[139] Es war nicht mein Verdienst, wenn ich schon in früher Kindheit eine Schar auserlesener Künstler bewundern durfte, deren Eigenarten sich mir einprägten. Es gereichte mir dies nicht nur zum Vorteil, sondern machte mir das Leben wertvoll. Jeder gab etwas Besonderes, keiner ging spurlos an mir vorüber. Die einen hatten herrliche Stimmen, andere spielten oder sangen ausgezeichnet, wieder andere waren unvergeßliche Persönlichkeiten, die das in mir schlummernde Talent und mein Verständnis anregten. Es gab deren gar viele, die während meines fast sechzehnjährigen Aufenthaltes in Prag an uns vorbeizogen, deren Kunst mein Urteil reiften, das meiner Mutter feiner Kunstsinn leitete. So ist's auch nicht meine Schuld allein, wenn ich durch Aufnahme all des Gehörten, Gesehenen, Gelehrten und Gelernten, von anderen viel und von mir selbst noch mehr verlangte, daß ich stets Zielen nachging, die zu erreichen ein Menschenleben vielleicht gar nicht ausreicht, mich aber doch zu manch einem hinanführte.
Unter den Gästen, die ich in Prag gehört und gesehen, waren: die Marlow und Sonntheim in ihrer Blüte, Schnorr von Carolsfeld, die Dustmann-Meyer als Jessonda und Margarethe; Desirée Arlôt, entzückend als Adalgisa; Trebelli mit ihrer Glockenstimme, hervorragend als Romeo und Tancred; Patti in ihre Anfängen; Bignio; Joseph N. Beck als Don Juan; Ilma di Murska; Dr.[139] Schmidt; Rokitansky; Marie Seebach, Sonnenthal, Devrient, Löwe, Hendrichs, Dessoir, Döring, Goßmann; Lewinsky, Baumeister; Hedwig Rabe, Friederike Bognar; Krastel; die Janauschek als Medea und Orsina. Viele italienische Opernensembles. In der Posse: Treumann, Jauner, Knaak, Josefine Gallmeyer, Marie Geistinger, Albin Swoboda, Ascher, Grobecker. Von Tänzerinnen die berühmte Spanierin Pepita de Oliva und die reizende Friedberg, – nachmalige Gräfin Westphalen.
Und welche Kräfte standen dem Theater selbst zur Verfügung! Sowohl Schauspiel als Opernensemble waren allerersten Ranges. Viele der Obengenannten, die noch immer als Gäste kamen, waren früher daselbst engagiert.
Unter den vielen Tenoristen nahm, nach dem berühmten Steger, Eduard Bachmann viele Jahre die erste Stelle ein. Ein großer, schöner, sehr geschickter und liebenswürdiger Mann. Er fing als Oboëbläser im Orchester an, konzertierte außerhalb viel auf seinem Instrument und ließ später seine göttliche Stimme ausbilden. Diese Stimme überstrahlte an Glanz und Schönheit alles, was ich je gehört; das waren nicht nur musikalische Töne, sondern Ströme tiefsten Gefühles. Wie oft sprach ich mit Direktor Jahn in Wien von diesem Gesang, und er war ganz meiner Meinung, daß wir solch einer Stimme, solchem Stimmausdruck nie wieder begegnet sind. Sein Atem war schier endlos, und die Behandlung seines Instrumentes hatte ihn musikalisch gemacht; alles sang er im Original, nie etwas transponiert. Sein Arnold im Tell erschüttert mich noch heute im Erinnern. Sein Raoul! Im Septett des dritten Aktes ging er mit Brust aufs hohe cis und wiederholte die Nummer jedesmal. Das Duett mit Valentine, – es war einzig herrlich, nie wieder dagewesen. Dabei war Bachmann ein ausgezeichneter Schauspieler und von unverwüstlichem Humor auf und außer der Bühne. Wenn er zum Beispiel in Stradella, mit Steinecke-Malvoglio, den Barbarino sang, konnte man sich gesund lachen. Und dennoch waren es keine »Fatzkereien«, die er trieb, alles gesunder, natürlicher Humor, den die heutige Regie totgeschlagen hat. Wie sang er aber die Gesangsstellen darin, – das Herz ging einem auf vor Glück und Freude. Ebenso sein Corentin in Dinorah und sein Georg im Waffenschmied. Man denke nur:[140] ein erster Heldentenor, mit einer Götterstimme und großen, schauspielerischen