schon angekleidet hatte, nun auch noch mir ihre Hilfe angedeihen ließ. Frau Bärwinkel, so hieß die Alte, zeichnete sich gelegentlich eines Gastspiels von Frau Artôt ganz besonders[195] aus. Für den schnellen Umzug der Angela im letzten Akt vom »schwarzen Domino« war eine Art Garderoberaum auf der Bühne gebaut, worin alles bereit lag. Frau Bärwinkel sah aber voll Entsetzen, wie Frau Artôt auf der falschen Seite abging. Sie stürzte hinüber und sagte atemlos zu Frau Artôt, die, wie sie hörte, nur französisch sprach: »Madame, schankschemant vis-à-vis!« – Frau Günther-Bachmann, die wenig sprach und sich von allen sehr retirée hielt, war es, die mich gleich anfangs meiner Karriere vom dummen Aberglauben befreite. Sie war in meiner Garderobe, als mir die Garderobiere Schuhe auf den Tisch stellte. »Das gibt ein Unglück«, hörte sie mich sagen – was ich so oft von andern gehört hatte. »Mein liebes Kind,« sagte sie freundlich, »Sie sind jetzt 20 Jahre alt, was wollen Sie dann mit 50 machen, wenn Sie all die Torheiten annehmen?« – Von dem Augenblick an emanzipierte ich mich vom Aberglauben jeder Art, denn ich sah ein, wie lächerlich es war, das Gelingen einer Rolle auf ein Paar Schuhe anstatt auf sein Können zu stellen.
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