Heutige Regelung

[26] All diese sehr alten Tabus wurden im Laufe der Zeit gemildert, aber keineswegs ganz abgeschafft. Die Entwicklung verläuft aber nicht nur in einer Richtung. Es gab strenge Epochen (wie etwa das neunzehnte Jahrhundert) und läßlichere (wie etwa das achtzehnte Jahrhundert oder die Zeit nach 1968). Und immer spielt sich in der Sprache ein Streit zwischen beharrenden und verändernden Kräften ab. Wie soll man heute sprechen, ohne einerseits Anstoß zu erregen oder andererseits als Muffel angesehen zu werden?

Man hat den Versuch gemacht, den Grad der Anstößigkeit einzelner Wörter zu bestimmen und weniger anstößige von ganz anstößigen zu scheiden2. Natürlich ist es für einen Fremdsprachigen nützlich, eine Ahnung vom jeweiligen Tabu-Grad zu bekommen. Doch kommt es in Tat und Wahrheit nicht so sehr auf das Wort selbst an, als auf die gesamte Situation, in der es gebraucht wird oder eben nicht gebraucht werden darf.

Zunächst ist festzuhalten, daß natürlich der Sprachgebrauch innerhalb der Bevölkerung von Gruppe zu Gruppe variiert. Soldaten reden anders als Bischöfe, Männer im allgemeinen anders als Frauen, Jüngere ungenierter als Ältere. Die meisten werden sich beim Sprechen ganz von selbst mehr oder weniger »gruppenkonform« verhalten, also nicht die Sprache der einen Gruppe gebrauchen, wenn sie sich in der anderen Gruppe befinden – nicht die Soldatensprache sprechen, wenn sie sich unter Bischöfen aufhalten, unter Männern weniger wie eine Frau reden, und umgekehrt.

Der Linguist Herbert Beck hat den Wortschatz englischer Schüler, zu dem natürlich viele Tabu-Wörter gehören, untersucht.3 [27] Er kommt zum Schluß, daß es nur wenig absolute Regeln gibt, nach denen gewisse Wörter gebraucht oder nicht gebraucht werden dürfen, daß es dagegen entscheidend darauf ankommt, zwischen welchen Personen das Gespräch stattfindet. Genauer gesagt, es kommt nicht auf den Sprecher allein an, auch nicht auf den Hörer, sondern auf das Verhältnis von Sprecher und Hörer. Wenn wir im folgenden versuchen, einige Regeln für den Gebrauch »verbotener« Wörter aufzustellen, so können wir zu einem guten Teil von den Erkenntnissen Becks ausgehen.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 26-28.
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