Qualitäten, der auch noch Tenorbufforollen sang! Von der Wirkung solcher Besetzung kann sich heute gar niemand mehr einen Begriff machen. Begnügt sich doch das Publikum an den meisten Theatern schon mit der schlimmsten Sorte von Mittelmäßigkeiten, weil es etwas Besseres gar nicht kennen lernt, weil die sogenannten Künstler, und mit ihnen die Direktionen, Publikum und Kunst alles schuldig bleiben. Uns aber, die wir Gutes kennen lernten, hat es den Genuß am Elenden, Häßlichen und Unwürdigen total verbittert. Wo sind noch natürliche Liebenswürdigkeit, Humor, Stimmen und Talent zu finden? Nur wenn einer gar nichts kann, eine verkrüppelte, schlechte Figur hat, wird er Tenorbuffo, anstatt, daß gerade von diesem der gesunde Humor, die natürliche Lebensfreude ausstrahlt, die beide dazu da sind, Kunst und Publikum zu erquicken. Wie sang Bachmann dann wieder Prophet und Ernani, wie spielte er alle diese Rollen! Wenn im Ernani Bachmann, Adolf Robinson und Frau Kainz-Prause in ihrer Blüte zusammen sangen, erbebte das Prager Theater von Beifallsstürmen. Leider sang Bachmann nicht lange. Meine Mutter hatte ihn oft gewarnt; aber er glaubte, seiner Stimme alle Anstrengungen bieten zu können, hielt sie für unverwüstlich und tat nichts dafür, sich dieses kostbare Gut zu erhalten. Nach kaum sieben Jahren sang er oft indisponiert, oder wurde mitten in der Oper heiser. Im Frühjahr 1864 trat er einen längeren Urlaub an, kam ungeheilt zurück und verabschiedete sich 1865 von Prag. Im Jahre 1867 ging er vollständig genesen nach Dresden, 1868 sang er unter beispiellosem Beifall in München, wo sich der König, Wagner und Bülow für ihn aufs lebhafteste begeisterten und Wagner ihn als seinen Siegfried proklamierte. Ferner schrieb er ihm den Walter Stolzing zu. Nachdem er aber dreimal von schwerer Diphtheritis befallen, erklärten die Ärzte das Münchner Klima für ihn gefährlich, und Bachmann ließ sich 1871 in der Vollkraft seines Alters pensionieren. Er wurde Theaterdirektor in Karlsbad und starb sehr bald darauf, von allen, die ihn kannten, tief betrauert. – Hier aber darf ich noch einer Episode Erwähnung tun, die teils traurig, teils heiter, Bachmann und seiner Kollegen Humor kennzeichnet. Am 16. Juni 1859 starb die dramatische Sängerin Meller. Alles betrauerte[141] die junge Frau und drängte sich, ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das ganze Theaterpersonal war zugegen, die ersten Sänger sangen an ihrem Grabe. Wir Kinder sollten daheim bleiben; doch gab Mama meinem Drängen nach und nahm mich mit. Es war siedend heiß, die Luft in der Nähe des Grabes verpestet. Mir grauste. Berta Römer und ich hatten uns während der Feier ferngehalten, schlossen uns den Müttern erst nach derselben an. Vom Friedhof »Wolschan« nach der Stadt liegt auf halbem Wege ein Vergnügungsplatz, die Fliedermühle; ein kleines Wirtshaus am Mühlenteich, auf dem Kähne ankern. Hier wurde bei der Heimkehr Rast gemacht. Die Heiterkeit überwand dann schließlich auch die Trauer, das die Feier begleitende Orchester spielte fröhliche Weisen. Wilhelm Jahn, Eduard Bachmann, der großartige Baßbuffo Hovemann und Eilers, des ersten Bayreuths Riese »Fasolt«, lauter Hünen, machten mit einem noch jungen Tenor Kopetzky alle zusammen in einem Kahn eine Spazierfahrt auf dem Teich. Bald wurden im Boote die Plätze gewechselt und geschaukelt. Zum Entsetzen der Zuschauer kenterte der Kahn, und alle fünf Insassen fielen ins Wasser. Mit den Verunglückten schrie auch das ganze Publikum um Hilfe. Als alles halbtot vor Angst war, schwammen die fünf mit lautem Gelächter ans Land und freuten sich der geglückten Komödie, die sie, verabredetermaßen, allen vorgespielt hatten.
