3.

[200] Nach einem Wohltätigkeitskonzert für arme Studenten brachten mir die Arionen einen Fackelzug; ich war tödlich erschrocken über die auffallende Ovation. Nach einem zweiten derartigen Konzert waren wir: Herm. Delia, Marie Wieck (Schwester Clara Schumanns), ich, 3–4 alte Professoren und Schulräte, ferner ein paar junge Studenten des Komitees zu einem regelrechten Kommers zusammen. Es war wundervoll. Die alten Herren in hellster Extase, die Studenten nicht minder, und wir jungen Künstlerinnen heiter und glücklich. Der jüngste der Studenten brachte mir mit einem Glase Champagner einen Gruß Mozarts. Nach kaum einem Jahre erhielt ich durch die Feldpost anonym eine gepreßte Rose mit folgenden Zeilen: »Des Sommers letzte Rose gepflückt vor der Schlacht bei Sedan für die unvergeßliche Rose Leipzigs.« Der junge Mann war – wie mir Prof. Möbius schrieb – in der[200] Schlacht geblieben; es mögen seine letzten Worte gewesen sein. Rose und Brief habe ich sorgsam verwahrt zu liebem Angedenken.

Meiner Schwester äußerst gesellige Natur hatte sich viele Freunde erworben, die natürlich auch die meinen wurden. Reizende Stunden verlebten wir bei Edelmanns, denen die »Modenzeitung« gehörte, wo wir ganz zur Familie zählten. Ferner Rechtsanwalt Hagemann mit Frau und Schwägerin. In diesem Hause wohnte der Humor; man sah nur fröhliche Gesichter, unaufhörliche, natürlichste Heiterkeit würzte das Zusammensein. Man brauchte die drei Menschen nur anzusehen, so überkam einem schon das Gefühl ihrer Fröhlichkeit. Kaum eingetreten – man mochte noch so griesgrämig sein – stand man mitten drin und lachte sich gesund. Hagemann wurde noch in seinen alten Tagen von Kaiser Wilhelm II. zu Jagden, Skatpartien und Gesellschaften geladen. Er war ein ebenso guter Jäger wie Skatspieler und Gesellschafter und nahm sich auch vor dem Kaiser kein Blatt vor den Mund. Er war einmal zu großer Gesellschaft ins Schloß geladen, ein Glas Rotwein stand unberührt vor ihm beim Souper. Plötzlich steht der Kaiser hinter ihm: »Nun Hagemann, Sie trinken ja nicht?« »Ne Majestät,« erwidert dieser, »der Doktor hat mir kleene Rotweine verboten!« Der Kaiser lachte und befahl sofort »vom Besten«, der von nun an immer vor seinem Gaste stand, und von dem der Kaiser ihm öfter nach Leipzig sandte.

Als ich eines Mittags aus der Probe kommend, Hagemann begegnete und einen Hut aufhatte, der ihm nicht gefiel, zwang er mich, mit ihm in einen sehr teuren Laden zu treten, wo ich mir einen sehr schönen aussuchen mußte; dann mußte ich mit ihm nach Hause zum Essen. Und wie ich Frau Hagemann die Hutgeschichte erzähle, sagte sie lachend: »Na hören Se, Sie sind scheene dumm, ich hätte mir zwei ausgesucht, denn so 'ne Gelegenheit kommt nich gleich wieder.« Bequem in seinem Lehnstuhl zur Siesta eingenickt, schlief Alfons Hagemann, ahnungslos, schmerz- und lautlos ins Jenseits hinüber, gesund, heiter und glücklich wie er gelebt hatte. Seine liebe Frau, die ihn um mehr als 10 Jahre überlebte, stickte in ihrem 81. noch ein Reisekissen für mich, mit dem sie, wie sie mir sagte, sich beeilen müsse, um es noch fertig abliefern zu können.[201]

War es nur unsre Jugend, oder war es wirklich so, man bekam in Leipzig nicht viel Trauriges zu sehen, die Menschen waren meist froh und lebenslustig. Auch bei Prof. Reclam waren wir öfter zu heitern Stunden mit Freunden vereint, und dort passierte uns etwas sehr Komisches. Einmal war außer mir und meiner Schwester nur noch Kapellmeister Mühldorfer anwesend, der am selben Abend nach einem Schauspiel noch eine kleine Oper zu dirigieren hatte und darum eine Stunde früher fortging als wir. Mühldorfer hatte im neuen Theater zu tun, unsre Wohnung lag dicht beim alten Theater, auf ganz entgegengesetzten Seiten. Draußen herrschte furchtbarer Nebel, dessen wir aber erst beim Fortgehen gewahr wurden. Als wir endlich zu Hause angekommen zu sein wähnten, standen wir vor dem neuen Theater, das seine Pforten längst geschlossen hatte; und unter großen Schwierigkeiten erreichten wir mitten in der Nacht unser Quartier. Als ich andern Morgens in der Probe Mühldorfer sprach, sagte er: »Wissen Sie, was mir gestern passiert ist, Frl. Lehmann? Ich bin gerade verkehrt gegangen, bin am alten Theater angekommen, und als ich ans neue kam, war's Theater längst aus. Es hatte jemand anderer für mich dirigiert.« –

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 200-202.
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