18.

[137] Endlich sollte es Ernst werden. Schon lange hatte Mama nach einem passenden Engagement für mich Umschau gehalten, doch fand sich trotz ihrer guten Verbindungen nichts Annehmbares. Am Prager Landestheater durfte statutengemäß kein Anfänger debütieren. Indessen mußte doch wohl von mir gesprochen worden sein, denn Direktor Wirsing ließ mich, mit Orchester, die Arie der Königin aus den Hugenotten Probe singen, worauf ich, trotz der Debütgesetze, am 20. Oktober 1865, als erster Knabe in der »Zauberflöte«[137] auftrat. Aus Angst vor einem Durchfall nannte ich mich auf dem Zettel »Loew«, ein Name, unter dem mich niemand kannte, von dem ich hoffte, mein Unglück unerkannt tragen zu können. Falls ich gefiel, war mein Engagement nur für kleine Rollen vorgesehen, und das gerade suchte meine Mutter für mich. Dann war ich keinen zu großen Anstrengungen ausgesetzt, konnte bei ihr bleiben, mich langsam in ein größeres Fach hineinsingen oder mich doch dafür vorbereiten. Da ich gefiel, so gut man in der Rolle gefallen kann, ließ man mich dieselbe Rolle am 4. November wiederholen. Die dramatische Sängerin, Therese Schneider, die seit lange schon mit dem Direktor in heftigem Streite lag, sang die Pamina. Nach dem Duett mit Papageno sagte er ihr wieder einmal, indem er seinen Schnurrbart hinaufdrehte: »Wenn Sie so schreien, schreien Sie mir das ganze Publikum aus dem Theater.« Das war sehr rücksichtslos. Mühsam sang sie den ersten Akt zu Ende, bekam dann Krämpfe und mußte nach Hause gebracht werden. Ich erbot mich, die Rolle weiterzusingen, obwohl ich sie nie gelernt und nur vom Einstudieren der Schülerinnen her kannte. Wirsing sowohl als Regisseur Hassel nahmen es dankbarst an. Hassel annoncierte. Meine liebe Mutter saß in der Loge, und als sie hörte: »Dafür hat Fräulein Loew sich bereit erklärt, die Rolle der Pamina zu übernehmen« traf sie beinahe der Schlag. Sie kam gleich zu mir gestürzt und meinte, daß ich die Partie ja nie gelernt und unmöglich singen könne. Fräulein Brenner aber, unsere Königin der Nacht, sagte gleich im höchsten Diskant: »O, lassen Sie sie nur singen, Frau Lehmann, sie wird's schon können!« Und ich konnte es! Das Quartett mußte leider ausbleiben, weil sich kein erster Knabe auftreiben ließ, alles andere aber blieb, und ich gefiel sehr. Keinen Augenblick hatte ich mich geängstigt, denn ich war meiner Sache sicher. Waren wir doch mit Mozart so vertraut, als hätte er mit uns gelebt. Und nicht nur Mozart, auch Beethoven, Weber, Marschner, Wagner in seinen ersten Opern, Verdi, Bellini, Donizetti und Meyerbeer waren uns so geläufig wie dieser. Nicht um sonst hörten wir in unseren Engagements immer wieder sagen: »Die Lehmann singt auch den Sarastro, wenn es sein muß!« Ja, dank unserer Erziehung und unserm Talent, daß wir ihn hätten singen können! Wie wurde aber auch bei uns studiert? Während[138] andere Gesanglehrer ihren Schülern höchstens die Arien, und diese meist sehr mangelhaft einstudierten, wurden bei uns Ensembles ebenso peinlich ausgearbeitet wie diese und tausendfach wiederholt, oder: bis alles ging, wie es gehen mußte, gleichviel, ob es dieser Meister war oder jener. Darum wurden wir allen Stilarten gerecht, als wäre es unser Nationaleigentum. Darum, und aus noch manch anderen Gründen, sind wir musikalische Autoritäten geworden in unserer Sängerlaufbahn wie wenig andere.

Ehe ich aber von meiner eigenen Karriere zu erzählen beginne, muß ich noch von den Eindrücken sprechen, die wir Kinder von dort engagierten oder gastierenden Künstlern empfingen, die unser späteres künstlerisches Fühlen und Denken beeinflußten.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 137-139.
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