Pauline Lucca kam 1860 nach Prag und stellte das ganze Theater auf den Kopf. Als Genie durfte sie sich viel erlauben, wovon sie damals schon ehrlich Gebrauch machte. Wenn man bedenkt, daß diese zwanzigjährige kleine Person Valentine, Norma, Donna Anna, Lucrezia, Vestalin und Iphigenie auf Tauris, – unter anderen Rollen sang und die meisten dieser Rollen mit ungeheuerem Temperament, wenn auch nicht mit künstlerischer Gereiftheit, durchführte, faßt einen immer neues Staunen über die Möglichkeit des Unternehmens sowohl als des Gelingens. Die Stimme war voll, heißblütig und schön, wie das Mädchen, dessen ausdrucksvolle, wasserblaue Augen, gleich denen Niemanns, durch ihre effektvolle Umrahmung, gleich Rädern, über die Wangen herunter und über die Stirne hinauf zu reichen schienen und ihrem Wesen Ernst und Ausdruck verliehen. Schön war ihre seelische Hingebung,[142] ihr Feuer, das alles verschlang und entzündete. Was lag daran, wenn eine Note, eine Bewegung nicht waren, wie sie sein sollten, – sie machte auf Künstler und Publikum einen mächtigen Eindruck, der sich nicht verwischen ließ. Einzelne Stellen höre ich heute noch, nach zweiundfünfzig Jahren, im Ohre klingen, wie damals, als sie Beifallsstürme des Publikums begeistert lohnten. Durch Mama, die ihren Platz in der Damenloge hatte, sandte Pauline Lucca uns Kindern fast allabendlich große Düten Konfekt, die sie im Theater erhielt; denn es war dort Sitte, daß Theaterhabitués den Damen des Theaters jeden Abend Eis und Konfekte in die Loge sandten. Sie war sehr ungeniert; und komisch klang es, wenn sie im echten Wienerisch sagte: »Gengens, Frau von Lehmann, borgens mir Ihr Schneuztüchel, ich hab' meins vergessen!« Sie trug sich meist ihre Garderobe selbst ins Theater, und wenn Mama ihr in der Nähe unseres Hauses begegnete und ihr ihre Hilfe anbot, schlug sie diese, mit den Worten: »Wer mich mit dem Paket nicht anschau'n will, braucht mich überhaupt nicht anzuschau'n«, immer wieder aus. Als sie die Iphigenie singen sollte, frug Frau Burggraf sie: »Kennen Sie denn die Mythe?« worauf sie prompt antwortete: »Um die Mieten kümmer' ich mich 's ganze Jahr net, die zahlt der Vatter!« – Nach ihrem Berliner Gastspiel wurde sie das enfant gatée der Berliner, und Prag verlor sie. Oft aber begegneten wir uns noch im Leben, und oft bewunderte ich sie. In Berlin zuerst, wo wir noch zwei Jahre zusammen wirkten. Sie war unterdessen Frau von Rhaden geworden. Als sie mir hier zum ersten Male wieder begegnete, zeigte sie auf die in Elfenbein geschnitzte Krone ihres Sonnenschirmes und sagte: »Sehens, Lehmann, so weit müssen Sie's auch bringen wie ich.« Nicht lange darauf vertauschte sie ihr »von« mit dem Wappen einer Baronin von Wallhofen. Sie war sehr stolz darauf und verfehlte nie, sich in ihren Briefen als »Baronin« zu unterschreiben, was mir so gar nicht in den Kopf wollte. In Kopenhagen sah ich sie; in Wien, wo sie noch viel sang und mir stets die alte Bewunderung aufzwang. Aber auch sie hatte uns Anhänglichkeit bewahrt, kam immer mich zu hören, so oft ich in Wien sang, voll des Lobes über meine Leistungen, und besuchte mich jedesmal. Auch einmal wieder, als Kron- und Balkanländer gährten. Da teilte sie – im[143] Gespräch – das ganze Land an aller Herren Länder aus, so daß Österreich gar nicht mehr als solches existierte, und schloß ihren politischen Vortrag mit den Worten: »Dann würde es Frieden geben!« – Es gab nur eine »Carmen« für mich, das war die Lucca. Einfach und groß war sie; und einfach blieb sie, trotz aller Unarten, die sie in heiteren Rollen auskramte. Sie überlegte sich diese nicht, so wenig wie die tragisch ernsten Momente; sie kamen ihr, sie waren da. Am liebsten sah ich sie in ernsten Rollen, weil sie in heiteren das Musikalische gar zu »schlampig« behandelte. Die Berliner Musiker hatten einen noch schlimmeren Namen dafür. Als sie mich, kurz vor ihrem Tode in Wien, im Hotel Imperial aufsuchte, klagte sie schon über starke Schmerzen, hatte sich aber trotz ihrer achtundsechzig Jahre ihren vollen Reiz bewahrt. Pauline Lucca war und blieb ein Genie, ohne sich zur »bewußten« Künstlerin auszuleben. Ein Genie, dessen herrliche Naturgaben ihr bis zum letzten Atemzuge treu blieben, wie auch ihre treuen Bewunderer, zu denen ich mich in erster Linie zählen darf. –
