10.

[111] Wir waren Protestanten. Prags protestantische Gemeinde zählte nicht viele Mitglieder; es gab nur eine Kirche, keine protestantischen Schulen. Wir nahmen den ganzen katholischen Religionsunterricht mit, auf Mutters Wunsch, die da meinte: es würde uns nichts schaden. Besondere Freude gewährte uns das Singen in den katholischen Kirchen, und wir ließen keine Gelegenheit dazu unbenützt vorübergehen. Wir sangen alle Messen vom Blatt, waren kolossal musikalisch und darum natürlich sehr gesucht. Damals sang man noch in Sopran-, Tenor- und Altschlüsseln, in denen zu lesen wir schon in der Theorie und Kompositionslehre bei Müller unterrichtet wurden.

Als Berta Römer, fast drei Jahre älter als ich, konfirmiert werden sollte, ging meine Mutter Pastor Martius darum an, mich ebenfalls zu konfirmieren. Der alte Herr wollte aber durchaus nichts davon wissen, weil er mich mit elf Jahren und vier Monaten nicht für reif genug erachtete. Mama suchte ihn indessen zu überreden, und ihre Gründe schienen ihm so einleuchtend, daß er der Bitte nicht länger widerstand. Ein würdiger, schöner alter Mann mit Silberlocken, der unserem Konfirmandenunterricht Weihe gab, uns aber nicht das geringste menschliche Interesse für den göttlichen Begriff abzugewinnen wußte. Mama war keine Kirchenläuferin und gestattete uns nicht, in den damals noch ungeheizten Kirchen unsere Gesundheit einzubüßen. Dafür streiften wir an Sonntagen durch Feld und Wald mit offenen Augen für die Natur und lernten Gottes Wunder anbeten.

War es die zum Himmel strebende Architektur einer gotisch-katholischen Kirche, die mich begeisterte, seit ich sehen gelernt, ein Gotteshaus, in dem man jederzeit sein Herz auszuschütten vermag, so kann ich beim besten Willen nicht zu einer, mir von der protestantischen Kirche angegebenen Zeit mit hundert anderen Menschen zusammensitzen, auf Befehl beten, wenn ich absolut kein Bedürfnis danach empfinde, oder die oft uninteressanten, langweiligen Predigten anhören, die mir weder etwas sagen noch geben. Unsere kleine protestantische Gemeinde hatte für mich damals nur den Reiz des Aparten, ich kam mir als etwas »Besonderes, Aufgeklärteres« vor.[112] Immer interessierte mich der Religionsbegriff; das war aber auch alles, was ich vorläufig in meinem Inneren dafür übrig hatte. Die Menschen waren so kleinlich, die katholischen Priester, die ich von der Schule her kannte, so – naiv, unser lieber Pastor Martius so bodenlos langstielig – wahrhaftig, ich konnte mir beim besten Willen nicht einbilden, es mache Eindruck auf mich. Durch meine Mutter wußte ich viel, viel mehr von Gott – sie führte ihn mir durch ihr wundervolles Beispiel näher, als je ein Geistlicher es vermochte. Wie vielen ist der Begriff denn klar, daß Gott das Gute, Jesus die Liebe und Barmherzigkeit zum Nächsten bedeutet? Und nicht nur zum nächsten Menschen – für mich und die Meinen auch zum Tier, das uns gleich lieb ist und in der Schöpfung gleich hoch zu stehen scheint. Seit ich mir über das wirklich Gute klar bin, weiß ich auch, daß die Begriffe dafür: wie Gott und Jesus, so hohe sind, daß die Menge sie gar nicht mit sich selbst in Einklang bringen kann. Würde das »Gewissen« zum Gottesbegriff ausgebildet, wir hätten größere, bessere Erziehungsresultate im Volke zu verzeichnen. Mit unserem Gewissen sind wir gezwungen, immer beisammen zu sein. Unser Gewissen zu veredeln, würden wir als Kinder sehr gut schon verstehen, während wir den so fernen und unverstandenen Gott höchstens fürchten lernen. Goethe faßt das alles in die wenigen Worte zusammen: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«. – »Pflanzt einem Kinde die Gewohnheit ein, die Wahrheit heilig zu halten, das Eigentum anderer sorgfältig zu achten, sich gewissenhaft aller unbedachtsamen Handlungen zu enthalten, die es ins Verderben stürzen können, und es wird ebensowenig an das Lügen, Stehlen und Schuldenmachen denken, als daran, sich in ein Element zu stürzen, in dem es nicht atmen kann.« Lord Henry Brougham.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 111-113.
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