Auch von den herrlichen Eigenschaften des Baritonisten Adolf Robinson läßt sich ein Blatt füllen, denn auch er gehörte zu jenen Talenten, die berufen waren, die Zuhörer zu beglücken, mit seiner reizenden Persönlichkeit, seiner Wärme, seiner wundervollen Stimme und seinem herzerquickenden, schönen Gesang. Er trat als Jäger im Nachtlager auf, sang Tell, Heiling, Zampa, Wolfram, Telramund, Luna, Carlos, Nelusco und Don Juan, mit einem Feuer, einer Hingebung, Noblesse in Spiel und Sang, die wahrlich zu den innigsten Eindrücken gehören, deren ich teilhaftig geworden, für die ihm alle diejenigen dankbar sein müssen, denen er Leistungen bot, wie niemand außer ihm sie wieder bieten konnte.
Als junger, unbekannter Kapellmeister kam Wilhelm Jahn 1859 nach Prag, von wo ihn Wien schon nach einem Jahre zu gewinnen suchte; doch war er glücklicherweise noch auf lange gebunden. Schon damals dirigierte Jahn alle Wagneropern auswendig und war sehr bald nicht mehr unbekannt. Jahn hatte an kleinen Bühnen und mit Italienern eine gute Schule durchgemacht; hatte eines der angenehmsten Sprechorgane und ein starkes Gesangstalent. Kein Wunder, daß er die Sänger zu begleiten verstand wie wenige der jungen Kapellmeister, die da meinen, sie[144] brauchten außer Wagner nichts zu lernen; denen alte Meister Luft sind. Mit welcher Respektlosigkeit die Jüngsten dieser »kleinen Größenwahnsinnigen« die größten Meister, längst oder eben vergangener Zeiten aburteilen, sie zu verändern sich unterstehen, ihren Werken die Individualität ausziehen und ihnen von ihrem höchst eigenen Nichts, etwas anheften, das übersteigt die Begriffe jedes Kenners, jedes pietätvollen Beurteilers.
In München machte ein sehr bekannter Regisseur vor einer Tristanprobe die treffende Bemerkung, als der Dirigent, der uns lange hatte warten lassen, von weitem sichtbar wurde: »Die Tristanpartitur hat er unterm Arm, den Troubadour aber kann er nicht begleiten!«
Mit wahrer Vorliebe geißeln moderne Kapellmeister und »Neumusiker« die »Tradition«. Es gibt aber keine Kunst ohne Tradition im edelsten Sinne. Geistige Größe mit künstlerischer Technik zur Vollkommenheit vereint, sehen wir in alten Bildern, Bildhauerwerken und Kompositionen, die Jahrhunderten trotzten. Für den Ungebildeten, den Hypermodernen mögen sie vielleicht aus der Mode kommen können, gleich einem Hut oder einer Krinoline. Rein und nur von Gottbegnadeten geschaffen, überdauern sie alle Zeiten und werden stets der Maßstab sein und bleiben für vollendet Schönes – (ja, vor allem anderen für die Forderungen der Kunst an die Künstler) – mit dem man messen muß. Sie werden schon dadurch zur Tradition, weil jeder bewußt oder unbewußt von ihnen borgt, – weil das Leben zu kurz ist, um als einzelner Mensch eine vollendete Kunst, die sich durch Jahrhunderte erst bilden kann, zu schaffen; oder ohne traditionelle Führung ein Künstler zu werden. Junge Kunst gleicht jungem Wein, der berauscht, aber nicht erquickt.
Nicht besser wie den herrlichsten Werken der Alten geht es den besten jener wirklichen Theaterkapellmeister, zu denen Wilhelm Jahn, Karl Eckert gehörten und Ernst von Schuch noch gehört, die durch den »Neumusiker« ihres Lebens, – oder falls sie tot sind, ihrer Grabesruhe, – nicht mehr froh werden; nur weil sie dem Sänger, wie es sich gehört, mehr Rechte gönnen als dem Blech. Und all ihr besseres Wissen schützte sie nicht vor der gewissenlosen Ungerechtigkeit, daß man sie zum alten Eisen warf, nach[145] einem künstlerischen, tatenreichen Leben. Sie allerdings, waren nicht als Meister vom Himmel gefallen, sondern lernten Meister werden!
Keiner der Obengenannten – und ich könnte noch viele dazu nennen – hätte sich zum Beispiel die Freiheit genommen, die Begleitung der Rezitative in Mozartschen Opern, während der Vorstellung, mit eigenen Fantasien zu versehen, wie das heutzutage geschieht. – Gegen alle Regel, Schönheit und Notwendigkeit des sprachlichen Akzents verbieten sie – aus welchen Gründen, frage ich? – den Sängern sämtliche Vorhalte und schlagen damit nicht nur der Tradition ins Gesicht, sondern schlagen auch die Musik, deren Text sie geradezu energisch fordert, tot. Kommt es mir doch manchmal vor, als hörte ich lebendig Begrabenes klingen anstatt so liebem Lebendigen, um das ich nicht selten habe weinen und trauern müssen.
Will man etwa die Vorhaltlosigkeit von Wagner herleiten? Hat Wagner etwa keine Vorhalte? und hält man ihn, der doch ein herrlicher Sprachkünstler war, für so geschmacklos, oder des sprachlichen Ausdruckes fremd, daß er keine schreiben würde? Allüberall wo es der Akzent der Silben am Ende einer sprachlich und musikalischen Phrase verlangt, haben Spohr, Marschner, Weber, Wagner Vorhalte ausgeschrieben, Mozart und Beethoven sie in der Form ihrer Zeit durch zwei gleichlautende Noten gekennzeichnet und dadurch vorgeschrieben. Was würden diese beiden Meister empfinden müssen, wenn sie ihre herrlichen Rezitative vor den Arien und die Dialog-Rezitative mit totaler Vorhaltlosigkeit, das heißt, totaler Ausdruckslosigkeit, jetzt hörten? Sie würden dieselbe traurige Empfindung haben wie wir.
Man sehe doch nur Wagner daraufhin an in allen seinen Opern. Wir brauchen nur die Arie der Elisabeth zum Beispiel herauszugreifen oder die Anfangsszene zwischen Tannhäuser und Venus, in jedem Satze finden wir sie wieder: »Dich, teure Halle, grüß' ich wieder.« – »Ja, Dir erwachen seine Lieder.« – »Da er aus Dir geschieden« oder »O, daß ich nun erwachte!«
Jeder in klassischer Schule – und dazu gehört die italienische Gesangskunst – gebildete Sänger, weiß und muß wissen, daß der Akzent auf der vor letzten Silbe eines Endwortes liegt und[146] daß dieser Akzent nicht nur sprachlich im Wort, sondern auch in der Musik ausgedrückt werden muß. Zwei gleichklingende Noten, auf einer lang und einer kurz zu sprechenden Silbe kämen einer Vernachlässigung des Wortakzentes und damit des musikalischen Ausdruckes gleich, und das hat sich weder Mozart noch Beethoven zuschulden kommen lassen.
Noch zu meiner Zeit hätte sich kein Künstler ein solches Verbot gefallen lassen, und niemals ist es von einem oder dem anderen der neuesten Kapellmeister an mich herangetreten, weil die Autorität meiner Kenntnisse mich davor schützte. Gibt es denn aber noch eine künstlerische Autorität unter den heutigen Sängern, die sich gegen Willkür zur Wehr setzen würde? Ich muß es leider bezweifeln, – denn ihre Kenntnisse sind nicht derart, daß sie damit imponieren könnten. Was ich unter künstlerischer Autorität verstehe, werde ich späterhin ausführlich besprechen.
Wie traurig, daß ich Schnorr von Carolsfeld nur zweimal im Leben habe hören können. So jung ich auch war, ich war gebannt von seiner Künstlerschaft. Als er in Prag im »Troubadour« nach seinem Ständchen die Bühne betrat, war man versucht, über die große, ungeheuer beleibte Figur zu lachen. Sobald er aber die erste Handbewegung machte, verstummte diese Versuchung. Man wußte, wer der war, der da stand, man fühlte, was er bedeutete. Zu ihm hätte man wallen sollen, wenn es die damaligen Verhältnisse gestattet hätten. Ein unvergänglicher Eindruck! –
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